Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
"Line Wanderung durch Schwaben.

frühern Benediktinerklosters, des heutigen theologischen Seminars. In diesem
Kloster befindet sich der 1494--96 vollendete Hochaltar, "so von allen Frembden
mit Verwunderung gesehen wird." Es ist ein gewaltiges, in Gold und Farben
strahlendes Werk von verwegenen Reichtum. Außen sehen wir umfangreiche
Bilderzyclen; erst wenn zwei paar Flügel geöffnet sind, kommt der tiefe Schrein
mit den Hvlzfigurm der Madonna, der beiden Johannes, des heiligen Benedikt
und der heiligen scholastica zum Vorschein. Daneben prangen in glänzenden
Farben die Reliefs der beiden Flügel, welche die Geburt Christi und die An¬
betung der Könige vorführen. Über dem Ganzen strebt ein reiches Taber¬
nakelwerk mit Brustbildern und ganzen Figuren turmartig in die Höhe. Die
Statuen sind schon nicht mehr so asketisch mager wie die des Mittelalters,
sondern zeichnen sich durch schöne Fülle der Formen aus, die Gestalt der
Maria ist wegen der einfach großen Gewandung, die des Täufers wegen der
trefflichen Behandlung des Nackten beachtenswert. Hier sieht man, wie ein
Kunstwerk wirkt, wenn es in seiner ursprünglichen richtigen Umgebung steht.
Man fühlt sich in alte, längstvergangene Zeiten zurückversetzt, wenn man in
diesem einsamen Kirchenraume steht, der fast nie von eines Menschen Fuß be¬
treten wird. Denn die Zeiten, wo allmonatlich große Wallfahrten zu dem
weltberühmten Hochaltar unternommen wurden, sind längst vorüber. Nur noch
einmal im Jahre, am zweiten Juli, am Tage von Mariä Heimsuchung, pilgert
eine große Menschenmenge aus Nah und Fern herbei, um dem Marienbilde
mit dem Jesuskindlein ihre Verehrung darzubringen.

Von sonstigen schwäbischen Holzschnitzarbeiten sind besonders diejenigen
des Ulmer Münsters sehenswert. Das Sakramentshäuschen mit seinem reichen
Bilderschmuck wird nur von dem berühmten zu Se. Lorenz in Nürnberg über¬
troffen. Das in den Jahren 1469--74 entstandene Chorgestühl ist das größte,
welches die deutsche Kunst des Mittelalters hervorgebracht hat, und von tiefstem
Gedankeninhalt. In der Basis längs den doppelten Sitzreihen der südlichen
wie der nördlichen Seite machen neben den Gebilden aus dem Pflanzen- und
Tierreich auch Menschenantlitze sich breit, aber fratzenhaft verzerrt, Typen der
gottverlassenen Menschheit. Über dieser Basis erhebt sich in dreifacher Auf-
stufung das denkende gottsuchende Heidentum der alten Welt, rechts durch
Pythagoras, Cicero, Seneca, Quintilian, links dnrch die Brustbilder der
Sibyllen vertreten. Darüber, oberhalb der höhern Stuhlreihen, ist die vorbe¬
reitende Offenbarung des alten Bundes in großen Reliefs der Propheten und
heiligen Frauen dargestellt. Über dem Ganzen befindet sich in den Bogen¬
feldern des reichen Baldachingesimses, alles übergipfelnd, die Offenbarung des
neuen Bundes. Das Ganze kann als eine in Holz geschnitzte Philosophie
der Natur, der Geschichte und der Offenbarung gelten.

Zu noch weit höherer Blüte aber als die Plastik gelangte in der zweiten
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts die Malerei. Sie ist in Schwaben im


«Line Wanderung durch Schwaben.

frühern Benediktinerklosters, des heutigen theologischen Seminars. In diesem
Kloster befindet sich der 1494—96 vollendete Hochaltar, „so von allen Frembden
mit Verwunderung gesehen wird." Es ist ein gewaltiges, in Gold und Farben
strahlendes Werk von verwegenen Reichtum. Außen sehen wir umfangreiche
Bilderzyclen; erst wenn zwei paar Flügel geöffnet sind, kommt der tiefe Schrein
mit den Hvlzfigurm der Madonna, der beiden Johannes, des heiligen Benedikt
und der heiligen scholastica zum Vorschein. Daneben prangen in glänzenden
Farben die Reliefs der beiden Flügel, welche die Geburt Christi und die An¬
betung der Könige vorführen. Über dem Ganzen strebt ein reiches Taber¬
nakelwerk mit Brustbildern und ganzen Figuren turmartig in die Höhe. Die
Statuen sind schon nicht mehr so asketisch mager wie die des Mittelalters,
sondern zeichnen sich durch schöne Fülle der Formen aus, die Gestalt der
Maria ist wegen der einfach großen Gewandung, die des Täufers wegen der
trefflichen Behandlung des Nackten beachtenswert. Hier sieht man, wie ein
Kunstwerk wirkt, wenn es in seiner ursprünglichen richtigen Umgebung steht.
Man fühlt sich in alte, längstvergangene Zeiten zurückversetzt, wenn man in
diesem einsamen Kirchenraume steht, der fast nie von eines Menschen Fuß be¬
treten wird. Denn die Zeiten, wo allmonatlich große Wallfahrten zu dem
weltberühmten Hochaltar unternommen wurden, sind längst vorüber. Nur noch
einmal im Jahre, am zweiten Juli, am Tage von Mariä Heimsuchung, pilgert
eine große Menschenmenge aus Nah und Fern herbei, um dem Marienbilde
mit dem Jesuskindlein ihre Verehrung darzubringen.

