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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Musikalische Genusse,

Das Werk des früh dahingeschiedenen I. Raff "Weltende, Gericht. Neue Welt"
ist zwar nicht durchgehends geeignet für eine Aufführung in der Kirche, aber doch
eine ernste, würdige, großartige Schöpfung. Wäre man nicht durch das Voraus¬
gegangene bereits zu ermüdet gewesen, so hätte man die Vorzüge dieses Ora¬
toriums noch besser würdigen können und würde insbesondre die Länge der
Jnstrumcntalzwischenscitze nicht so sehr empfunden haben. Raff, ein gewandter
und namentlich in der Jnstrumentation höchst geschickter Tonsetzer, gefällt sich
vorzugsweise in Tonmalereien. Nicht immer gelingen ihm dieselben; ja er giebt
oft nur Kunststücke von zweifelhaftem Werte. Die Musik kaun nun einmal
nicht mit den Tönen Hantiren wie der Maler mit den Farben, sie kann be¬
stimmte Vorstellungen durch sie allein nicht ausdrücken. Selbst Überschriften
vermögen diesen Mangel nicht zu hebe". Wie will man Pest, Hunger, Tod,
Hölle, letzte Zeichen, Auferstehung, Gericht u. s. w. durch Instrumentalmusik
versinnlichen? Das geht schlechterdings nicht an, und der im vorliegenden Werke
vom Komponisten begangene Mißgriff, zwischen die Gesangsstücke unverhältnis¬
mäßig breite Jnstrumentalsütze einzulegen, mußte jedem Hörer zum Bewußtsein
kommen und den Eindruck der sonst sehr wirkungsvollen Chöre schädigen.

Das dritte Konzert begann mit einer gehaltloser Ouvertüre vou Müller-
Hartuug, die zwar als Festouvertüre angekündigt war, aber sich nur in Gemein¬
plätzen bewegte und keine Spur von festlichem Inhalte zeigte, also auch keine fest¬
liche Stimmung hervorrufen konnte. Vielleicht wurde auch die gehoffte Wirkung
durch die Erwartung auf die folgende Nummer etwas beeinträchtigt.

Die Weimarer Kapelle besaß bis jetzt in ihrem Konzertmeister August Kömpel
einen Künstler ersten Ranges. Aus Gründen, die mir nicht bekannt geworden
sind, aber, wie ich ans vielen mir zu Ohren gekommenen Äußerungen entnehmen
konnte, zum größten Leidwesen des ganzen Orchesters und der ganzen Stadt ist
dieser ausgezeichnete Geiger plötzlich zur Disposition gestellt worden. Wie auch
die ganze im Konzert anwesende Verscunmlnng diesen Vorgang schmerzlich em¬
pfand, bewies der überaus warme Empfang und der enthusiastische Beifall, der
diesem vorzüglichen Schüler Spohrs zuteil wurde. Herr Kömpel spielte das
^-ilioll-Violinkonzert vou Raff, eine große dreisützige Koniposition, der nach
der oben geschilderten Liebhaberei des Tonsetzers ein dreistrophiges Gedicht von
A. Börner zu gründe lag. Als der wenigst dankbare Satz erschien mir der erste,
in welchem die Violine sich stets in den höchsten, für die Tonentwicklung un¬
günstigsten Lagen bewegt, ein Fehler, in welchen übrigens alle Klavierspieler
verfallen, die Violinkonzerte schreiben. Der zweite Satz hat schönen Gesang und
warme Empfindung, der dritte ist frisch und ansprechend. Herr Kömpel löste
die ihm gestellte Aufgabe meisterhaft. Sein großer edler Ton, die Wärme seines
Spiels, seine tadellose Intonation und die künstlerische und technische Freiheit,
mit der er alle Schwierigkeiten anscheinend mühelos überwand, rissen die Hörer
zu begeistertem Beifall hin und ließen es umsomehr bedauern, daß sich der


