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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lüde einer weltgeschichtlichen Tegende.

Nachdem dieser gcinze Akt vollzogen war, wurde die wieder geschlossene
Leiche in einen Holzsarg gelegt und bis zum andern Tage (10. Juni) stehen
gelassen, um auch von der polizeilichen Deputation besichtigt zu werden. Letztere
fand sich Pünktlich ein, stellte den Totenschein aus und erklärte, daß alles in
Ordnung sei. Gegen acht Uhr abends wurde dann der Sarg auf dem Kirchhofe
Sande--Marguerite in Gegenwart zahlreicher Kommissäre des Konvents und
andrer amtlichen Personen in ein gemeinsames Grab gesenkt. Es ist bekannt,
daß der Totengräber dieses Friedhofes, ein royalistisch gesinnter Mann namens
Bertraneourt, genannt Valentin, noch in der Nacht darauf den Sarg wieder
heraushob, ihn mit einem Merkmal versah und in der Nähe der Kirche in ein
besondres Grab senkte, um die Gebeine des letzten Sohnes Ludwigs XVI. nicht
für immer verloren gehen zu lassen. Ludwig XVIII. hatte späterhin bereits
Befehl erteilt, die Überreste seines Neffen dort suchen zu lassen, um eine prunk¬
volle Gedenkfeier für die Opfer der Revolution zu veranstalten, als eine starke
oppositionelle Strömung, welche aus diesem Umstände Nutzen zu ziehen gedachte,
ihn dazu bewog, dieses Vorhaben wieder aufzugeben. Wo die Asche des unglück¬
lichen Prinzen gegenwärtig ruht, ist ein Geheimnis, das wahrscheinlich für
immer nnenthüllt bleiben wird.

Bei so absolut zweifelloser Feststellung des Todes Ludwigs XVII. im
Temple erscheint es beinahe als ein psychologisches Rätsel, daß dessenungeachtet
nicht nur das Volk an die Flucht und die jahrelange Verborgenheit des jungen
Königs glaubte, sondern daß sogar Männer wie Louis Blaue (in seiner Ge¬
schichte der Revolution), wie Jules Favre, der scharfsinnige Advokat, ja selbst
ein europäischer Hof und viele Personen von Rang und Vermögen von der
Existenz eines Ludwig XVII. nach dem 8. Juni 1795 so fest überzeugt waren,
daß sie für dieselbe mit der Kraft ihrer Beredsamkeit und der von dem Mute
ihrer Überzeugung eingegebenen Opferwilligkeit, der es auf Hunderttausende nicht
ankam, eintraten. Es ist schon erwähnt, daß es dem vornehmsten von den
falschen Prätendenten, dem ehemaligen Spandauer Uhrmacher Naundorff, sogar
gestattet gewesen ist, sich in Holland mit den fürstlichen Titeln und Ehren zu
schmücken, die seinem angeblichen Stande zukamen. Noch heute giebt es aber
in Frankreich, und insbesondre in Paris, einflußreiche und hochstehende Per¬
sonen, welche an die plumpe Fabel Naundorffs mit unerschütterlicher Festigkeit
glauben. Wußten doch noch im Mai dieses Jahres, als der älteste Sohn
Nauudorffs nach Paris gekommen war, um abermals den Versuch einer gericht¬
lichen Anerkennung seiner Ansprüche zu übernehmen, Pariser Blätter der
erstaunten Welt zu melden, daß das Hotel des falschen Königssprosses der
Wallfahrtsort einer ganzen Anzahl von Gläubigen bilde, unter denen Namen
von ältesten Geschlechtern und von berühmter Vergangenheit zu finden seien.
Ja noch mehr, es hat sogar im August dieses Jahres das Wiener "Vaterland,"
das doch sonst uach seinen streng legitimistischen Allüren viel auf die Reinheit


Das Lüde einer weltgeschichtlichen Tegende.

Nachdem dieser gcinze Akt vollzogen war, wurde die wieder geschlossene
Leiche in einen Holzsarg gelegt und bis zum andern Tage (10. Juni) stehen
gelassen, um auch von der polizeilichen Deputation besichtigt zu werden. Letztere
fand sich Pünktlich ein, stellte den Totenschein aus und erklärte, daß alles in
Ordnung sei. Gegen acht Uhr abends wurde dann der Sarg auf dem Kirchhofe
Sande--Marguerite in Gegenwart zahlreicher Kommissäre des Konvents und
andrer amtlichen Personen in ein gemeinsames Grab gesenkt. Es ist bekannt,
daß der Totengräber dieses Friedhofes, ein royalistisch gesinnter Mann namens
Bertraneourt, genannt Valentin, noch in der Nacht darauf den Sarg wieder
heraushob, ihn mit einem Merkmal versah und in der Nähe der Kirche in ein
besondres Grab senkte, um die Gebeine des letzten Sohnes Ludwigs XVI. nicht
für immer verloren gehen zu lassen. Ludwig XVIII. hatte späterhin bereits
Befehl erteilt, die Überreste seines Neffen dort suchen zu lassen, um eine prunk¬
volle Gedenkfeier für die Opfer der Revolution zu veranstalten, als eine starke
oppositionelle Strömung, welche aus diesem Umstände Nutzen zu ziehen gedachte,
ihn dazu bewog, dieses Vorhaben wieder aufzugeben. Wo die Asche des unglück¬
lichen Prinzen gegenwärtig ruht, ist ein Geheimnis, das wahrscheinlich für
immer nnenthüllt bleiben wird.