Von sonstigen schwäbischen Holzschnitzarbeiten sind besonders diejenigen
des Ulmer Münsters sehenswert. Das Sakramentshäuschen mit seinem reichen
Bilderschmuck wird nur von dem berühmten zu Se. Lorenz in Nürnberg über¬
troffen. Das in den Jahren 1469—74 entstandene Chorgestühl ist das größte,
welches die deutsche Kunst des Mittelalters hervorgebracht hat, und von tiefstem
Gedankeninhalt. In der Basis längs den doppelten Sitzreihen der südlichen
wie der nördlichen Seite machen neben den Gebilden aus dem Pflanzen- und
Tierreich auch Menschenantlitze sich breit, aber fratzenhaft verzerrt, Typen der
gottverlassenen Menschheit. Über dieser Basis erhebt sich in dreifacher Auf-
stufung das denkende gottsuchende Heidentum der alten Welt, rechts durch
Pythagoras, Cicero, Seneca, Quintilian, links dnrch die Brustbilder der
Sibyllen vertreten. Darüber, oberhalb der höhern Stuhlreihen, ist die vorbe¬
reitende Offenbarung des alten Bundes in großen Reliefs der Propheten und
heiligen Frauen dargestellt. Über dem Ganzen befindet sich in den Bogen¬
feldern des reichen Baldachingesimses, alles übergipfelnd, die Offenbarung des
neuen Bundes. Das Ganze kann als eine in Holz geschnitzte Philosophie
der Natur, der Geschichte und der Offenbarung gelten.

Zu noch weit höherer Blüte aber als die Plastik gelangte in der zweiten
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts die Malerei. Sie ist in Schwaben im