Musikalische Genusse,

Das Werk des früh dahingeschiedenen I. Raff „Weltende, Gericht. Neue Welt"
ist zwar nicht durchgehends geeignet für eine Aufführung in der Kirche, aber doch
eine ernste, würdige, großartige Schöpfung. Wäre man nicht durch das Voraus¬
gegangene bereits zu ermüdet gewesen, so hätte man die Vorzüge dieses Ora¬
toriums noch besser würdigen können und würde insbesondre die Länge der
Jnstrumcntalzwischenscitze nicht so sehr empfunden haben. Raff, ein gewandter
und namentlich in der Jnstrumentation höchst geschickter Tonsetzer, gefällt sich
vorzugsweise in Tonmalereien. Nicht immer gelingen ihm dieselben; ja er giebt
oft nur Kunststücke von zweifelhaftem Werte. Die Musik kaun nun einmal
nicht mit den Tönen Hantiren wie der Maler mit den Farben, sie kann be¬
stimmte Vorstellungen durch sie allein nicht ausdrücken. Selbst Überschriften
vermögen diesen Mangel nicht zu hebe». Wie will man Pest, Hunger, Tod,
Hölle, letzte Zeichen, Auferstehung, Gericht u. s. w. durch Instrumentalmusik
versinnlichen? Das geht schlechterdings nicht an, und der im vorliegenden Werke
vom Komponisten begangene Mißgriff, zwischen die Gesangsstücke unverhältnis¬
mäßig breite Jnstrumentalsütze einzulegen, mußte jedem Hörer zum Bewußtsein
kommen und den Eindruck der sonst sehr wirkungsvollen Chöre schädigen.

Das dritte Konzert begann mit einer gehaltloser Ouvertüre vou Müller-
Hartuug, die zwar als Festouvertüre angekündigt war, aber sich nur in Gemein¬
plätzen bewegte und keine Spur von festlichem Inhalte zeigte, also auch keine fest¬
liche Stimmung hervorrufen konnte. Vielleicht wurde auch die gehoffte Wirkung
durch die Erwartung auf die folgende Nummer etwas beeinträchtigt.

Die Weimarer Kapelle besaß bis jetzt in ihrem Konzertmeister August Kömpel
einen Künstler ersten Ranges. Aus Gründen, die mir nicht bekannt geworden
sind, aber, wie ich ans vielen mir zu Ohren gekommenen Äußerungen entnehmen
konnte, zum größten Leidwesen des ganzen Orchesters und der ganzen Stadt ist
dieser ausgezeichnete Geiger plötzlich zur Disposition gestellt worden. Wie auch
die ganze im Konzert anwesende Verscunmlnng diesen Vorgang schmerzlich em¬
pfand, bewies der überaus warme Empfang und der enthusiastische Beifall, der
diesem vorzüglichen Schüler Spohrs zuteil wurde. Herr Kömpel spielte das
^-ilioll-Violinkonzert vou Raff, eine große dreisützige Koniposition, der nach
der oben geschilderten Liebhaberei des Tonsetzers ein dreistrophiges Gedicht von
A. Börner zu gründe lag. Als der wenigst dankbare Satz erschien mir der erste,
in welchem die Violine sich stets in den höchsten, für die Tonentwicklung un¬
günstigsten Lagen bewegt, ein Fehler, in welchen übrigens alle Klavierspieler
verfallen, die Violinkonzerte schreiben. Der zweite Satz hat schönen Gesang und
warme Empfindung, der dritte ist frisch und ansprechend. Herr Kömpel löste
die ihm gestellte Aufgabe meisterhaft. Sein großer edler Ton, die Wärme seines
Spiels, seine tadellose Intonation und die künstlerische und technische Freiheit,
mit der er alle Schwierigkeiten anscheinend mühelos überwand, rissen die Hörer
zu begeistertem Beifall hin und ließen es umsomehr bedauern, daß sich der


