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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Lin unbekannter Aufsatz Goethes.

spielen u, s, w, unterstützen; er wird freilich oft irren, allein er ist für den Irrthum
nicht verantwortlich, wenn nur die Gründe gut waren, die er zu Gunsten seiner
Meinung vorgebracht. Deu Fall angenommen, es erschienen ihm alle die guten
Eigenschaften Rafaels oder Tizians oder Correggios, oder irgend eines anderen
großen Meisters in einem nicht bekannten Gemälde: was wäre denn Übels daran,
wenn er auch irrigerweise gemeint hätte, das Werk rührte wirklich von dem Meister
her, dessen Eigenschaften es an sich zu tragen schien? Namen der Künstler, auf
Kunstwerke angewandt, sind ja ohnehin nichts als bloße Worte, mit denen man
gewisse Begriffe von Kunstwerth und Charakter verbindet. So z. B. denken wir
uns bey dein Namen Rafaels das allerlöblichste der neuere" Malerey in Erfindung,
Zeichnung, Geschmack u. s. w. an den Namen Tizian knüpfen wir den Begriff des
vortrefflichsten Kolorits und eines großartigen sinnlichen Anffassens der Natur¬
gegenstände. Zeigt sich nun ein Gemälde durch seine Eigenschaften jener großen
Meister oder nach Beschaffenheit auch irgend eines anderen wirklich werth: so mag
es immerhin für ihre Arbeit gelten, ohne daß weder die Kunst noch das Wesent¬
liche der Kenntniß derselben deu geringsten Nachtheil erfährt, wenn etwa in der
Folge durch historische Nachweisungen die Sache anders befunden wird. Oder litt
die Poesie wohl Schaden, darum, weil die homerischen Gesänge sonst für das Werk
eines Dichters gehalten, neuerlich aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dar¬
gethan worden, daß sie von mehreren Verfassern herrühren? sind sie etwa de߬
wegen weniger vortrefflich?

Was wir hier nur flüchtig berührt, würde weiter ausgedehnt und vielleicht
mit größerer Klarheit dargestellt werden können; allein der gegenwärtige Zweck er-
fodert solches nicht, und wir finden uns sonach wieder zu unserem Gemälde zurück,
von welchem wir nach der oben vorgenommenen Auseinandersetzung seiner Eigen¬
schaften nun glauben frey erklären zu dürfen: -- Es ist werth eine Arbeit des
Correggio zu seyn --, ja man mag füglich behaupten, einige der am vollkommensten
gelungenen und erhaltenen Theile, z. B. die Nase, die Augen nebst dem oberen
Theil der Wange an der Hauptfigur, seyen von so unübertrefflicher Art, daß in
Corregios anerkannten Werken nirgend etwas Herrlicheres nachgewiesen werden
kann. Hier hat die Kunst, nach unseren Begriffen von ihr, ihre Grenze gefunden,
kein Bemühen, kein unerreichtes Streben, keine anmaßliche Meisterschaft ist sichtbar,
sondern alles Fluß und Guß, Geist und lebendiger Hauch.




Grenzboten III. 1884.7!
Lin unbekannter Aufsatz Goethes.

spielen u, s, w, unterstützen; er wird freilich oft irren, allein er ist für den Irrthum
nicht verantwortlich, wenn nur die Gründe gut waren, die er zu Gunsten seiner
Meinung vorgebracht. Deu Fall angenommen, es erschienen ihm alle die guten
Eigenschaften Rafaels oder Tizians oder Correggios, oder irgend eines anderen
großen Meisters in einem nicht bekannten Gemälde: was wäre denn Übels daran,
wenn er auch irrigerweise gemeint hätte, das Werk rührte wirklich von dem Meister
her, dessen Eigenschaften es an sich zu tragen schien? Namen der Künstler, auf
Kunstwerke angewandt, sind ja ohnehin nichts als bloße Worte, mit denen man
gewisse Begriffe von Kunstwerth und Charakter verbindet. So z. B. denken wir
uns bey dein Namen Rafaels das allerlöblichste der neuere« Malerey in Erfindung,
Zeichnung, Geschmack u. s. w. an den Namen Tizian knüpfen wir den Begriff des
vortrefflichsten Kolorits und eines großartigen sinnlichen Anffassens der Natur¬
gegenstände. Zeigt sich nun ein Gemälde durch seine Eigenschaften jener großen
Meister oder nach Beschaffenheit auch irgend eines anderen wirklich werth: so mag
es immerhin für ihre Arbeit gelten, ohne daß weder die Kunst noch das Wesent¬
liche der Kenntniß derselben deu geringsten Nachtheil erfährt, wenn etwa in der
Folge durch historische Nachweisungen die Sache anders befunden wird. Oder litt
die Poesie wohl Schaden, darum, weil die homerischen Gesänge sonst für das Werk
eines Dichters gehalten, neuerlich aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dar¬
gethan worden, daß sie von mehreren Verfassern herrühren? sind sie etwa de߬
wegen weniger vortrefflich?

