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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes^Brahms.

daß das Werk eine kleine Huldigung für die Stadt der Schubert und Strauß
bilden sollte. Der volkstümliche, naive Zug ist aber schon in den frühern Weckn
des Komponisten deutlich genug hervorgetreten. Zum praktischen Gebrauche sind diese
Walzer natürlich nicht bestimmt; der Meister hat einige rhythmische Fallen darin
versteckt. Außer diesen Walzern giebt es nur noch ein Klavierheft von Brechens,
das Kompositionen kleinerer Form enthält. Es sind die acht Stücke c>p. 76:
Capriccios und Intermezzi. Salvnmnsik, wie der Titel zu erlauben scheint,
wolle man darin nicht suchen -- überhaupt bei Brechens nicht. Wir zählen sie
aber zu den anmutigsten, sinnigsten Beiträgen des kleinen Genre in der Klavier¬
literatur. Sie gehören zu deu Bagatellen, denen das Motto: Lx uvZuö Isonsro
gebührt. Der Kaprizencharakter tritt uns selten so rein, so ursprünglich
und zugleich so anheimelnd entgegen wie hier. Ein Motiv vom Augenblick
gebracht, die Reminiscenz an ein eignes Lied, ein zufälliger Griff -- keine
Kleinigkeit ist für die Gestaltungskraft des großen Künstlers zu unbedeutend.
Wo er probirt, wo er anschlüge, springen Funken für Geist und Gemüt heraus.
Gerade an diesen anspruchslosen Vorwürfen, wo sich der Meister ausruhen
will, zeigt sich die Frische und der unerschöpfliche Reichtum seiner Erfindung,
die Tiefe und die Macht seiner außerordentlichen Organisation doppelt. Jedes
dieser Stücke ist wieder anders, jedes eine ganze, reizende und poetische Indi¬
vidualität. Freilich muß mau sie etwas in der Nähe betrachten. Sie sind eine
Art intimer Mitteilungen. Die zuletzt -- als ox. 79 -- veröffentlichten Kla¬
vierkompositionen von Brechens: zwei "Rhapsodien" (H-nioII und (Zi-moU) strömen
wieder den alten Balladengeist aus. Die zweite von ihnen klingt in einem ihrer
Motive direkt an Löwes "Archibald Douglas" an. Beide haben in ausgereif-
tester Form einen herb kräftigen Grundzug.

Die übrigen Klavierwerke des Komponisten bestehen aus vier Cyklen von
Variationen. Die Kunstform der Variation verdankt Brechens außerordentlich
viel. Er hat sehr viel dazu beigetragen, daß sie sich wieder fester einbürgert.
Seit seiner ersten Sonate pflegt er sie eifrig und verwendet sie für alle Gat¬
tungen der Instrumentalmusik. Besonders hervorzuheben ist, wieviel Brechens
für das geistige Wachstum dieser Form gethan hat. Was Schiller sagt: "Wer
etwas Treffliches leisten will -- hätt' gern was Großes geboren, der sammle
still und uuerschlafft am kleinsten Punkte die höchste Kraft" -- das gilt für
niemanden mehr als für den Komponisten, der Variationen schreiben will. Hier
ist für eine ernste, innigster Hingabe fähige Natur, für eine tiefe und geniale
Kunst das Gebiet, sich zu erproben. Brechens hat fast lauter Charaktervaria-
tionen geschrieben -- die Reize des Spiels und der kombinatorischen Kunst, so
reich er sie ausschüttet, erscheinen immer untergeordnet. Eine außerordentliche
Gabe besitzt er, die einzelnen Gebilde zu einem Ganzen abzurunden und uns
eine geistige Einheit derselben durchfühlen zu lassen. Voranzustellen sind in
dieser Beziehung die beiden Hefte Variationen in ox. 9 nud ox. 23. Mag sein,


Johannes^Brahms.

daß das Werk eine kleine Huldigung für die Stadt der Schubert und Strauß
bilden sollte. Der volkstümliche, naive Zug ist aber schon in den frühern Weckn
des Komponisten deutlich genug hervorgetreten. Zum praktischen Gebrauche sind diese
Walzer natürlich nicht bestimmt; der Meister hat einige rhythmische Fallen darin
versteckt. Außer diesen Walzern giebt es nur noch ein Klavierheft von Brechens,
das Kompositionen kleinerer Form enthält. Es sind die acht Stücke c>p. 76:
Capriccios und Intermezzi. Salvnmnsik, wie der Titel zu erlauben scheint,
wolle man darin nicht suchen — überhaupt bei Brechens nicht. Wir zählen sie
aber zu den anmutigsten, sinnigsten Beiträgen des kleinen Genre in der Klavier¬
literatur. Sie gehören zu deu Bagatellen, denen das Motto: Lx uvZuö Isonsro
gebührt. Der Kaprizencharakter tritt uns selten so rein, so ursprünglich
und zugleich so anheimelnd entgegen wie hier. Ein Motiv vom Augenblick
gebracht, die Reminiscenz an ein eignes Lied, ein zufälliger Griff — keine
Kleinigkeit ist für die Gestaltungskraft des großen Künstlers zu unbedeutend.
Wo er probirt, wo er anschlüge, springen Funken für Geist und Gemüt heraus.
Gerade an diesen anspruchslosen Vorwürfen, wo sich der Meister ausruhen
will, zeigt sich die Frische und der unerschöpfliche Reichtum seiner Erfindung,
die Tiefe und die Macht seiner außerordentlichen Organisation doppelt. Jedes
dieser Stücke ist wieder anders, jedes eine ganze, reizende und poetische Indi¬
vidualität. Freilich muß mau sie etwas in der Nähe betrachten. Sie sind eine
Art intimer Mitteilungen. Die zuletzt — als ox. 79 — veröffentlichten Kla¬
vierkompositionen von Brechens: zwei „Rhapsodien" (H-nioII und (Zi-moU) strömen
wieder den alten Balladengeist aus. Die zweite von ihnen klingt in einem ihrer
Motive direkt an Löwes „Archibald Douglas" an. Beide haben in ausgereif-
tester Form einen herb kräftigen Grundzug.