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[0043] Musikalische Genusse, Das Werk des früh dahingeschiedenen I. Raff „Weltende, Gericht. Neue Welt" ist zwar nicht durchgehends geeignet für eine Aufführung in der Kirche, aber doch eine ernste, würdige, großartige Schöpfung. Wäre man nicht durch das Voraus¬ gegangene bereits zu ermüdet gewesen, so hätte man die Vorzüge dieses Ora¬ toriums noch besser würdigen können und würde insbesondre die Länge der Jnstrumcntalzwischenscitze nicht so sehr empfunden haben. Raff, ein gewandter und namentlich in der Jnstrumentation höchst geschickter Tonsetzer, gefällt sich vorzugsweise in Tonmalereien. Nicht immer gelingen ihm dieselben; ja er giebt oft nur Kunststücke von zweifelhaftem Werte. Die Musik kaun nun einmal nicht mit den Tönen Hantiren wie der Maler mit den Farben, sie kann be¬ stimmte Vorstellungen durch sie allein nicht ausdrücken. Selbst Überschriften vermögen diesen Mangel nicht zu hebe». Wie will man Pest, Hunger, Tod, Hölle, letzte Zeichen, Auferstehung, Gericht u. s. w. durch Instrumentalmusik versinnlichen? Das geht schlechterdings nicht an, und der im vorliegenden Werke vom Komponisten begangene Mißgriff, zwischen die Gesangsstücke unverhältnis¬ mäßig breite Jnstrumentalsütze einzulegen, mußte jedem Hörer zum Bewußtsein kommen und den Eindruck der sonst sehr wirkungsvollen Chöre schädigen. Das dritte Konzert begann mit einer gehaltloser Ouvertüre vou Müller- Hartuug, die zwar als Festouvertüre angekündigt war, aber sich nur in Gemein¬ plätzen bewegte und keine Spur von festlichem Inhalte zeigte, also auch keine fest¬ liche Stimmung hervorrufen konnte. Vielleicht wurde auch die gehoffte Wirkung durch die Erwartung auf die folgende Nummer etwas beeinträchtigt. Die Weimarer Kapelle besaß bis jetzt in ihrem Konzertmeister August Kömpel einen Künstler ersten Ranges. Aus Gründen, die mir nicht bekannt geworden sind, aber, wie ich ans vielen mir zu Ohren gekommenen Äußerungen entnehmen konnte, zum größten Leidwesen des ganzen Orchesters und der ganzen Stadt ist dieser ausgezeichnete Geiger plötzlich zur Disposition gestellt worden. Wie auch die ganze im Konzert anwesende Verscunmlnng diesen Vorgang schmerzlich em¬ pfand, bewies der überaus warme Empfang und der enthusiastische Beifall, der diesem vorzüglichen Schüler Spohrs zuteil wurde. Herr Kömpel spielte das ^-ilioll-Violinkonzert vou Raff, eine große dreisützige Koniposition, der nach der oben geschilderten Liebhaberei des Tonsetzers ein dreistrophiges Gedicht von A. Börner zu gründe lag. Als der wenigst dankbare Satz erschien mir der erste, in welchem die Violine sich stets in den höchsten, für die Tonentwicklung un¬ günstigsten Lagen bewegt, ein Fehler, in welchen übrigens alle Klavierspieler verfallen, die Violinkonzerte schreiben. Der zweite Satz hat schönen Gesang und warme Empfindung, der dritte ist frisch und ansprechend. Herr Kömpel löste die ihm gestellte Aufgabe meisterhaft. Sein großer edler Ton, die Wärme seines Spiels, seine tadellose Intonation und die künstlerische und technische Freiheit, mit der er alle Schwierigkeiten anscheinend mühelos überwand, rissen die Hörer zu begeistertem Beifall hin und ließen es umsomehr bedauern, daß sich der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/43>, abgerufen am 22.06.2024.