Bei so absolut zweifelloser Feststellung des Todes Ludwigs XVII. im
Temple erscheint es beinahe als ein psychologisches Rätsel, daß dessenungeachtet
nicht nur das Volk an die Flucht und die jahrelange Verborgenheit des jungen
Königs glaubte, sondern daß sogar Männer wie Louis Blaue (in seiner Ge¬
schichte der Revolution), wie Jules Favre, der scharfsinnige Advokat, ja selbst
ein europäischer Hof und viele Personen von Rang und Vermögen von der
Existenz eines Ludwig XVII. nach dem 8. Juni 1795 so fest überzeugt waren,
daß sie für dieselbe mit der Kraft ihrer Beredsamkeit und der von dem Mute
ihrer Überzeugung eingegebenen Opferwilligkeit, der es auf Hunderttausende nicht
ankam, eintraten. Es ist schon erwähnt, daß es dem vornehmsten von den
falschen Prätendenten, dem ehemaligen Spandauer Uhrmacher Naundorff, sogar
gestattet gewesen ist, sich in Holland mit den fürstlichen Titeln und Ehren zu
schmücken, die seinem angeblichen Stande zukamen. Noch heute giebt es aber
in Frankreich, und insbesondre in Paris, einflußreiche und hochstehende Per¬
sonen, welche an die plumpe Fabel Naundorffs mit unerschütterlicher Festigkeit
glauben. Wußten doch noch im Mai dieses Jahres, als der älteste Sohn
Nauudorffs nach Paris gekommen war, um abermals den Versuch einer gericht¬
lichen Anerkennung seiner Ansprüche zu übernehmen, Pariser Blätter der
erstaunten Welt zu melden, daß das Hotel des falschen Königssprosses der
Wallfahrtsort einer ganzen Anzahl von Gläubigen bilde, unter denen Namen
von ältesten Geschlechtern und von berühmter Vergangenheit zu finden seien.
Ja noch mehr, es hat sogar im August dieses Jahres das Wiener „Vaterland,"
das doch sonst uach seinen streng legitimistischen Allüren viel auf die Reinheit


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[0527] Das Lüde einer weltgeschichtlichen Tegende. Nachdem dieser gcinze Akt vollzogen war, wurde die wieder geschlossene Leiche in einen Holzsarg gelegt und bis zum andern Tage (10. Juni) stehen gelassen, um auch von der polizeilichen Deputation besichtigt zu werden. Letztere fand sich Pünktlich ein, stellte den Totenschein aus und erklärte, daß alles in Ordnung sei. Gegen acht Uhr abends wurde dann der Sarg auf dem Kirchhofe Sande--Marguerite in Gegenwart zahlreicher Kommissäre des Konvents und andrer amtlichen Personen in ein gemeinsames Grab gesenkt. Es ist bekannt, daß der Totengräber dieses Friedhofes, ein royalistisch gesinnter Mann namens Bertraneourt, genannt Valentin, noch in der Nacht darauf den Sarg wieder heraushob, ihn mit einem Merkmal versah und in der Nähe der Kirche in ein besondres Grab senkte, um die Gebeine des letzten Sohnes Ludwigs XVI. nicht für immer verloren gehen zu lassen. Ludwig XVIII. hatte späterhin bereits Befehl erteilt, die Überreste seines Neffen dort suchen zu lassen, um eine prunk¬ volle Gedenkfeier für die Opfer der Revolution zu veranstalten, als eine starke oppositionelle Strömung, welche aus diesem Umstände Nutzen zu ziehen gedachte, ihn dazu bewog, dieses Vorhaben wieder aufzugeben. Wo die Asche des unglück¬ lichen Prinzen gegenwärtig ruht, ist ein Geheimnis, das wahrscheinlich für immer nnenthüllt bleiben wird. Bei so absolut zweifelloser Feststellung des Todes Ludwigs XVII. im Temple erscheint es beinahe als ein psychologisches Rätsel, daß dessenungeachtet nicht nur das Volk an die Flucht und die jahrelange Verborgenheit des jungen Königs glaubte, sondern daß sogar Männer wie Louis Blaue (in seiner Ge¬ schichte der Revolution), wie Jules Favre, der scharfsinnige Advokat, ja selbst ein europäischer Hof und viele Personen von Rang und Vermögen von der Existenz eines Ludwig XVII. nach dem 8. Juni 1795 so fest überzeugt waren, daß sie für dieselbe mit der Kraft ihrer Beredsamkeit und der von dem Mute ihrer Überzeugung eingegebenen Opferwilligkeit, der es auf Hunderttausende nicht ankam, eintraten. Es ist schon erwähnt, daß es dem vornehmsten von den falschen Prätendenten, dem ehemaligen Spandauer Uhrmacher Naundorff, sogar gestattet gewesen ist, sich in Holland mit den fürstlichen Titeln und Ehren zu schmücken, die seinem angeblichen Stande zukamen. Noch heute giebt es aber in Frankreich, und insbesondre in Paris, einflußreiche und hochstehende Per¬ sonen, welche an die plumpe Fabel Naundorffs mit unerschütterlicher Festigkeit glauben. Wußten doch noch im Mai dieses Jahres, als der älteste Sohn Nauudorffs nach Paris gekommen war, um abermals den Versuch einer gericht¬ lichen Anerkennung seiner Ansprüche zu übernehmen, Pariser Blätter der erstaunten Welt zu melden, daß das Hotel des falschen Königssprosses der Wallfahrtsort einer ganzen Anzahl von Gläubigen bilde, unter denen Namen von ältesten Geschlechtern und von berühmter Vergangenheit zu finden seien. Ja noch mehr, es hat sogar im August dieses Jahres das Wiener „Vaterland," das doch sonst uach seinen streng legitimistischen Allüren viel auf die Reinheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/527>, abgerufen am 27.06.2024.