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156297"/>
          <fw type="header" place="top"> «Line Wanderung durch Schwaben.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_62" prev="#ID_61"> frühern Benediktinerklosters, des heutigen theologischen Seminars. In diesem<lb/>
Kloster befindet sich der 1494&#x2014;96 vollendete Hochaltar, &#x201E;so von allen Frembden<lb/>
mit Verwunderung gesehen wird." Es ist ein gewaltiges, in Gold und Farben<lb/>
strahlendes Werk von verwegenen Reichtum. Außen sehen wir umfangreiche<lb/>
Bilderzyclen; erst wenn zwei paar Flügel geöffnet sind, kommt der tiefe Schrein<lb/>
mit den Hvlzfigurm der Madonna, der beiden Johannes, des heiligen Benedikt<lb/>
und der heiligen scholastica zum Vorschein. Daneben prangen in glänzenden<lb/>
Farben die Reliefs der beiden Flügel, welche die Geburt Christi und die An¬<lb/>
betung der Könige vorführen. Über dem Ganzen strebt ein reiches Taber¬<lb/>
nakelwerk mit Brustbildern und ganzen Figuren turmartig in die Höhe. Die<lb/>
Statuen sind schon nicht mehr so asketisch mager wie die des Mittelalters,<lb/>
sondern zeichnen sich durch schöne Fülle der Formen aus, die Gestalt der<lb/>
Maria ist wegen der einfach großen Gewandung, die des Täufers wegen der<lb/>
trefflichen Behandlung des Nackten beachtenswert. Hier sieht man, wie ein<lb/>
Kunstwerk wirkt, wenn es in seiner ursprünglichen richtigen Umgebung steht.<lb/>
Man fühlt sich in alte, längstvergangene Zeiten zurückversetzt, wenn man in<lb/>
diesem einsamen Kirchenraume steht, der fast nie von eines Menschen Fuß be¬<lb/>
treten wird. Denn die Zeiten, wo allmonatlich große Wallfahrten zu dem<lb/>
weltberühmten Hochaltar unternommen wurden, sind längst vorüber. Nur noch<lb/>
einmal im Jahre, am zweiten Juli, am Tage von Mariä Heimsuchung, pilgert<lb/>
eine große Menschenmenge aus Nah und Fern herbei, um dem Marienbilde<lb/>
mit dem Jesuskindlein ihre Verehrung darzubringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_63"> Von sonstigen schwäbischen Holzschnitzarbeiten sind besonders diejenigen<lb/>
des Ulmer Münsters sehenswert. Das Sakramentshäuschen mit seinem reichen<lb/>
Bilderschmuck wird nur von dem berühmten zu Se. Lorenz in Nürnberg über¬<lb/>
troffen. Das in den Jahren 1469&#x2014;74 entstandene Chorgestühl ist das größte,<lb/>
welches die deutsche Kunst des Mittelalters hervorgebracht hat, und von tiefstem<lb/>
Gedankeninhalt. In der Basis längs den doppelten Sitzreihen der südlichen<lb/>
wie der nördlichen Seite machen neben den Gebilden aus dem Pflanzen- und<lb/>
Tierreich auch Menschenantlitze sich breit, aber fratzenhaft verzerrt, Typen der<lb/>
gottverlassenen Menschheit. Über dieser Basis erhebt sich in dreifacher Auf-<lb/>
stufung das denkende gottsuchende Heidentum der alten Welt, rechts durch<lb/>
Pythagoras, Cicero, Seneca, Quintilian, links dnrch die Brustbilder der<lb/>
Sibyllen vertreten. Darüber, oberhalb der höhern Stuhlreihen, ist die vorbe¬<lb/>
reitende Offenbarung des alten Bundes in großen Reliefs der Propheten und<lb/>
heiligen Frauen dargestellt. Über dem Ganzen befindet sich in den Bogen¬<lb/>
feldern des reichen Baldachingesimses, alles übergipfelnd, die Offenbarung des<lb/>
neuen Bundes. Das Ganze kann als eine in Holz geschnitzte Philosophie<lb/>
der Natur, der Geschichte und der Offenbarung gelten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_64" next="#ID_65"> Zu noch weit höherer Blüte aber als die Plastik gelangte in der zweiten<lb/>
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts die Malerei.  Sie ist in Schwaben im</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] «Line Wanderung durch Schwaben. frühern Benediktinerklosters, des heutigen theologischen Seminars. In diesem Kloster befindet sich der 1494—96 vollendete Hochaltar, „so von allen Frembden mit Verwunderung gesehen wird." Es ist ein gewaltiges, in Gold und Farben strahlendes Werk von verwegenen Reichtum. Außen sehen wir umfangreiche Bilderzyclen; erst wenn zwei paar Flügel geöffnet sind, kommt der tiefe Schrein mit den Hvlzfigurm der Madonna, der beiden Johannes, des heiligen Benedikt und der heiligen scholastica zum Vorschein. Daneben prangen in glänzenden Farben die Reliefs der beiden Flügel, welche die Geburt Christi und die An¬ betung der Könige vorführen. Über dem Ganzen strebt ein reiches Taber¬ nakelwerk mit Brustbildern und ganzen Figuren turmartig in die Höhe. Die Statuen sind schon nicht mehr so asketisch mager wie die des Mittelalters, sondern zeichnen sich durch schöne Fülle der Formen aus, die Gestalt der Maria ist wegen der einfach großen Gewandung, die des Täufers wegen der trefflichen Behandlung des Nackten beachtenswert. Hier sieht man, wie ein Kunstwerk wirkt, wenn es in seiner ursprünglichen richtigen Umgebung steht. Man fühlt sich in alte, längstvergangene Zeiten zurückversetzt, wenn man in diesem einsamen Kirchenraume steht, der fast nie von eines Menschen Fuß be¬ treten wird. Denn die Zeiten, wo allmonatlich große Wallfahrten zu dem weltberühmten Hochaltar unternommen wurden, sind längst vorüber. Nur noch einmal im Jahre, am zweiten Juli, am Tage von Mariä Heimsuchung, pilgert eine große Menschenmenge aus Nah und Fern herbei, um dem Marienbilde mit dem Jesuskindlein ihre Verehrung darzubringen. Von sonstigen schwäbischen Holzschnitzarbeiten sind besonders diejenigen des Ulmer Münsters sehenswert. Das Sakramentshäuschen mit seinem reichen Bilderschmuck wird nur von dem berühmten zu Se. Lorenz in Nürnberg über¬ troffen. Das in den Jahren 1469—74 entstandene Chorgestühl ist das größte, welches die deutsche Kunst des Mittelalters hervorgebracht hat, und von tiefstem Gedankeninhalt. In der Basis längs den doppelten Sitzreihen der südlichen wie der nördlichen Seite machen neben den Gebilden aus dem Pflanzen- und Tierreich auch Menschenantlitze sich breit, aber fratzenhaft verzerrt, Typen der gottverlassenen Menschheit. Über dieser Basis erhebt sich in dreifacher Auf- stufung das denkende gottsuchende Heidentum der alten Welt, rechts durch Pythagoras, Cicero, Seneca, Quintilian, links dnrch die Brustbilder der Sibyllen vertreten. Darüber, oberhalb der höhern Stuhlreihen, ist die vorbe¬ reitende Offenbarung des alten Bundes in großen Reliefs der Propheten und heiligen Frauen dargestellt. Über dem Ganzen befindet sich in den Bogen¬ feldern des reichen Baldachingesimses, alles übergipfelnd, die Offenbarung des neuen Bundes. Das Ganze kann als eine in Holz geschnitzte Philosophie der Natur, der Geschichte und der Offenbarung gelten. Zu noch weit höherer Blüte aber als die Plastik gelangte in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts die Malerei. Sie ist in Schwaben im

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/26>, abgerufen am 23.06.2024.