Die übrigen Klavierwerke des Komponisten bestehen aus vier Cyklen von
Variationen. Die Kunstform der Variation verdankt Brechens außerordentlich
viel. Er hat sehr viel dazu beigetragen, daß sie sich wieder fester einbürgert.
Seit seiner ersten Sonate pflegt er sie eifrig und verwendet sie für alle Gat¬
tungen der Instrumentalmusik. Besonders hervorzuheben ist, wieviel Brechens
für das geistige Wachstum dieser Form gethan hat. Was Schiller sagt: „Wer
etwas Treffliches leisten will — hätt' gern was Großes geboren, der sammle
still und uuerschlafft am kleinsten Punkte die höchste Kraft" — das gilt für
niemanden mehr als für den Komponisten, der Variationen schreiben will. Hier
ist für eine ernste, innigster Hingabe fähige Natur, für eine tiefe und geniale
Kunst das Gebiet, sich zu erproben. Brechens hat fast lauter Charaktervaria-
tionen geschrieben — die Reize des Spiels und der kombinatorischen Kunst, so
reich er sie ausschüttet, erscheinen immer untergeordnet. Eine außerordentliche
Gabe besitzt er, die einzelnen Gebilde zu einem Ganzen abzurunden und uns
eine geistige Einheit derselben durchfühlen zu lassen. Voranzustellen sind in
dieser Beziehung die beiden Hefte Variationen in ox. 9 nud ox. 23. Mag sein,


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[0178] Johannes^Brahms. daß das Werk eine kleine Huldigung für die Stadt der Schubert und Strauß bilden sollte. Der volkstümliche, naive Zug ist aber schon in den frühern Weckn des Komponisten deutlich genug hervorgetreten. Zum praktischen Gebrauche sind diese Walzer natürlich nicht bestimmt; der Meister hat einige rhythmische Fallen darin versteckt. Außer diesen Walzern giebt es nur noch ein Klavierheft von Brechens, das Kompositionen kleinerer Form enthält. Es sind die acht Stücke c>p. 76: Capriccios und Intermezzi. Salvnmnsik, wie der Titel zu erlauben scheint, wolle man darin nicht suchen — überhaupt bei Brechens nicht. Wir zählen sie aber zu den anmutigsten, sinnigsten Beiträgen des kleinen Genre in der Klavier¬ literatur. Sie gehören zu deu Bagatellen, denen das Motto: Lx uvZuö Isonsro gebührt. Der Kaprizencharakter tritt uns selten so rein, so ursprünglich und zugleich so anheimelnd entgegen wie hier. Ein Motiv vom Augenblick gebracht, die Reminiscenz an ein eignes Lied, ein zufälliger Griff — keine Kleinigkeit ist für die Gestaltungskraft des großen Künstlers zu unbedeutend. Wo er probirt, wo er anschlüge, springen Funken für Geist und Gemüt heraus. Gerade an diesen anspruchslosen Vorwürfen, wo sich der Meister ausruhen will, zeigt sich die Frische und der unerschöpfliche Reichtum seiner Erfindung, die Tiefe und die Macht seiner außerordentlichen Organisation doppelt. Jedes dieser Stücke ist wieder anders, jedes eine ganze, reizende und poetische Indi¬ vidualität. Freilich muß mau sie etwas in der Nähe betrachten. Sie sind eine Art intimer Mitteilungen. Die zuletzt — als ox. 79 — veröffentlichten Kla¬ vierkompositionen von Brechens: zwei „Rhapsodien" (H-nioII und (Zi-moU) strömen wieder den alten Balladengeist aus. Die zweite von ihnen klingt in einem ihrer Motive direkt an Löwes „Archibald Douglas" an. Beide haben in ausgereif- tester Form einen herb kräftigen Grundzug. Die übrigen Klavierwerke des Komponisten bestehen aus vier Cyklen von Variationen. Die Kunstform der Variation verdankt Brechens außerordentlich viel. Er hat sehr viel dazu beigetragen, daß sie sich wieder fester einbürgert. Seit seiner ersten Sonate pflegt er sie eifrig und verwendet sie für alle Gat¬ tungen der Instrumentalmusik. Besonders hervorzuheben ist, wieviel Brechens für das geistige Wachstum dieser Form gethan hat. Was Schiller sagt: „Wer etwas Treffliches leisten will — hätt' gern was Großes geboren, der sammle still und uuerschlafft am kleinsten Punkte die höchste Kraft" — das gilt für niemanden mehr als für den Komponisten, der Variationen schreiben will. Hier ist für eine ernste, innigster Hingabe fähige Natur, für eine tiefe und geniale Kunst das Gebiet, sich zu erproben. Brechens hat fast lauter Charaktervaria- tionen geschrieben — die Reize des Spiels und der kombinatorischen Kunst, so reich er sie ausschüttet, erscheinen immer untergeordnet. Eine außerordentliche Gabe besitzt er, die einzelnen Gebilde zu einem Ganzen abzurunden und uns eine geistige Einheit derselben durchfühlen zu lassen. Voranzustellen sind in dieser Beziehung die beiden Hefte Variationen in ox. 9 nud ox. 23. Mag sein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/178>, abgerufen am 21.06.2024.