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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Laufe.

"Ich Werde sorgen, daß die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas
denken lassen; bei dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag
mir die neue Theorie des epischen Gedichtes zu statten kommen."

Wenn der Dichter hier sagt, das Ganze werde immer ein Fragment bleiben,
so hat er sich offenbar dabei gedacht, was alle Äußerungen dieses Briefwechsels
bestätigen: die Ausführung wird andeutend, aber nicht erschöpfend ausfallen.
Fünf Tage vor dem angeführten Briefe hatte er an Schiller geschrieben, er
wolle die Ausführung des Planes, der eigentlich nur eine Idee sei, näher vor-
bereiten, indem er das Gedruckte -- in dem Fragment von 1790 -- wieder
auflöse und mit dem außerdem Fertigen oder Erfundenen in großen Massen
disponire. Den Ausdruck "nur eine Idee" werden wir zu erläutern haben,
wenn wir an die Umbildung des Gedichtes kommen. Hier an dieser Stelle
kommt es uns nur darauf an, den fragmentarischen Charakter der Teile, der
das Ganze nicht in dem Sinne zum Fragment macht, daß die Idee nicht in
ihrer ganzen Entwicklung angedeutet sei, sondern nur in dem Sinne, daß die
Momente der Idee eben nur angedeutet und nicht ausgestaltet sind -- es kommt
uns darauf an, diesen fragmentarischen Charakter für die erste Faustgestaltung
als eine nur äußere, die plastische Vollständigkeit nicht ausschließende Eigen¬
schaft zu erklären, für die spätere Gestaltung aber als eine zugleich pragmatische
und plastische UnVollständigkeit. Ich meine also, in dem späteren Gedicht fehlt
mit dem äußeren Pragmatismus der Handlung auch die innere Stetigkeit der
Handlung, während diese Stetigkeit den ersten Entwurf in vollkommener Weise
durchdrang.




Der erste Faust begann, wie das Fragment von 1790, mit dem mitter¬
nächtigen Monolog in Fausts Studirzimmer. Der Monolog, die Geistercr-
scheinungen, das Gespräch mit Wagner decken sich mit den Szenen des jetzigen
Faust bis zu den vier Zeilen einschließlich nach Wagners Abgang, mit welchen
diese Szene auch im Fragment von 1790 schließt. Während nun in dem jetzigen
Faust nach diesen Zeilen Faust der Störung Wagners dankt, daß sie ihn von
der Verzweiflung losgerissen habe, muß in der ersten Gestalt Faust sich von
den Schrecken über die erste Erscheinung des Erdgeistes zu einem neuen, noch
leidenschaftlicheren Flehen an den Geist aufgerafft haben, ihm nochmals zu er¬
scheine". Die zweite Erscheinung erfolgt, und Faust hält diesmal ihrem Eindrnck
stand ohne erheuchelten Trotz, er verlangt, wie es jetzt in dem weit später
gedichteten Schluß des ersten Monologs heißt, "durch die Adern der Natur
zu fließen und schaffend Götterlebcn zu genießen." Der Geist weist ihn darauf
hin, daß dies nichts andres heiße, als den sterblichen Geist mit dem unendlichen
Geist vertauschen, der nur Einer sein kann. Faust verlangt darauf, wenn nicht
die Unendlichkeit, doch einen erhöhte" Anteil an den Lebenskräften, er will einen


Die Entstehung des Laufe.

„Ich Werde sorgen, daß die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas
denken lassen; bei dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag
mir die neue Theorie des epischen Gedichtes zu statten kommen."

Wenn der Dichter hier sagt, das Ganze werde immer ein Fragment bleiben,
so hat er sich offenbar dabei gedacht, was alle Äußerungen dieses Briefwechsels
bestätigen: die Ausführung wird andeutend, aber nicht erschöpfend ausfallen.
Fünf Tage vor dem angeführten Briefe hatte er an Schiller geschrieben, er
wolle die Ausführung des Planes, der eigentlich nur eine Idee sei, näher vor-
bereiten, indem er das Gedruckte — in dem Fragment von 1790 — wieder
auflöse und mit dem außerdem Fertigen oder Erfundenen in großen Massen
disponire. Den Ausdruck „nur eine Idee" werden wir zu erläutern haben,
wenn wir an die Umbildung des Gedichtes kommen. Hier an dieser Stelle
kommt es uns nur darauf an, den fragmentarischen Charakter der Teile, der
das Ganze nicht in dem Sinne zum Fragment macht, daß die Idee nicht in
ihrer ganzen Entwicklung angedeutet sei, sondern nur in dem Sinne, daß die
Momente der Idee eben nur angedeutet und nicht ausgestaltet sind — es kommt
uns darauf an, diesen fragmentarischen Charakter für die erste Faustgestaltung
als eine nur äußere, die plastische Vollständigkeit nicht ausschließende Eigen¬
schaft zu erklären, für die spätere Gestaltung aber als eine zugleich pragmatische
und plastische UnVollständigkeit. Ich meine also, in dem späteren Gedicht fehlt
mit dem äußeren Pragmatismus der Handlung auch die innere Stetigkeit der
Handlung, während diese Stetigkeit den ersten Entwurf in vollkommener Weise
durchdrang.




