Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.Line Übersetzung von Goethes Faust. Dies Urteil ist nicht unmotivirt, und man kann sogar noch weitergehen. Faust Sind wir aber erst so weit gekommen, daß von einflußreichster akade¬ Der Verfasser unsers Buches war nicht von dem Vorurteil befangen, daß Line Übersetzung von Goethes Faust. Dies Urteil ist nicht unmotivirt, und man kann sogar noch weitergehen. Faust Sind wir aber erst so weit gekommen, daß von einflußreichster akade¬ Der Verfasser unsers Buches war nicht von dem Vorurteil befangen, daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0232" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156503"/> <fw type="header" place="top"> Line Übersetzung von Goethes Faust.</fw><lb/> <p xml:id="ID_972" prev="#ID_971"> Dies Urteil ist nicht unmotivirt, und man kann sogar noch weitergehen. Faust<lb/> ist offenbar nach Goethes Schilderung der intellektuelle Urheber des Todes von<lb/> Gretchens Mutter, seine drei Tropfen, von denen er versicherte, daß sie ganz<lb/> unschädlich seien, haben ihren Tod herbeigeführt, und von all dieser schweren<lb/> Schuld sollte er so leichten Kaufs befreit werden? In der letzten Szene sind<lb/> allerlei Figuren aus der Scholastik und dem katholischen Gottesdienste entlehnt.<lb/> Wohlmeinende Freunde des Dichters deuten sie zwar nur als die Versinnlichung<lb/> der Idee des Emporstrebens und Getragenwerdens der Menschenseele überhaupt<lb/> zum Überirdischen und zum ewigen Leben, aber warum gerade die Mutter Maria<lb/> in der Höhe erscheint? Das könnte am Ende gar darauf hindeuten, daß Goethe<lb/> die katholische Kirche im höchsten Alter als die Vergeberin aller Sünden be¬<lb/> trachtet hätte. Wer weiß, ob nicht wieder eine Altersschwäche des greisen<lb/> Dichters hierfür die Erklärung böte?</p><lb/> <p xml:id="ID_973"> Sind wir aber erst so weit gekommen, daß von einflußreichster akade¬<lb/> mischer Stelle aus der „Faust" für ein verfehltes Machwerk erklärt wird, dann<lb/> liegt die Gefahr nahe, daß dem deutschen Volke der größte Schatz, den es in<lb/> seiner Literatur besitzt, entfremdet werde unter dem Vorwande, daß er ebenso<lb/> eitel und nichtig sei wie ein beliebiges Nebenprodukt halbverschrobeuer Poeten.<lb/> Unter solchen Verhältnissen kann es gewiß nicht schaden, wenn einmal die bis¬<lb/> herige Erklärung des „Faust" vollständig auf den Kopf gestellt und von einer<lb/> ganz andern Seite her neu unternommen wird, vorausgesetzt, daß dabei das<lb/> ganze Werk in seinem Werte gesteigert wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_974" next="#ID_975"> Der Verfasser unsers Buches war nicht von dem Vorurteil befangen, daß<lb/> die echte Poesie nur reale Thatsachen darstellen dürfe, und daß sie an<lb/> schöpferischer Kraft verliere, wenn sie Bilder und Gleichnisse für abstrakte Be¬<lb/> griffe setze. Mit der Wahrheit poetischer Schöpfungen ist es in der That eine<lb/> eigne Sache. Wo ist z. B. die historische Wahrheit im „Egmont"? im „Götz"?<lb/> in der „Jghigenie"? Und doch sind alle Szenen von einer Wahrheit der<lb/> Darstellung, die jeden Hörer unbedingt gefangen nimmt. In der Unterredung<lb/> zwischen Egmont und Oranien ist jede Silbe ächt und wahr, hörte ich einen<lb/> begeisterten Vorleser ausrufen. Aber ist sie deun historisch wahr? Egmonts<lb/> Charakter ist ja bekanntlich ein ganz andrer gewesen; er war ein viel älterer,<lb/> gewiegter, klugerer Staatsmann als der jugendliche Freiheitsheld mit allen<lb/> Schwächen des sorg- und harmlosen Charakters. Und die Volksszenen bei Aldas<lb/> Okkupation sind so vollkommen wahr geschildert, daß man sie überall unter<lb/> ähnlichen Verhältnissen ganz ähnlich wieder erleben kann. Aber ist darum die<lb/> historische Wahrheit darin enthalten? Mit dieser hat das ganze Stück offen¬<lb/> bar nur sehr wenig zu thun. Goethe nahm vielmehr den Stoff aus der Ge¬<lb/> schichte nicht zu dem Zwecke, um unsre historischen Kenntnisse zu fördern, sondern -<lb/> weil er ihm eine passende Hülle schien, um seine eigne Freiheitslust und unab¬<lb/> hängige Gesinnung darin lebendig auszudrücken und einzukleiden. So ist das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0232]
Line Übersetzung von Goethes Faust.
