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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Staatsanwalt und Fortschritt.

Bis zu demselben Zeitpunkte kann der Richter, sofern die Verhaftung nicht
lediglich wegen Verdachts der Flucht gerechtfertigt ist, anordnen, daß den Unter¬
redungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne.

Wie oben angeführt, wird von der demokratischen Presse selbst eingeräumt,
daß die Bestimmungen der Se.-P.-O. über die Untersuchungshaft theoretisch
eigentlich nicht anfechtbar seien, was für andre, nicht auf diesem Parteistand¬
punkte stehende soviel heißen will, als daß eine weitergehende Einschränkung der
Zulässigkeit der Untersuchungshaft mit den Grundsätzen einer geordneten Straf¬
rechtspflege nicht vereinbar ist. Trotzdem will diese Presse eine wesentlich schärfere
Formulirung der betreffenden Bestimmung, um die Ausschreitungen der Praxis
in der Anwendung der Untersuchungshaft unmöglich zu machen. In welcher
Weise diese schärfere Formulirung stattfinden solle, ist nicht gesagt. Daß die
Praxis die Untersuchungshaft unverhältnismäßig anwende, ist eine unbewiesene
Behauptung. Wenn aber die Praxis zu einer Anwendung der fraglichen Be¬
stimmungen kommt, welche nicht über dem Wortlaut des Gesetzes den Sinn
desselben verfehlt, so thut sie dies in dem ganz berechtigten Bestreben, mit den
ihr gelassenen Mitteln so gut als möglich den Zweck der Strafjustiz, die Be¬
strafung der Verbrechen, überhaupt noch zu erreichen. Wollte man der Mög¬
lichkeit der Verhaftung eines Verdächtigen noch größere Schwierigkeiten bereiten,
so käme das einer vollständigen Lahmlegung der Strafrechtspflege zum Nach¬
teile der Gesellschaft und zu Gunsten der Verbrecher gleich.

Inwiefern die Befugnis des Untersuchungsrichters, während der Vor¬
untersuchung -- nach Fassung des Anklagebeschlusses auf Eröffnung des Haupt¬
verfahrens fällt ja auch diese Befugnis weg -- den Verkehr des Angeklagten
mit seinem Verteidiger zu überwachen, eine Beschränkung der "freien Vorbe¬
reitung der Verteidigung" sein soll, ist nicht abzusehen. Faßt mau die Ver¬
teidigung als das auf, was sie sein foll, nämlich als die Geltendmachung sämtlicher
wahren, zu Gunsten des Angeschuldigten dienenden Momente und die erforder¬
liche Hilfsleistung zur Herbei Schaffung der sachdienlichen Beweismittel, so wird
man wohl mit Recht fragen, warum denn der Richter von dieser Thätigkeit
des Verteidigers und dem dieselbe vermittelnden Verkehre zwischen dem Ange¬
klagten und dem Verteidiger keine Kenntnis erhalten dürfe, während doch der
Angeschuldigte und der Verteidiger es als im höchsten Interesse des ersteren
gelegen betrachten sollten, den Richter möglichst rasch von allem zu unterrichten,
was zum Vorteile des Angeschuldigten dienen kann? Sieht man aber in der
Verteidigung ein Mittel, auch einen schuldigen Angeklagte" der ihm ge¬
bührenden Strafe zu entziehen, so wird allerdings die dem Richter gewährte
Beaufsichtigungsbefugnis ein unbequemes Hemmnis der freien Entfaltung einer
solchen Thätigkeit des Verteidigers sein, die Gesetzgebung wird sich aber kaum
veranlaßt sehen, zur Erleichterung des Lügens und zur Begünstigung von Ver¬
brechen das fragliche Aufsichtsrccht abzuschaffen.


Grenzboten IV. 1883. 82
Staatsanwalt und Fortschritt.

Bis zu demselben Zeitpunkte kann der Richter, sofern die Verhaftung nicht
lediglich wegen Verdachts der Flucht gerechtfertigt ist, anordnen, daß den Unter¬
redungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne.

Wie oben angeführt, wird von der demokratischen Presse selbst eingeräumt,
daß die Bestimmungen der Se.-P.-O. über die Untersuchungshaft theoretisch
eigentlich nicht anfechtbar seien, was für andre, nicht auf diesem Parteistand¬
punkte stehende soviel heißen will, als daß eine weitergehende Einschränkung der
Zulässigkeit der Untersuchungshaft mit den Grundsätzen einer geordneten Straf¬
rechtspflege nicht vereinbar ist. Trotzdem will diese Presse eine wesentlich schärfere
Formulirung der betreffenden Bestimmung, um die Ausschreitungen der Praxis
in der Anwendung der Untersuchungshaft unmöglich zu machen. In welcher
Weise diese schärfere Formulirung stattfinden solle, ist nicht gesagt. Daß die
Praxis die Untersuchungshaft unverhältnismäßig anwende, ist eine unbewiesene
Behauptung. Wenn aber die Praxis zu einer Anwendung der fraglichen Be¬
stimmungen kommt, welche nicht über dem Wortlaut des Gesetzes den Sinn
desselben verfehlt, so thut sie dies in dem ganz berechtigten Bestreben, mit den
ihr gelassenen Mitteln so gut als möglich den Zweck der Strafjustiz, die Be¬
strafung der Verbrechen, überhaupt noch zu erreichen. Wollte man der Mög¬
lichkeit der Verhaftung eines Verdächtigen noch größere Schwierigkeiten bereiten,
so käme das einer vollständigen Lahmlegung der Strafrechtspflege zum Nach¬
teile der Gesellschaft und zu Gunsten der Verbrecher gleich.

