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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Lornelins und das Weltgericht.

Wollust ist ein sicheres Zeichen einer abwärts gehenden Kunstentwicklung: in
der Antike begegnet es uns ganz entsprechend bei der Dirkegrnppe. Dieser
Tendenz gemäß sind demnach die Dimensionen dieser Gruppen bedeutender als
die des Weltrichters und seiner Umgebung, zugleich ein Zeichen, wie bei der
wachsenden ästhetischen Richtung die technischen Gesetze schärfer beobachtet werden,
damit die mehr und mehr gesuchte Naturwahrheit immer entschiedener erreicht
werde. Hier stimmt diese Einhaltung der Perspektive freilich sehr gut zu der
Tendenz des Künstlers. Michelangelo hatte sich über sie hinaufgesetzt: die
Gestalten im Himmel, obgleich entfernter zu denken, sind dennoch größer gehalten
als die näher befindlichen Körper der Auferstehenden; ihm war der Vorgang
im Himmel die Hauptsache, die Auferstehung für diese nur die Veranlassung
und Erklärung. Damit erreichte er jedoch zugleich bei der beträchtlichen Höhe
der Bilder für die entfernteren Gestalten größere Deutlichkeit, wie sie zudem
ihrer inneren Bedeutung entspricht. Wie sehr im Gegensatz dazu für Rubens
das Gewimmel des Aufsteigens das eigentliche Problem der Darstellung war,
beweist der Umstand, daß er gerade dieses Motiv noch einmal einseitig behandelt
hat, sodaß der Weltrichter recht eigentlich nur der Vorwand, die äußere Ge¬
legenheit für die Ermöglichung einer solchen Darstellung wird. Zudem fällt
in die Zeit des "Jüngsten Gerichts" die "Amazonenschlacht," auf welcher
dasselbe Grundmotiv von Ansturm und Absturz eine der veränderten Veran¬
lassung gemäße Lösung findet; dieses Zusammentreffen zeigt aber deutlich, wie
die Phantasie des Künstlers von diesem Motiv erfüllt war und es mannich-
faltig zu gestalten suchte.

Es ist klar, daß ein Weiterschreiten auf diesem Wege von der größten
Gefahr für die Kunstentwicklung sein mußte: nur der große Künstler konnte,
weil er zugleich ein großer Mensch war, seine Schöpfung so gehaltvoll gestalten,
daß sie nach Aufgebung der religiösen Tendenz doch noch mächtig ergreifen
konnte. Wo aber außer der religiösen Größe auch die menschliche Größe fehlte,
da blieb nur das Bestreben, nach Effekt zu haschen und diesen Effekt durch
Pikante oder möglichst gewagte Darstellungen zu erreichen, welche im besten
Falle ein Staunen vor dem virtuosen Können des Künstlers erwecken konnten.
Da war es in der That kein geringes Verdienst, als der hohe Ernst und die
Reinheit der Kunst wieder mit aller Entschiedenheit hervorgekehrt wurden, als
wan wieder) darauf hinwies, daß die Kunst keine Dienerin der Laune und
Willkür, keine felle Dirne zur Hervorbringung wollüstigen Reizes sei, daß sie
vielmehr das Amt der Verkünderin und Dolmetscherin der ernstesten und
heiligsten Empfindungen für sich in Anspruch nehme, daß alles, was das
Menschenherz aufrege und es zu der höchsten Energie des Fllhlens und Handelns
über das Alltägliche hinaustreibe, das eigentliche Gebiet ihrer Wirksamkeit sei,
daß sie nicht schmeichelnd den Begehrungen der Menschen nachzugeben, sondern
^ehe, gleich einer mit göttlicher Kraft und Erhabenheit ausgestatteten Prophetin


Lornelins und das Weltgericht.

Wollust ist ein sicheres Zeichen einer abwärts gehenden Kunstentwicklung: in
der Antike begegnet es uns ganz entsprechend bei der Dirkegrnppe. Dieser
Tendenz gemäß sind demnach die Dimensionen dieser Gruppen bedeutender als
die des Weltrichters und seiner Umgebung, zugleich ein Zeichen, wie bei der
wachsenden ästhetischen Richtung die technischen Gesetze schärfer beobachtet werden,
damit die mehr und mehr gesuchte Naturwahrheit immer entschiedener erreicht
werde. Hier stimmt diese Einhaltung der Perspektive freilich sehr gut zu der
Tendenz des Künstlers. Michelangelo hatte sich über sie hinaufgesetzt: die
Gestalten im Himmel, obgleich entfernter zu denken, sind dennoch größer gehalten
als die näher befindlichen Körper der Auferstehenden; ihm war der Vorgang
im Himmel die Hauptsache, die Auferstehung für diese nur die Veranlassung
und Erklärung. Damit erreichte er jedoch zugleich bei der beträchtlichen Höhe
der Bilder für die entfernteren Gestalten größere Deutlichkeit, wie sie zudem
ihrer inneren Bedeutung entspricht. Wie sehr im Gegensatz dazu für Rubens
das Gewimmel des Aufsteigens das eigentliche Problem der Darstellung war,
beweist der Umstand, daß er gerade dieses Motiv noch einmal einseitig behandelt
hat, sodaß der Weltrichter recht eigentlich nur der Vorwand, die äußere Ge¬
legenheit für die Ermöglichung einer solchen Darstellung wird. Zudem fällt
in die Zeit des „Jüngsten Gerichts" die „Amazonenschlacht," auf welcher
dasselbe Grundmotiv von Ansturm und Absturz eine der veränderten Veran¬
lassung gemäße Lösung findet; dieses Zusammentreffen zeigt aber deutlich, wie
die Phantasie des Künstlers von diesem Motiv erfüllt war und es mannich-
faltig zu gestalten suchte.