Dies Urteil ist nicht unmotivirt, und man kann sogar noch weitergehen. Faust
ist offenbar nach Goethes Schilderung der intellektuelle Urheber des Todes von
Gretchens Mutter, seine drei Tropfen, von denen er versicherte, daß sie ganz
unschädlich seien, haben ihren Tod herbeigeführt, und von all dieser schweren
Schuld sollte er so leichten Kaufs befreit werden? In der letzten Szene sind
allerlei Figuren aus der Scholastik und dem katholischen Gottesdienste entlehnt.
Wohlmeinende Freunde des Dichters deuten sie zwar nur als die Versinnlichung
der Idee des Emporstrebens und Getragenwerdens der Menschenseele überhaupt
zum Überirdischen und zum ewigen Leben, aber warum gerade die Mutter Maria
in der Höhe erscheint? Das könnte am Ende gar darauf hindeuten, daß Goethe
die katholische Kirche im höchsten Alter als die Vergeberin aller Sünden be¬
trachtet hätte. Wer weiß, ob nicht wieder eine Altersschwäche des greisen
Dichters hierfür die Erklärung böte?
Sind wir aber erst so weit gekommen, daß von einflußreichster akade¬
mischer Stelle aus der „Faust" für ein verfehltes Machwerk erklärt wird, dann
liegt die Gefahr nahe, daß dem deutschen Volke der größte Schatz, den es in
seiner Literatur besitzt, entfremdet werde unter dem Vorwande, daß er ebenso
eitel und nichtig sei wie ein beliebiges Nebenprodukt halbverschrobeuer Poeten.
Unter solchen Verhältnissen kann es gewiß nicht schaden, wenn einmal die bis¬
herige Erklärung des „Faust" vollständig auf den Kopf gestellt und von einer
ganz andern Seite her neu unternommen wird, vorausgesetzt, daß dabei das
ganze Werk in seinem Werte gesteigert wird.
Der Verfasser unsers Buches war nicht von dem Vorurteil befangen, daß
die echte Poesie nur reale Thatsachen darstellen dürfe, und daß sie an
schöpferischer Kraft verliere, wenn sie Bilder und Gleichnisse für abstrakte Be¬
griffe setze. Mit der Wahrheit poetischer Schöpfungen ist es in der That eine
eigne Sache. Wo ist z. B. die historische Wahrheit im „Egmont"? im „Götz"?
in der „Jghigenie"? Und doch sind alle Szenen von einer Wahrheit der
Darstellung, die jeden Hörer unbedingt gefangen nimmt. In der Unterredung
zwischen Egmont und Oranien ist jede Silbe ächt und wahr, hörte ich einen
begeisterten Vorleser ausrufen. Aber ist sie deun historisch wahr? Egmonts
Charakter ist ja bekanntlich ein ganz andrer gewesen; er war ein viel älterer,
gewiegter, klugerer Staatsmann als der jugendliche Freiheitsheld mit allen
Schwächen des sorg- und harmlosen Charakters. Und die Volksszenen bei Aldas
Okkupation sind so vollkommen wahr geschildert, daß man sie überall unter
ähnlichen Verhältnissen ganz ähnlich wieder erleben kann. Aber ist darum die
historische Wahrheit darin enthalten? Mit dieser hat das ganze Stück offen¬
bar nur sehr wenig zu thun. Goethe nahm vielmehr den Stoff aus der Ge¬
schichte nicht zu dem Zwecke, um unsre historischen Kenntnisse zu fördern, sondern -
weil er ihm eine passende Hülle schien, um seine eigne Freiheitslust und unab¬
hängige Gesinnung darin lebendig auszudrücken und einzukleiden. So ist das
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |