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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Herrn von Hartmanns neueste philosophische Etappe.

Weltprozeß längst schon durch sein Unbewußtes geregelt, d. h. gänzlich verpfuscht,
ohne daß dabei an das alte Ammenmärchen Vernunft zu denken gewesen wäre?
Wo ist denn bei Herrn v. Hartmann jetzt das Unbewußte geblieben, mit welchem
er zuerst Aufsehen gemacht, ohne welches alle seine spätern Phrasendreschereien
über "Phcinomenologie des sittlichen Bewußtseins" u. s. w. völlig unbeachtet
geblieben sein würden? Daß der nichtsnutzige Weltprozeß unter der Herrschaft
des blöden "Unbewußten" steht, das war ja die Behauptung, die zuerst den
deutschen Bildungsphilister in einige Bewegung versetzte, und nun sind wir von
diesem neu entdeckten großen "Unbewußten" auf die alte erbärmliche Vernunft
zurückgeschleudert? Die Bezeichnung "das Unbewußte" kommt in dem doch
sonst von leeren Phrasen strotzenden Aufsatze auch nicht einmal mehr vor.
Trau schau wem.

Gegenüber der grenzenlosen Mißachtung der Geschichte bei Schopenhauer
darf Hartmann ferner stolz einen neuen "Ismus" vorführen, nämlich seinen "Hi¬
storismus", der "das Heil nur in der providentiell geleiteten Entwicklung des
Ganzen" sieht. Einst sah unser Philosoph nur Unheil und wollte die Welt
durch kosmische universale Willensverneinung vernichten; wo mag er nur das
"Heil" auf einmal herbekommen haben? Erst sah er nur das Unbewußte blind,
taub und toll; jetzt, nachdem das lere Stroh nach allen Seiten hin gedroschen
ist, hat er wieder vor sich Providenz, Vorsehung, welche die Entwicklung des
Ganzen leitet. Sehr seltsam für ihn; unser Zeitalter aber braucht wahrhaftig
Herrn v. Hartmann als Lehrer des Glaubens an Vorsehung nicht; wenn er seinen
eignen irrlichtelirenden Kopf einfach unter deu Glauben an die Vorsehung hätte
beugen wollen, so hätte er andrer Leute Köpfe nie durch sein "Unbewußtes"
stutzig zu machen brauchen.

Was weiter den "ästhetischen Idealismus" anlangt, so stellt sich Hartmann
näher an Hegel als an Schelling und Schopenhauer. Merkt es euch, ihr Ge¬
schichtschreiber, er muß doch selbst am besten wissen, wo er steht.

Doch das bisher Dargebotene enthält nur die Differenzen zwischen Hart¬
mann und Schopenhauer in Bezug auf die theoretische Philosophie; die Diffe¬
renzen in bezug auf die praktische sind noch weit, weit größer.

Schopenhauers Quietismus, Epikureismus, sein schöngeistiges Schmarotzer¬
leben, wobei es nur "Abwehr des Unrechts gegen andre" giebt, samt seiner
Askese erscheint Herrn von Hartmann prinzipiell unsittlich. Bei ihm wird "das
monistische Moralprinzip -- schon wieder die verflixte Phrase vom "Monismus" --
in das religiöse der Wesenseiuheit mit Gott und mit diesem in das Moral-
Prinzip der absoluten Teleologie aufgehoben." Statt Flucht vor dem Leben
lehrt er "hingebungsvolles Wirken des Einzelnen an den Prozeß des Ganzen."
Und so hätten wir denn mit der Vorsehung wirklich auch den alten Gott wieder,
M dem der Mensch in "religiöses Verhältnis" treten soll, wenn auch Herr
von Hartmann, hier Hand in Hand mit seinem erkenntnis-theoretischen "An-


Herrn von Hartmanns neueste philosophische Etappe.

Weltprozeß längst schon durch sein Unbewußtes geregelt, d. h. gänzlich verpfuscht,
ohne daß dabei an das alte Ammenmärchen Vernunft zu denken gewesen wäre?
Wo ist denn bei Herrn v. Hartmann jetzt das Unbewußte geblieben, mit welchem
er zuerst Aufsehen gemacht, ohne welches alle seine spätern Phrasendreschereien
über „Phcinomenologie des sittlichen Bewußtseins" u. s. w. völlig unbeachtet
geblieben sein würden? Daß der nichtsnutzige Weltprozeß unter der Herrschaft
des blöden „Unbewußten" steht, das war ja die Behauptung, die zuerst den
deutschen Bildungsphilister in einige Bewegung versetzte, und nun sind wir von
diesem neu entdeckten großen „Unbewußten" auf die alte erbärmliche Vernunft
zurückgeschleudert? Die Bezeichnung „das Unbewußte" kommt in dem doch
sonst von leeren Phrasen strotzenden Aufsatze auch nicht einmal mehr vor.
Trau schau wem.

Gegenüber der grenzenlosen Mißachtung der Geschichte bei Schopenhauer
darf Hartmann ferner stolz einen neuen „Ismus" vorführen, nämlich seinen „Hi¬
storismus", der „das Heil nur in der providentiell geleiteten Entwicklung des
Ganzen" sieht. Einst sah unser Philosoph nur Unheil und wollte die Welt
durch kosmische universale Willensverneinung vernichten; wo mag er nur das
„Heil" auf einmal herbekommen haben? Erst sah er nur das Unbewußte blind,
taub und toll; jetzt, nachdem das lere Stroh nach allen Seiten hin gedroschen
ist, hat er wieder vor sich Providenz, Vorsehung, welche die Entwicklung des
Ganzen leitet. Sehr seltsam für ihn; unser Zeitalter aber braucht wahrhaftig
Herrn v. Hartmann als Lehrer des Glaubens an Vorsehung nicht; wenn er seinen
eignen irrlichtelirenden Kopf einfach unter deu Glauben an die Vorsehung hätte
beugen wollen, so hätte er andrer Leute Köpfe nie durch sein „Unbewußtes"
stutzig zu machen brauchen.

