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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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vor neue Merlin.

erschien, in freier Thätigkeit eine Existenz zu gewinnen, und wie hart die Ver¬
pflichtungen drückten, die unter solchen Umständen ein alter Name auferlegte.
Niemand wußte mir etwas andres zu raten, als auf gut Glück die Vaterstadt
zu verlassen, was ich ohnehin gethan haben würde. Ohne festen Plan schiffte
ich mich nach Venedig ein -- der dunkle Gedanke, in Paduci mit meinen spär¬
lichen Mitteln irgend welche Studien zu beginnen, welche mir eine Zukunft
sichern könnten, schwebte nur wohl vor. Doch zunächst wollte ich die Lagunen-
stadt sehen, die überall in die Geschichte meiner Heimat und auch in die meiner
Familie verflochten war. Wo unsre Erinnerungen von einem ungewöhnlichen
Lebenslauf, einem ungewöhnlichen Glück wußten, da schimmerten stets die goldnen
Kuppeln von Venedig, alle Wunder hatten sich dort ereignet, und ich ging mit
einem Gefühl zu Schiff, als könnte auch mir ein Wunder begegnen. Und wenn
keines geschah, so sah ich doch immer die Markusstadt, ich konnte die Gegenwart
und mich selbst nicht besser vergessen, und für alle Fälle war ich ja in Venedig
auf dem Wege nach Paduci. So stieg ich nach einer mehrtägigen Fahrt zwischen
den Säulen der Piazzetta ans Land und nahm einen Bettelbuben mit mir,
um mich nach San Giorgio dei Schiavoni führen zu lassen, wo sich das Grab¬
mal eines Constcmtini findet, der auf der venezianischen Flotte gedient und
unter Morosini in der Seeschlacht bei den Dardanellen gefochten hatte. Ich
wollte an dem alten Marmor ein stilles Gebet sprechen und danach mit dem
Segen des Seehelden meines ungewissen Weges ziehen.

So betrat ich die Kirche und ging umschauend hindurch, um das Denkmal
zu suchen, vou dem wir eine Zeichnung in unserm Hause zu Ragusa besessen
hatten. Die Kirche schien völlig leer, und ich fand bald, warum ich gekommen
war. Erst als ich vor dem Hochrelief und dem Namen Angelo Constantini,
Ragusaner, Posto gefaßt, entdeckte ich, daß einige Frauen in der Kirche beteten.
Ich kümmerte mich nicht um sie, aber als wenige Minuten später eine junge
Dame durch eine Seitenpforte eintrat und geraden Weges zwischen mir und
dein Denkmal auf einen Altar mit dem Bilde der allerheiligsten Jungfrau
zuschritt, mußte ich wohl aufschauen. Und das Licht, das plötzlich über mich
fiel, war so blendend, daß alle meine Züge Staunen ausdrückten. Die junge
Dame war in Trauer, ihr Gesicht tiefernst, und doch flog ein Lächeln über die
schönen Züge, als sie meine erstaunten Augen und die Lippen wahrnahm, die
sich nicht wieder schließen wollten. Meine Blicke folgten ihr nach dem Altar,
sie kniete dort so vor den Stufen, daß sie mich nicht wahrnehmen konnte und
ich die schlanke schwarzvcrhüllte Gestalt nur vom Rücken geneigten Hauptes sah.
Aber sie mußte es fühlen, daß ich nicht betete und mit verhaltenem Atem auf
sie hinstarrte. Nach kurzer Frist erhob sie sich wieder -- wie sie mir später
vertraut hat, störte die Erinnerung an meine staunende Bewunderung ihre An¬
dacht, und ich sah, wie sie den Schleier fester um sich zog und einen unsichern
Schritt von dem Altar hinweg machte. Ich erriet selbst, daß sie ihren Rückweg


vor neue Merlin.

erschien, in freier Thätigkeit eine Existenz zu gewinnen, und wie hart die Ver¬
pflichtungen drückten, die unter solchen Umständen ein alter Name auferlegte.
Niemand wußte mir etwas andres zu raten, als auf gut Glück die Vaterstadt
zu verlassen, was ich ohnehin gethan haben würde. Ohne festen Plan schiffte
ich mich nach Venedig ein — der dunkle Gedanke, in Paduci mit meinen spär¬
lichen Mitteln irgend welche Studien zu beginnen, welche mir eine Zukunft
sichern könnten, schwebte nur wohl vor. Doch zunächst wollte ich die Lagunen-
stadt sehen, die überall in die Geschichte meiner Heimat und auch in die meiner
Familie verflochten war. Wo unsre Erinnerungen von einem ungewöhnlichen
Lebenslauf, einem ungewöhnlichen Glück wußten, da schimmerten stets die goldnen
Kuppeln von Venedig, alle Wunder hatten sich dort ereignet, und ich ging mit
einem Gefühl zu Schiff, als könnte auch mir ein Wunder begegnen. Und wenn
keines geschah, so sah ich doch immer die Markusstadt, ich konnte die Gegenwart
und mich selbst nicht besser vergessen, und für alle Fälle war ich ja in Venedig
auf dem Wege nach Paduci. So stieg ich nach einer mehrtägigen Fahrt zwischen
den Säulen der Piazzetta ans Land und nahm einen Bettelbuben mit mir,
um mich nach San Giorgio dei Schiavoni führen zu lassen, wo sich das Grab¬
mal eines Constcmtini findet, der auf der venezianischen Flotte gedient und
unter Morosini in der Seeschlacht bei den Dardanellen gefochten hatte. Ich
wollte an dem alten Marmor ein stilles Gebet sprechen und danach mit dem
Segen des Seehelden meines ungewissen Weges ziehen.

So betrat ich die Kirche und ging umschauend hindurch, um das Denkmal
zu suchen, vou dem wir eine Zeichnung in unserm Hause zu Ragusa besessen
hatten. Die Kirche schien völlig leer, und ich fand bald, warum ich gekommen
war. Erst als ich vor dem Hochrelief und dem Namen Angelo Constantini,
Ragusaner, Posto gefaßt, entdeckte ich, daß einige Frauen in der Kirche beteten.
Ich kümmerte mich nicht um sie, aber als wenige Minuten später eine junge
Dame durch eine Seitenpforte eintrat und geraden Weges zwischen mir und
dein Denkmal auf einen Altar mit dem Bilde der allerheiligsten Jungfrau
zuschritt, mußte ich wohl aufschauen. Und das Licht, das plötzlich über mich
fiel, war so blendend, daß alle meine Züge Staunen ausdrückten. Die junge
Dame war in Trauer, ihr Gesicht tiefernst, und doch flog ein Lächeln über die
schönen Züge, als sie meine erstaunten Augen und die Lippen wahrnahm, die
sich nicht wieder schließen wollten. Meine Blicke folgten ihr nach dem Altar,
sie kniete dort so vor den Stufen, daß sie mich nicht wahrnehmen konnte und
ich die schlanke schwarzvcrhüllte Gestalt nur vom Rücken geneigten Hauptes sah.
Aber sie mußte es fühlen, daß ich nicht betete und mit verhaltenem Atem auf
sie hinstarrte. Nach kurzer Frist erhob sie sich wieder — wie sie mir später
vertraut hat, störte die Erinnerung an meine staunende Bewunderung ihre An¬
dacht, und ich sah, wie sie den Schleier fester um sich zog und einen unsichern
Schritt von dem Altar hinweg machte. Ich erriet selbst, daß sie ihren Rückweg


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/642>, abgerufen am 01.09.2024.