Inwiefern die Befugnis des Untersuchungsrichters, während der Vor¬
untersuchung — nach Fassung des Anklagebeschlusses auf Eröffnung des Haupt¬
verfahrens fällt ja auch diese Befugnis weg — den Verkehr des Angeklagten
mit seinem Verteidiger zu überwachen, eine Beschränkung der „freien Vorbe¬
reitung der Verteidigung" sein soll, ist nicht abzusehen. Faßt mau die Ver¬
teidigung als das auf, was sie sein foll, nämlich als die Geltendmachung sämtlicher
wahren, zu Gunsten des Angeschuldigten dienenden Momente und die erforder¬
liche Hilfsleistung zur Herbei Schaffung der sachdienlichen Beweismittel, so wird
man wohl mit Recht fragen, warum denn der Richter von dieser Thätigkeit
des Verteidigers und dem dieselbe vermittelnden Verkehre zwischen dem Ange¬
klagten und dem Verteidiger keine Kenntnis erhalten dürfe, während doch der
Angeschuldigte und der Verteidiger es als im höchsten Interesse des ersteren
gelegen betrachten sollten, den Richter möglichst rasch von allem zu unterrichten,
was zum Vorteile des Angeschuldigten dienen kann? Sieht man aber in der
Verteidigung ein Mittel, auch einen schuldigen Angeklagte» der ihm ge¬
bührenden Strafe zu entziehen, so wird allerdings die dem Richter gewährte
Beaufsichtigungsbefugnis ein unbequemes Hemmnis der freien Entfaltung einer
solchen Thätigkeit des Verteidigers sein, die Gesetzgebung wird sich aber kaum
veranlaßt sehen, zur Erleichterung des Lügens und zur Begünstigung von Ver¬
brechen das fragliche Aufsichtsrccht abzuschaffen.


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[0659] Staatsanwalt und Fortschritt. Bis zu demselben Zeitpunkte kann der Richter, sofern die Verhaftung nicht lediglich wegen Verdachts der Flucht gerechtfertigt ist, anordnen, daß den Unter¬ redungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne. Wie oben angeführt, wird von der demokratischen Presse selbst eingeräumt, daß die Bestimmungen der Se.-P.-O. über die Untersuchungshaft theoretisch eigentlich nicht anfechtbar seien, was für andre, nicht auf diesem Parteistand¬ punkte stehende soviel heißen will, als daß eine weitergehende Einschränkung der Zulässigkeit der Untersuchungshaft mit den Grundsätzen einer geordneten Straf¬ rechtspflege nicht vereinbar ist. Trotzdem will diese Presse eine wesentlich schärfere Formulirung der betreffenden Bestimmung, um die Ausschreitungen der Praxis in der Anwendung der Untersuchungshaft unmöglich zu machen. In welcher Weise diese schärfere Formulirung stattfinden solle, ist nicht gesagt. Daß die Praxis die Untersuchungshaft unverhältnismäßig anwende, ist eine unbewiesene Behauptung. Wenn aber die Praxis zu einer Anwendung der fraglichen Be¬ stimmungen kommt, welche nicht über dem Wortlaut des Gesetzes den Sinn desselben verfehlt, so thut sie dies in dem ganz berechtigten Bestreben, mit den ihr gelassenen Mitteln so gut als möglich den Zweck der Strafjustiz, die Be¬ strafung der Verbrechen, überhaupt noch zu erreichen. Wollte man der Mög¬ lichkeit der Verhaftung eines Verdächtigen noch größere Schwierigkeiten bereiten, so käme das einer vollständigen Lahmlegung der Strafrechtspflege zum Nach¬ teile der Gesellschaft und zu Gunsten der Verbrecher gleich. Inwiefern die Befugnis des Untersuchungsrichters, während der Vor¬ untersuchung — nach Fassung des Anklagebeschlusses auf Eröffnung des Haupt¬ verfahrens fällt ja auch diese Befugnis weg — den Verkehr des Angeklagten mit seinem Verteidiger zu überwachen, eine Beschränkung der „freien Vorbe¬ reitung der Verteidigung" sein soll, ist nicht abzusehen. Faßt mau die Ver¬ teidigung als das auf, was sie sein foll, nämlich als die Geltendmachung sämtlicher wahren, zu Gunsten des Angeschuldigten dienenden Momente und die erforder¬ liche Hilfsleistung zur Herbei Schaffung der sachdienlichen Beweismittel, so wird man wohl mit Recht fragen, warum denn der Richter von dieser Thätigkeit des Verteidigers und dem dieselbe vermittelnden Verkehre zwischen dem Ange¬ klagten und dem Verteidiger keine Kenntnis erhalten dürfe, während doch der Angeschuldigte und der Verteidiger es als im höchsten Interesse des ersteren gelegen betrachten sollten, den Richter möglichst rasch von allem zu unterrichten, was zum Vorteile des Angeschuldigten dienen kann? Sieht man aber in der Verteidigung ein Mittel, auch einen schuldigen Angeklagte» der ihm ge¬ bührenden Strafe zu entziehen, so wird allerdings die dem Richter gewährte Beaufsichtigungsbefugnis ein unbequemes Hemmnis der freien Entfaltung einer solchen Thätigkeit des Verteidigers sein, die Gesetzgebung wird sich aber kaum veranlaßt sehen, zur Erleichterung des Lügens und zur Begünstigung von Ver¬ brechen das fragliche Aufsichtsrccht abzuschaffen. Grenzboten IV. 1883. 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/659>, abgerufen am 27.07.2024.