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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Interessenvertretung.

wird und die Gelegenheit zu einem Plaidoyer giebt: Advokaten und Journalisten.
Wem es um eine Sache selbst zu thun ist, der kann ja nicht so unbefangen
sein wie jemand, dem es nur auf die Rede oder den Artikel über die Sache
ankommt: das leuchtet doch ein.

Wir glauben, daß der Gegensatz in der Auffassung des Zweckes einer Volks¬
vertretung als einer Versammlung von Männern, deren jeder irgendein Gebiet
des öffentliche!, Lebens gründlich, aus praktischer Erfahrung kennt, die Bedürf¬
nisse auf diesem Gebiete zu beurteilen und zur Geltung zu bringen vermag,
und die als Ganzes daher in der Lage ist, die Regierung in allen Fragen zu
beraten, die Anliegen des Volkes zu ihrer Kenntnis zu bringen -- oder als
der eigentlichen Negierung, deren Beschlüsse die Behörden auszuführen haben,
also der Gegensatz zwischen Interessenvertretung und parlamentarischem Regiment,
heutzutage in der ganzen Welt zur Entscheidung drängt. Die seit der fran¬
zösischen Revolution herrschende Fiktion, daß der Wille und der Verstand des
Volkes ihren vollsten und reinsten Ausdruck in einer Versammlung finden müssen,
welche aus Wahlen nach der Kopfzahl hervorgegangen ist, wird gegenwärtig
gerade ihren Anhängern bedenklich. Sie können sich gegenüber neueren Vor¬
gängen nicht verhehlen, daß die große Mehrheit eigentlich selten uns ihrer Seite
steht, und daß dieselben Mittel, welche sie anzuwenden pflegen, gelegentlich von
andern Mächten, z. B. den Pfarrern und den Arbeiterführern, mit noch größeren
Erfolge angewandt werden. Mit den Redensarten von Beeinflussung der Wahlen
u. s. w. streuen sie höchstens noch sich selbst Sand in die Augen. In Belgien,
wie seit fünf Jahren in Österreich ist ihr System aä adsuräuiri geführt, auf
Grund der Kopfzahl haben dort ihre Gegner die Gewalt in die Hände bekommen
und machen von dieser den Gebrauch, den die Liberalen von ihr gemacht haben
und wieder machen möchten. Solange nicht ein politischer und religiöser Glaube
eine ganze Bevölkerung erfüllt, muß sich immer dasselbe Spiel wiederholen,
daß die siegende Partei die unterlegene auf jede Weise zu schwächen sucht, und
damit gewöhnlich das befördert, was sie verhindern möchte, ihren Sturz. Welcher
Segen es für ein Land ist, wenn so die Staatsgewalt zum Zankapfel und
Spielball der Parteien gemacht wird, das sehen die meisten wohl selbst ein,
helfen sich aber mit der Vorspiegelung, daß, wenn alles mit rechten Dingen
zugegangen wäre, sie obenauf sein müßten u. s. w. Gleichzeitig verraten sie
jedoch die Erkenntnis, daß die Völker sich mit politischen Schlagwörtern nicht
mehr satt machen lassen wollen, denn ganz in der Stille nehmen sie in ihre
Programme Forderungen auf, welche stark nach Interessenvertretung schmecken.

Daß es so kommen müsse, hat ein deutscher Staatsmann und Historiker,
Eduard von Wietersheim, vor fünfunddreißig Jahren vorausgesagt ("Die Demo¬
kratie in Deutschland"). Damals konnte sein Wort kein Gehör finden, zuvor
mußten die Deutschen sich an dein langersehnten Genusse parlamentarischen
Lebens gütlich thun und den Magen verderben. Dazu ist die verstrichene Frist


Interessenvertretung.

wird und die Gelegenheit zu einem Plaidoyer giebt: Advokaten und Journalisten.
Wem es um eine Sache selbst zu thun ist, der kann ja nicht so unbefangen
sein wie jemand, dem es nur auf die Rede oder den Artikel über die Sache
ankommt: das leuchtet doch ein.

Wir glauben, daß der Gegensatz in der Auffassung des Zweckes einer Volks¬
vertretung als einer Versammlung von Männern, deren jeder irgendein Gebiet
des öffentliche!, Lebens gründlich, aus praktischer Erfahrung kennt, die Bedürf¬
nisse auf diesem Gebiete zu beurteilen und zur Geltung zu bringen vermag,
und die als Ganzes daher in der Lage ist, die Regierung in allen Fragen zu
beraten, die Anliegen des Volkes zu ihrer Kenntnis zu bringen — oder als
der eigentlichen Negierung, deren Beschlüsse die Behörden auszuführen haben,
also der Gegensatz zwischen Interessenvertretung und parlamentarischem Regiment,
heutzutage in der ganzen Welt zur Entscheidung drängt. Die seit der fran¬
zösischen Revolution herrschende Fiktion, daß der Wille und der Verstand des
Volkes ihren vollsten und reinsten Ausdruck in einer Versammlung finden müssen,
welche aus Wahlen nach der Kopfzahl hervorgegangen ist, wird gegenwärtig
gerade ihren Anhängern bedenklich. Sie können sich gegenüber neueren Vor¬
gängen nicht verhehlen, daß die große Mehrheit eigentlich selten uns ihrer Seite
steht, und daß dieselben Mittel, welche sie anzuwenden pflegen, gelegentlich von
andern Mächten, z. B. den Pfarrern und den Arbeiterführern, mit noch größeren
Erfolge angewandt werden. Mit den Redensarten von Beeinflussung der Wahlen
u. s. w. streuen sie höchstens noch sich selbst Sand in die Augen. In Belgien,
wie seit fünf Jahren in Österreich ist ihr System aä adsuräuiri geführt, auf
Grund der Kopfzahl haben dort ihre Gegner die Gewalt in die Hände bekommen
und machen von dieser den Gebrauch, den die Liberalen von ihr gemacht haben
und wieder machen möchten. Solange nicht ein politischer und religiöser Glaube
eine ganze Bevölkerung erfüllt, muß sich immer dasselbe Spiel wiederholen,
daß die siegende Partei die unterlegene auf jede Weise zu schwächen sucht, und
damit gewöhnlich das befördert, was sie verhindern möchte, ihren Sturz. Welcher
Segen es für ein Land ist, wenn so die Staatsgewalt zum Zankapfel und
Spielball der Parteien gemacht wird, das sehen die meisten wohl selbst ein,
helfen sich aber mit der Vorspiegelung, daß, wenn alles mit rechten Dingen
zugegangen wäre, sie obenauf sein müßten u. s. w. Gleichzeitig verraten sie
jedoch die Erkenntnis, daß die Völker sich mit politischen Schlagwörtern nicht
mehr satt machen lassen wollen, denn ganz in der Stille nehmen sie in ihre
Programme Forderungen auf, welche stark nach Interessenvertretung schmecken.

