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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Ein Franzose über Rußland und die Russen.

und der Birke mit ihrer weißen Rinde ins Auge. .. Die Felder bieten in ihrem
Aussehen noch weniger Wechsel als die Wälder. Der Boden erhält hier dnrch
die Menschenhand uicht das Leben und die Mannichfaltigkeit, die sie ihm anderwärts
mitunter verleiht... Es ist, als ob sich dasselbe Feld ins Unendliche ausdehnte,
unterbrochen allein von weiten Bracher. Nirgends ein einzelnes Haus, ein ein¬
samer Bauernhof. In der Steppe wie in der Region der Wälder fürchtet der
Nüsse, wie es scheint, im Grenzenlosen, das ihn umgiebt, allein zu sein.

Daher, so schließt der Verfasser, die Vorliebe des Russen für den Ge¬
meinbesitz , die Ackergemeinschaft und das Artellwesen, das man oft auf Rechnung
des slavischen Blutes geschrieben hat. Die letztere Ansicht ist sicher unrichtig,
aber auch Leroy-Beaulieus Erklärung trifft in ihrer Beschränkung auf die Russen
nicht zu, da wenigstens die Ackergemeinschaft bis in unser Jahrhundert hinein
auch im größten Teile Deutschlands in ähnlicher Weise bestand.

Aus denselben Wurzeln ist eine Neigung nach entgegengesetzter Richtung
hervorgegangen: die Sucht uach Abenteuern, nach Reisen, nach Umherschweifen,
der "Nomadentrieb" des Russen. Daß der Bauer die Landarbeit so wenig liebt,
so geringe Anhänglichkeit an den undankbaren und traurigen Boden des alten
Moskowicns empfindet, erklärt sich leicht, doch müssen hierfür zum guten Teile auch
die Institutionen, die frühere Leibeigenschaft und die Form des Grundbesitzes
verantwortlich gemacht werden.

Daneben ist aber doch, wie vom Verfasser auch geschieht, darauf hinzu¬
weisen, daß der großrussische Bauer sein Haus aus Holz zu bauen pflegt, daß
dasselbe infolge dessen häufig abbrennt, und daß er sich leicht ein andres zurecht¬
zimmern kann. Eine Wohnung, die jeden Tag in Feuer aufgehen kann, gewährt
wenig Behagen und erweckt geringe Anhänglichkeit. Man sinnt nicht darauf,
sie zu verbessern und zu schmücken, und man denkt nicht daran, sein Herz an
sie und die Scholle zu hängen, auf der sie steht.

Am Schlüsse des hier im wesentlichen wiedergegebenen Kapitels will der
Verfasser auch noch den Vorwurf, daß es den Russen an Individualität, an
Originalität und an schöpferischer Kraft mangle, mit der Flachheit des Bodens
und der Schwächlichkeit der Natur entkräften. Zwar besinnt er sich und meint,
auch die Geschichte und der Umstand, daß die Zivilisation hier solange zurück¬
gehalten worden sei, würden die Mitschuld tragen; aber er bleibt doch dabei,
daß in erster Linie die Natur deshalb verantwortlich zu machen sei, und mit
dieser Behauptung hat er offenbar Unrecht. Das Umgekehrte ist richtig: in
erster Reihe erklärt sich dieser Mangel aus der Geschichte des russischen Volkes,
und diese ist wieder zum guten Teile mit dessen ursprünglicher Anlage zu er¬
klären. Germanen würden auf russischem Boden vermutlich nicht das geworden
sein, was sie in ihren Sitzen geworden sind, aber immerhin mehr Individualität
und Schöpferkraft gezeigt haben als jene östlichen Slaven.

Sehr anmutig ist die Schilderung, die der Verfasser im nächsten Abschnitte
von den Jahreszeiten Rußlands giebt, und auch darin kann man ihm wohl


Ein Franzose über Rußland und die Russen.

und der Birke mit ihrer weißen Rinde ins Auge. .. Die Felder bieten in ihrem
Aussehen noch weniger Wechsel als die Wälder. Der Boden erhält hier dnrch
die Menschenhand uicht das Leben und die Mannichfaltigkeit, die sie ihm anderwärts
mitunter verleiht... Es ist, als ob sich dasselbe Feld ins Unendliche ausdehnte,
unterbrochen allein von weiten Bracher. Nirgends ein einzelnes Haus, ein ein¬
samer Bauernhof. In der Steppe wie in der Region der Wälder fürchtet der
Nüsse, wie es scheint, im Grenzenlosen, das ihn umgiebt, allein zu sein.

Daher, so schließt der Verfasser, die Vorliebe des Russen für den Ge¬
meinbesitz , die Ackergemeinschaft und das Artellwesen, das man oft auf Rechnung
des slavischen Blutes geschrieben hat. Die letztere Ansicht ist sicher unrichtig,
aber auch Leroy-Beaulieus Erklärung trifft in ihrer Beschränkung auf die Russen
nicht zu, da wenigstens die Ackergemeinschaft bis in unser Jahrhundert hinein
auch im größten Teile Deutschlands in ähnlicher Weise bestand.

Aus denselben Wurzeln ist eine Neigung nach entgegengesetzter Richtung
hervorgegangen: die Sucht uach Abenteuern, nach Reisen, nach Umherschweifen,
der „Nomadentrieb" des Russen. Daß der Bauer die Landarbeit so wenig liebt,
so geringe Anhänglichkeit an den undankbaren und traurigen Boden des alten
Moskowicns empfindet, erklärt sich leicht, doch müssen hierfür zum guten Teile auch
die Institutionen, die frühere Leibeigenschaft und die Form des Grundbesitzes
verantwortlich gemacht werden.