Was weiter den „ästhetischen Idealismus" anlangt, so stellt sich Hartmann
näher an Hegel als an Schelling und Schopenhauer. Merkt es euch, ihr Ge¬
schichtschreiber, er muß doch selbst am besten wissen, wo er steht.

Doch das bisher Dargebotene enthält nur die Differenzen zwischen Hart¬
mann und Schopenhauer in Bezug auf die theoretische Philosophie; die Diffe¬
renzen in bezug auf die praktische sind noch weit, weit größer.

Schopenhauers Quietismus, Epikureismus, sein schöngeistiges Schmarotzer¬
leben, wobei es nur „Abwehr des Unrechts gegen andre" giebt, samt seiner
Askese erscheint Herrn von Hartmann prinzipiell unsittlich. Bei ihm wird „das
monistische Moralprinzip — schon wieder die verflixte Phrase vom „Monismus" —
in das religiöse der Wesenseiuheit mit Gott und mit diesem in das Moral-
Prinzip der absoluten Teleologie aufgehoben." Statt Flucht vor dem Leben
lehrt er „hingebungsvolles Wirken des Einzelnen an den Prozeß des Ganzen."
Und so hätten wir denn mit der Vorsehung wirklich auch den alten Gott wieder,
M dem der Mensch in „religiöses Verhältnis" treten soll, wenn auch Herr
von Hartmann, hier Hand in Hand mit seinem erkenntnis-theoretischen „An-


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[0143] Herrn von Hartmanns neueste philosophische Etappe. Weltprozeß längst schon durch sein Unbewußtes geregelt, d. h. gänzlich verpfuscht, ohne daß dabei an das alte Ammenmärchen Vernunft zu denken gewesen wäre? Wo ist denn bei Herrn v. Hartmann jetzt das Unbewußte geblieben, mit welchem er zuerst Aufsehen gemacht, ohne welches alle seine spätern Phrasendreschereien über „Phcinomenologie des sittlichen Bewußtseins" u. s. w. völlig unbeachtet geblieben sein würden? Daß der nichtsnutzige Weltprozeß unter der Herrschaft des blöden „Unbewußten" steht, das war ja die Behauptung, die zuerst den deutschen Bildungsphilister in einige Bewegung versetzte, und nun sind wir von diesem neu entdeckten großen „Unbewußten" auf die alte erbärmliche Vernunft zurückgeschleudert? Die Bezeichnung „das Unbewußte" kommt in dem doch sonst von leeren Phrasen strotzenden Aufsatze auch nicht einmal mehr vor. Trau schau wem. Gegenüber der grenzenlosen Mißachtung der Geschichte bei Schopenhauer darf Hartmann ferner stolz einen neuen „Ismus" vorführen, nämlich seinen „Hi¬ storismus", der „das Heil nur in der providentiell geleiteten Entwicklung des Ganzen" sieht. Einst sah unser Philosoph nur Unheil und wollte die Welt durch kosmische universale Willensverneinung vernichten; wo mag er nur das „Heil" auf einmal herbekommen haben? Erst sah er nur das Unbewußte blind, taub und toll; jetzt, nachdem das lere Stroh nach allen Seiten hin gedroschen ist, hat er wieder vor sich Providenz, Vorsehung, welche die Entwicklung des Ganzen leitet. Sehr seltsam für ihn; unser Zeitalter aber braucht wahrhaftig Herrn v. Hartmann als Lehrer des Glaubens an Vorsehung nicht; wenn er seinen eignen irrlichtelirenden Kopf einfach unter deu Glauben an die Vorsehung hätte beugen wollen, so hätte er andrer Leute Köpfe nie durch sein „Unbewußtes" stutzig zu machen brauchen. Was weiter den „ästhetischen Idealismus" anlangt, so stellt sich Hartmann näher an Hegel als an Schelling und Schopenhauer. Merkt es euch, ihr Ge¬ schichtschreiber, er muß doch selbst am besten wissen, wo er steht. Doch das bisher Dargebotene enthält nur die Differenzen zwischen Hart¬ mann und Schopenhauer in Bezug auf die theoretische Philosophie; die Diffe¬ renzen in bezug auf die praktische sind noch weit, weit größer. Schopenhauers Quietismus, Epikureismus, sein schöngeistiges Schmarotzer¬ leben, wobei es nur „Abwehr des Unrechts gegen andre" giebt, samt seiner Askese erscheint Herrn von Hartmann prinzipiell unsittlich. Bei ihm wird „das monistische Moralprinzip — schon wieder die verflixte Phrase vom „Monismus" — in das religiöse der Wesenseiuheit mit Gott und mit diesem in das Moral- Prinzip der absoluten Teleologie aufgehoben." Statt Flucht vor dem Leben lehrt er „hingebungsvolles Wirken des Einzelnen an den Prozeß des Ganzen." Und so hätten wir denn mit der Vorsehung wirklich auch den alten Gott wieder, M dem der Mensch in „religiöses Verhältnis" treten soll, wenn auch Herr von Hartmann, hier Hand in Hand mit seinem erkenntnis-theoretischen „An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/143>, abgerufen am 10.11.2024.