Daß es so kommen müsse, hat ein deutscher Staatsmann und Historiker,
Eduard von Wietersheim, vor fünfunddreißig Jahren vorausgesagt („Die Demo¬
kratie in Deutschland"). Damals konnte sein Wort kein Gehör finden, zuvor
mußten die Deutschen sich an dein langersehnten Genusse parlamentarischen
Lebens gütlich thun und den Magen verderben. Dazu ist die verstrichene Frist


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[0212] Interessenvertretung. wird und die Gelegenheit zu einem Plaidoyer giebt: Advokaten und Journalisten. Wem es um eine Sache selbst zu thun ist, der kann ja nicht so unbefangen sein wie jemand, dem es nur auf die Rede oder den Artikel über die Sache ankommt: das leuchtet doch ein. Wir glauben, daß der Gegensatz in der Auffassung des Zweckes einer Volks¬ vertretung als einer Versammlung von Männern, deren jeder irgendein Gebiet des öffentliche!, Lebens gründlich, aus praktischer Erfahrung kennt, die Bedürf¬ nisse auf diesem Gebiete zu beurteilen und zur Geltung zu bringen vermag, und die als Ganzes daher in der Lage ist, die Regierung in allen Fragen zu beraten, die Anliegen des Volkes zu ihrer Kenntnis zu bringen — oder als der eigentlichen Negierung, deren Beschlüsse die Behörden auszuführen haben, also der Gegensatz zwischen Interessenvertretung und parlamentarischem Regiment, heutzutage in der ganzen Welt zur Entscheidung drängt. Die seit der fran¬ zösischen Revolution herrschende Fiktion, daß der Wille und der Verstand des Volkes ihren vollsten und reinsten Ausdruck in einer Versammlung finden müssen, welche aus Wahlen nach der Kopfzahl hervorgegangen ist, wird gegenwärtig gerade ihren Anhängern bedenklich. Sie können sich gegenüber neueren Vor¬ gängen nicht verhehlen, daß die große Mehrheit eigentlich selten uns ihrer Seite steht, und daß dieselben Mittel, welche sie anzuwenden pflegen, gelegentlich von andern Mächten, z. B. den Pfarrern und den Arbeiterführern, mit noch größeren Erfolge angewandt werden. Mit den Redensarten von Beeinflussung der Wahlen u. s. w. streuen sie höchstens noch sich selbst Sand in die Augen. In Belgien, wie seit fünf Jahren in Österreich ist ihr System aä adsuräuiri geführt, auf Grund der Kopfzahl haben dort ihre Gegner die Gewalt in die Hände bekommen und machen von dieser den Gebrauch, den die Liberalen von ihr gemacht haben und wieder machen möchten. Solange nicht ein politischer und religiöser Glaube eine ganze Bevölkerung erfüllt, muß sich immer dasselbe Spiel wiederholen, daß die siegende Partei die unterlegene auf jede Weise zu schwächen sucht, und damit gewöhnlich das befördert, was sie verhindern möchte, ihren Sturz. Welcher Segen es für ein Land ist, wenn so die Staatsgewalt zum Zankapfel und Spielball der Parteien gemacht wird, das sehen die meisten wohl selbst ein, helfen sich aber mit der Vorspiegelung, daß, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, sie obenauf sein müßten u. s. w. Gleichzeitig verraten sie jedoch die Erkenntnis, daß die Völker sich mit politischen Schlagwörtern nicht mehr satt machen lassen wollen, denn ganz in der Stille nehmen sie in ihre Programme Forderungen auf, welche stark nach Interessenvertretung schmecken. Daß es so kommen müsse, hat ein deutscher Staatsmann und Historiker, Eduard von Wietersheim, vor fünfunddreißig Jahren vorausgesagt („Die Demo¬ kratie in Deutschland"). Damals konnte sein Wort kein Gehör finden, zuvor mußten die Deutschen sich an dein langersehnten Genusse parlamentarischen Lebens gütlich thun und den Magen verderben. Dazu ist die verstrichene Frist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/212>, abgerufen am 20.06.2024.