Daneben ist aber doch, wie vom Verfasser auch geschieht, darauf hinzu¬
weisen, daß der großrussische Bauer sein Haus aus Holz zu bauen pflegt, daß
dasselbe infolge dessen häufig abbrennt, und daß er sich leicht ein andres zurecht¬
zimmern kann. Eine Wohnung, die jeden Tag in Feuer aufgehen kann, gewährt
wenig Behagen und erweckt geringe Anhänglichkeit. Man sinnt nicht darauf,
sie zu verbessern und zu schmücken, und man denkt nicht daran, sein Herz an
sie und die Scholle zu hängen, auf der sie steht.

Am Schlüsse des hier im wesentlichen wiedergegebenen Kapitels will der
Verfasser auch noch den Vorwurf, daß es den Russen an Individualität, an
Originalität und an schöpferischer Kraft mangle, mit der Flachheit des Bodens
und der Schwächlichkeit der Natur entkräften. Zwar besinnt er sich und meint,
auch die Geschichte und der Umstand, daß die Zivilisation hier solange zurück¬
gehalten worden sei, würden die Mitschuld tragen; aber er bleibt doch dabei,
daß in erster Linie die Natur deshalb verantwortlich zu machen sei, und mit
dieser Behauptung hat er offenbar Unrecht. Das Umgekehrte ist richtig: in
erster Reihe erklärt sich dieser Mangel aus der Geschichte des russischen Volkes,
und diese ist wieder zum guten Teile mit dessen ursprünglicher Anlage zu er¬
klären. Germanen würden auf russischem Boden vermutlich nicht das geworden
sein, was sie in ihren Sitzen geworden sind, aber immerhin mehr Individualität
und Schöpferkraft gezeigt haben als jene östlichen Slaven.

Sehr anmutig ist die Schilderung, die der Verfasser im nächsten Abschnitte
von den Jahreszeiten Rußlands giebt, und auch darin kann man ihm wohl


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[0127] Ein Franzose über Rußland und die Russen. und der Birke mit ihrer weißen Rinde ins Auge. .. Die Felder bieten in ihrem Aussehen noch weniger Wechsel als die Wälder. Der Boden erhält hier dnrch die Menschenhand uicht das Leben und die Mannichfaltigkeit, die sie ihm anderwärts mitunter verleiht... Es ist, als ob sich dasselbe Feld ins Unendliche ausdehnte, unterbrochen allein von weiten Bracher. Nirgends ein einzelnes Haus, ein ein¬ samer Bauernhof. In der Steppe wie in der Region der Wälder fürchtet der Nüsse, wie es scheint, im Grenzenlosen, das ihn umgiebt, allein zu sein. Daher, so schließt der Verfasser, die Vorliebe des Russen für den Ge¬ meinbesitz , die Ackergemeinschaft und das Artellwesen, das man oft auf Rechnung des slavischen Blutes geschrieben hat. Die letztere Ansicht ist sicher unrichtig, aber auch Leroy-Beaulieus Erklärung trifft in ihrer Beschränkung auf die Russen nicht zu, da wenigstens die Ackergemeinschaft bis in unser Jahrhundert hinein auch im größten Teile Deutschlands in ähnlicher Weise bestand. Aus denselben Wurzeln ist eine Neigung nach entgegengesetzter Richtung hervorgegangen: die Sucht uach Abenteuern, nach Reisen, nach Umherschweifen, der „Nomadentrieb" des Russen. Daß der Bauer die Landarbeit so wenig liebt, so geringe Anhänglichkeit an den undankbaren und traurigen Boden des alten Moskowicns empfindet, erklärt sich leicht, doch müssen hierfür zum guten Teile auch die Institutionen, die frühere Leibeigenschaft und die Form des Grundbesitzes verantwortlich gemacht werden. Daneben ist aber doch, wie vom Verfasser auch geschieht, darauf hinzu¬ weisen, daß der großrussische Bauer sein Haus aus Holz zu bauen pflegt, daß dasselbe infolge dessen häufig abbrennt, und daß er sich leicht ein andres zurecht¬ zimmern kann. Eine Wohnung, die jeden Tag in Feuer aufgehen kann, gewährt wenig Behagen und erweckt geringe Anhänglichkeit. Man sinnt nicht darauf, sie zu verbessern und zu schmücken, und man denkt nicht daran, sein Herz an sie und die Scholle zu hängen, auf der sie steht. Am Schlüsse des hier im wesentlichen wiedergegebenen Kapitels will der Verfasser auch noch den Vorwurf, daß es den Russen an Individualität, an Originalität und an schöpferischer Kraft mangle, mit der Flachheit des Bodens und der Schwächlichkeit der Natur entkräften. Zwar besinnt er sich und meint, auch die Geschichte und der Umstand, daß die Zivilisation hier solange zurück¬ gehalten worden sei, würden die Mitschuld tragen; aber er bleibt doch dabei, daß in erster Linie die Natur deshalb verantwortlich zu machen sei, und mit dieser Behauptung hat er offenbar Unrecht. Das Umgekehrte ist richtig: in erster Reihe erklärt sich dieser Mangel aus der Geschichte des russischen Volkes, und diese ist wieder zum guten Teile mit dessen ursprünglicher Anlage zu er¬ klären. Germanen würden auf russischem Boden vermutlich nicht das geworden sein, was sie in ihren Sitzen geworden sind, aber immerhin mehr Individualität und Schöpferkraft gezeigt haben als jene östlichen Slaven. Sehr anmutig ist die Schilderung, die der Verfasser im nächsten Abschnitte von den Jahreszeiten Rußlands giebt, und auch darin kann man ihm wohl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/127>, abgerufen am 20.06.2024.