Der erste Faust begann, wie das Fragment von 1790, mit dem mitter¬
nächtigen Monolog in Fausts Studirzimmer. Der Monolog, die Geistercr-
scheinungen, das Gespräch mit Wagner decken sich mit den Szenen des jetzigen
Faust bis zu den vier Zeilen einschließlich nach Wagners Abgang, mit welchen
diese Szene auch im Fragment von 1790 schließt. Während nun in dem jetzigen
Faust nach diesen Zeilen Faust der Störung Wagners dankt, daß sie ihn von
der Verzweiflung losgerissen habe, muß in der ersten Gestalt Faust sich von
den Schrecken über die erste Erscheinung des Erdgeistes zu einem neuen, noch
leidenschaftlicheren Flehen an den Geist aufgerafft haben, ihm nochmals zu er¬
scheine». Die zweite Erscheinung erfolgt, und Faust hält diesmal ihrem Eindrnck
stand ohne erheuchelten Trotz, er verlangt, wie es jetzt in dem weit später
gedichteten Schluß des ersten Monologs heißt, „durch die Adern der Natur
zu fließen und schaffend Götterlebcn zu genießen." Der Geist weist ihn darauf
hin, daß dies nichts andres heiße, als den sterblichen Geist mit dem unendlichen
Geist vertauschen, der nur Einer sein kann. Faust verlangt darauf, wenn nicht
die Unendlichkeit, doch einen erhöhte« Anteil an den Lebenskräften, er will einen


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[0670] Die Entstehung des Laufe. „Ich Werde sorgen, daß die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas denken lassen; bei dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird, mag mir die neue Theorie des epischen Gedichtes zu statten kommen." Wenn der Dichter hier sagt, das Ganze werde immer ein Fragment bleiben, so hat er sich offenbar dabei gedacht, was alle Äußerungen dieses Briefwechsels bestätigen: die Ausführung wird andeutend, aber nicht erschöpfend ausfallen. Fünf Tage vor dem angeführten Briefe hatte er an Schiller geschrieben, er wolle die Ausführung des Planes, der eigentlich nur eine Idee sei, näher vor- bereiten, indem er das Gedruckte — in dem Fragment von 1790 — wieder auflöse und mit dem außerdem Fertigen oder Erfundenen in großen Massen disponire. Den Ausdruck „nur eine Idee" werden wir zu erläutern haben, wenn wir an die Umbildung des Gedichtes kommen. Hier an dieser Stelle kommt es uns nur darauf an, den fragmentarischen Charakter der Teile, der das Ganze nicht in dem Sinne zum Fragment macht, daß die Idee nicht in ihrer ganzen Entwicklung angedeutet sei, sondern nur in dem Sinne, daß die Momente der Idee eben nur angedeutet und nicht ausgestaltet sind — es kommt uns darauf an, diesen fragmentarischen Charakter für die erste Faustgestaltung als eine nur äußere, die plastische Vollständigkeit nicht ausschließende Eigen¬ schaft zu erklären, für die spätere Gestaltung aber als eine zugleich pragmatische und plastische UnVollständigkeit. Ich meine also, in dem späteren Gedicht fehlt mit dem äußeren Pragmatismus der Handlung auch die innere Stetigkeit der Handlung, während diese Stetigkeit den ersten Entwurf in vollkommener Weise durchdrang. Der erste Faust begann, wie das Fragment von 1790, mit dem mitter¬ nächtigen Monolog in Fausts Studirzimmer. Der Monolog, die Geistercr- scheinungen, das Gespräch mit Wagner decken sich mit den Szenen des jetzigen Faust bis zu den vier Zeilen einschließlich nach Wagners Abgang, mit welchen diese Szene auch im Fragment von 1790 schließt. Während nun in dem jetzigen Faust nach diesen Zeilen Faust der Störung Wagners dankt, daß sie ihn von der Verzweiflung losgerissen habe, muß in der ersten Gestalt Faust sich von den Schrecken über die erste Erscheinung des Erdgeistes zu einem neuen, noch leidenschaftlicheren Flehen an den Geist aufgerafft haben, ihm nochmals zu er¬ scheine». Die zweite Erscheinung erfolgt, und Faust hält diesmal ihrem Eindrnck stand ohne erheuchelten Trotz, er verlangt, wie es jetzt in dem weit später gedichteten Schluß des ersten Monologs heißt, „durch die Adern der Natur zu fließen und schaffend Götterlebcn zu genießen." Der Geist weist ihn darauf hin, daß dies nichts andres heiße, als den sterblichen Geist mit dem unendlichen Geist vertauschen, der nur Einer sein kann. Faust verlangt darauf, wenn nicht die Unendlichkeit, doch einen erhöhte« Anteil an den Lebenskräften, er will einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/670>, abgerufen am 01.09.2024.