Es ist klar, daß ein Weiterschreiten auf diesem Wege von der größten
Gefahr für die Kunstentwicklung sein mußte: nur der große Künstler konnte,
weil er zugleich ein großer Mensch war, seine Schöpfung so gehaltvoll gestalten,
daß sie nach Aufgebung der religiösen Tendenz doch noch mächtig ergreifen
konnte. Wo aber außer der religiösen Größe auch die menschliche Größe fehlte,
da blieb nur das Bestreben, nach Effekt zu haschen und diesen Effekt durch
Pikante oder möglichst gewagte Darstellungen zu erreichen, welche im besten
Falle ein Staunen vor dem virtuosen Können des Künstlers erwecken konnten.
Da war es in der That kein geringes Verdienst, als der hohe Ernst und die
Reinheit der Kunst wieder mit aller Entschiedenheit hervorgekehrt wurden, als
wan wieder) darauf hinwies, daß die Kunst keine Dienerin der Laune und
Willkür, keine felle Dirne zur Hervorbringung wollüstigen Reizes sei, daß sie
vielmehr das Amt der Verkünderin und Dolmetscherin der ernstesten und
heiligsten Empfindungen für sich in Anspruch nehme, daß alles, was das
Menschenherz aufrege und es zu der höchsten Energie des Fllhlens und Handelns
über das Alltägliche hinaustreibe, das eigentliche Gebiet ihrer Wirksamkeit sei,
daß sie nicht schmeichelnd den Begehrungen der Menschen nachzugeben, sondern
^ehe, gleich einer mit göttlicher Kraft und Erhabenheit ausgestatteten Prophetin


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[0605] Lornelins und das Weltgericht. Wollust ist ein sicheres Zeichen einer abwärts gehenden Kunstentwicklung: in der Antike begegnet es uns ganz entsprechend bei der Dirkegrnppe. Dieser Tendenz gemäß sind demnach die Dimensionen dieser Gruppen bedeutender als die des Weltrichters und seiner Umgebung, zugleich ein Zeichen, wie bei der wachsenden ästhetischen Richtung die technischen Gesetze schärfer beobachtet werden, damit die mehr und mehr gesuchte Naturwahrheit immer entschiedener erreicht werde. Hier stimmt diese Einhaltung der Perspektive freilich sehr gut zu der Tendenz des Künstlers. Michelangelo hatte sich über sie hinaufgesetzt: die Gestalten im Himmel, obgleich entfernter zu denken, sind dennoch größer gehalten als die näher befindlichen Körper der Auferstehenden; ihm war der Vorgang im Himmel die Hauptsache, die Auferstehung für diese nur die Veranlassung und Erklärung. Damit erreichte er jedoch zugleich bei der beträchtlichen Höhe der Bilder für die entfernteren Gestalten größere Deutlichkeit, wie sie zudem ihrer inneren Bedeutung entspricht. Wie sehr im Gegensatz dazu für Rubens das Gewimmel des Aufsteigens das eigentliche Problem der Darstellung war, beweist der Umstand, daß er gerade dieses Motiv noch einmal einseitig behandelt hat, sodaß der Weltrichter recht eigentlich nur der Vorwand, die äußere Ge¬ legenheit für die Ermöglichung einer solchen Darstellung wird. Zudem fällt in die Zeit des „Jüngsten Gerichts" die „Amazonenschlacht," auf welcher dasselbe Grundmotiv von Ansturm und Absturz eine der veränderten Veran¬ lassung gemäße Lösung findet; dieses Zusammentreffen zeigt aber deutlich, wie die Phantasie des Künstlers von diesem Motiv erfüllt war und es mannich- faltig zu gestalten suchte. Es ist klar, daß ein Weiterschreiten auf diesem Wege von der größten Gefahr für die Kunstentwicklung sein mußte: nur der große Künstler konnte, weil er zugleich ein großer Mensch war, seine Schöpfung so gehaltvoll gestalten, daß sie nach Aufgebung der religiösen Tendenz doch noch mächtig ergreifen konnte. Wo aber außer der religiösen Größe auch die menschliche Größe fehlte, da blieb nur das Bestreben, nach Effekt zu haschen und diesen Effekt durch Pikante oder möglichst gewagte Darstellungen zu erreichen, welche im besten Falle ein Staunen vor dem virtuosen Können des Künstlers erwecken konnten. Da war es in der That kein geringes Verdienst, als der hohe Ernst und die Reinheit der Kunst wieder mit aller Entschiedenheit hervorgekehrt wurden, als wan wieder) darauf hinwies, daß die Kunst keine Dienerin der Laune und Willkür, keine felle Dirne zur Hervorbringung wollüstigen Reizes sei, daß sie vielmehr das Amt der Verkünderin und Dolmetscherin der ernstesten und heiligsten Empfindungen für sich in Anspruch nehme, daß alles, was das Menschenherz aufrege und es zu der höchsten Energie des Fllhlens und Handelns über das Alltägliche hinaustreibe, das eigentliche Gebiet ihrer Wirksamkeit sei, daß sie nicht schmeichelnd den Begehrungen der Menschen nachzugeben, sondern ^ehe, gleich einer mit göttlicher Kraft und Erhabenheit ausgestatteten Prophetin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/605>, abgerufen am 27.06.2024.