Was wir hier nur flüchtig berührt, würde weiter ausgedehnt und vielleicht
mit größerer Klarheit dargestellt werden können; allein der gegenwärtige Zweck er-
fodert solches nicht, und wir finden uns sonach wieder zu unserem Gemälde zurück,
von welchem wir nach der oben vorgenommenen Auseinandersetzung seiner Eigen¬
schaften nun glauben frey erklären zu dürfen: — Es ist werth eine Arbeit des
Correggio zu seyn —, ja man mag füglich behaupten, einige der am vollkommensten
gelungenen und erhaltenen Theile, z. B. die Nase, die Augen nebst dem oberen
Theil der Wange an der Hauptfigur, seyen von so unübertrefflicher Art, daß in
Corregios anerkannten Werken nirgend etwas Herrlicheres nachgewiesen werden
kann. Hier hat die Kunst, nach unseren Begriffen von ihr, ihre Grenze gefunden,
kein Bemühen, kein unerreichtes Streben, keine anmaßliche Meisterschaft ist sichtbar,
sondern alles Fluß und Guß, Geist und lebendiger Hauch.




Grenzboten III. 1884.7!
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[0569] Lin unbekannter Aufsatz Goethes. spielen u, s, w, unterstützen; er wird freilich oft irren, allein er ist für den Irrthum nicht verantwortlich, wenn nur die Gründe gut waren, die er zu Gunsten seiner Meinung vorgebracht. Deu Fall angenommen, es erschienen ihm alle die guten Eigenschaften Rafaels oder Tizians oder Correggios, oder irgend eines anderen großen Meisters in einem nicht bekannten Gemälde: was wäre denn Übels daran, wenn er auch irrigerweise gemeint hätte, das Werk rührte wirklich von dem Meister her, dessen Eigenschaften es an sich zu tragen schien? Namen der Künstler, auf Kunstwerke angewandt, sind ja ohnehin nichts als bloße Worte, mit denen man gewisse Begriffe von Kunstwerth und Charakter verbindet. So z. B. denken wir uns bey dein Namen Rafaels das allerlöblichste der neuere« Malerey in Erfindung, Zeichnung, Geschmack u. s. w. an den Namen Tizian knüpfen wir den Begriff des vortrefflichsten Kolorits und eines großartigen sinnlichen Anffassens der Natur¬ gegenstände. Zeigt sich nun ein Gemälde durch seine Eigenschaften jener großen Meister oder nach Beschaffenheit auch irgend eines anderen wirklich werth: so mag es immerhin für ihre Arbeit gelten, ohne daß weder die Kunst noch das Wesent¬ liche der Kenntniß derselben deu geringsten Nachtheil erfährt, wenn etwa in der Folge durch historische Nachweisungen die Sache anders befunden wird. Oder litt die Poesie wohl Schaden, darum, weil die homerischen Gesänge sonst für das Werk eines Dichters gehalten, neuerlich aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dar¬ gethan worden, daß sie von mehreren Verfassern herrühren? sind sie etwa de߬ wegen weniger vortrefflich? Was wir hier nur flüchtig berührt, würde weiter ausgedehnt und vielleicht mit größerer Klarheit dargestellt werden können; allein der gegenwärtige Zweck er- fodert solches nicht, und wir finden uns sonach wieder zu unserem Gemälde zurück, von welchem wir nach der oben vorgenommenen Auseinandersetzung seiner Eigen¬ schaften nun glauben frey erklären zu dürfen: — Es ist werth eine Arbeit des Correggio zu seyn —, ja man mag füglich behaupten, einige der am vollkommensten gelungenen und erhaltenen Theile, z. B. die Nase, die Augen nebst dem oberen Theil der Wange an der Hauptfigur, seyen von so unübertrefflicher Art, daß in Corregios anerkannten Werken nirgend etwas Herrlicheres nachgewiesen werden kann. Hier hat die Kunst, nach unseren Begriffen von ihr, ihre Grenze gefunden, kein Bemühen, kein unerreichtes Streben, keine anmaßliche Meisterschaft ist sichtbar, sondern alles Fluß und Guß, Geist und lebendiger Hauch. Grenzboten III. 1884.7!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/569>, abgerufen am 27.06.2024.