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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Emile Zola.

rettungslos im Schlamm versinkt. Eine solche Behandlung heißt aber, die
Menschen sowohl wie das Schicksal ungerecht behandeln, denn so wie "ein wackerer
Mann bald schlecht, bald wieder auch edel handelt," so ist auch das Schicksal
nicht immer ohne Erbarmen, Fortuna steht auf rollenden Rade. Hat denn
Zola nicht beobachtet? Selbst wenn er die schlimmsten Verbrecher beobachtet,
wird er das Gute im Hintergründe finden. Denn anch Räuber und Mörder
suchen unter sich und vor dem Volke mit ihren Verbrechen zu prunken und
bezeigen der Tugend ihre Ehrfurcht, indem sie ihre Schandthaten als Beweise
von Klugheit und Tapferkeit rühmen, wie sie auch zu Anführern und Haupt¬
leuten nicht diejenigen wählen, welche sie für die dümmsten und feigsten, sondern die¬
jenigen, welche sie für die klügsten, tapfersten und gerechtesten der ganzen Bande
halten. Wieviel mehr muß die Huldigung der Tugend bei den geringeren Ver¬
brechern, bei der ganzen Gesellschaft unsrer Naturalisten hervortreten! Wir sind
die Marionetten der Vorsehung. Niemand lügt, ohne der Wahrheit zu huldigen,
denn er weiß, daß die Lüge nur insofern Wert hat, als sie der Wahrheit ähnlich
ist, und das Wort, die Heuchelei sei eine Huldigung, welche das Laster der
Tugend darbringe, ist vollständig wahr. Niemand entbehrt der Idealität, selbst
nicht wenn er Ideale lästert, denn indem er auf das materielle Leben als
das Vorzüglichere hinweist und die Ideale für etwas Lächerliches erklärt, schafft
er ja etwas, was ihm Ideal sein soll, und sucht das Niedrige mit einem Glänze
zu umkleiden, den er von dem Hohen borgt. Ist es denn den Naturalisten
niemals aufgefallen, daß die Menschen insgesamt den Vorwurf der Unwissenheit
für den beleidigendsten halten, sodaß sie lieber, wenn sie die Wahl haben, für
schlecht als für dumm gelten wollen? Und vermögen sie nicht zu erkennen, daß
die Menschen damit eine unbewußte Weisheit bekunden, nämlich die Einsicht,
daß die Unwissenheit die Wurzel, dasjenige aber, was das Volk Schlechtigkeit
nennt, nur vie Zweige am Baume des Todes sind? Sicherlich, wer die Menschen
so kahl, so armselig, so ganz dem Schlechten verfallen darstellt und dabei mit
der ernsthaften Miene des Naturforschers zu Werke geht, der kennt die Menschen
nur halb. Und diese Einseitigkeit der Schilderung ist einer der großen Mängel,
die Zola im Vergleich mit einem wahrhaft genialen Dichter hat.

Ein andrer großer Mangel aber hängt mit diesem eng zusammen. Weil
Zola die Quelle der Schlechtigkeit nicht recht erkannt hat und deshalb das Gute
nicht darzustellen und in den geeigneten Gegensatz zum Schlechten zu stellen
weiß, entgeht ihm der rechte Angriffspunkt für die Spitze seiner Lanze. Ich
denke hier a" einen großen Franzosen, der für die neuere Literatur seines Volkes
von der höchsten Bedeutung geworden ist und dessen Einfluß sogar in England
und ein ganz Kein wenig auch in Deutschland zu spüren ist, nämlich an Frankens
Rabelais. Er war in gewissem Sinne der Vorgänger Zolas. Er hat über¬
haupt den Stil und die Denkweise der bedeutenderen Schriftsteller Frankreichs stark
beeinflußt. Montaigne, noch mehr aber Moliere und nach ihm Voltaire haben


Emile Zola.

rettungslos im Schlamm versinkt. Eine solche Behandlung heißt aber, die
Menschen sowohl wie das Schicksal ungerecht behandeln, denn so wie „ein wackerer
Mann bald schlecht, bald wieder auch edel handelt," so ist auch das Schicksal
nicht immer ohne Erbarmen, Fortuna steht auf rollenden Rade. Hat denn
Zola nicht beobachtet? Selbst wenn er die schlimmsten Verbrecher beobachtet,
wird er das Gute im Hintergründe finden. Denn anch Räuber und Mörder
suchen unter sich und vor dem Volke mit ihren Verbrechen zu prunken und
bezeigen der Tugend ihre Ehrfurcht, indem sie ihre Schandthaten als Beweise
von Klugheit und Tapferkeit rühmen, wie sie auch zu Anführern und Haupt¬
leuten nicht diejenigen wählen, welche sie für die dümmsten und feigsten, sondern die¬
jenigen, welche sie für die klügsten, tapfersten und gerechtesten der ganzen Bande
halten. Wieviel mehr muß die Huldigung der Tugend bei den geringeren Ver¬
brechern, bei der ganzen Gesellschaft unsrer Naturalisten hervortreten! Wir sind
die Marionetten der Vorsehung. Niemand lügt, ohne der Wahrheit zu huldigen,
denn er weiß, daß die Lüge nur insofern Wert hat, als sie der Wahrheit ähnlich
ist, und das Wort, die Heuchelei sei eine Huldigung, welche das Laster der
Tugend darbringe, ist vollständig wahr. Niemand entbehrt der Idealität, selbst
nicht wenn er Ideale lästert, denn indem er auf das materielle Leben als
das Vorzüglichere hinweist und die Ideale für etwas Lächerliches erklärt, schafft
er ja etwas, was ihm Ideal sein soll, und sucht das Niedrige mit einem Glänze
zu umkleiden, den er von dem Hohen borgt. Ist es denn den Naturalisten
niemals aufgefallen, daß die Menschen insgesamt den Vorwurf der Unwissenheit
für den beleidigendsten halten, sodaß sie lieber, wenn sie die Wahl haben, für
schlecht als für dumm gelten wollen? Und vermögen sie nicht zu erkennen, daß
die Menschen damit eine unbewußte Weisheit bekunden, nämlich die Einsicht,
daß die Unwissenheit die Wurzel, dasjenige aber, was das Volk Schlechtigkeit
nennt, nur vie Zweige am Baume des Todes sind? Sicherlich, wer die Menschen
so kahl, so armselig, so ganz dem Schlechten verfallen darstellt und dabei mit
der ernsthaften Miene des Naturforschers zu Werke geht, der kennt die Menschen
nur halb. Und diese Einseitigkeit der Schilderung ist einer der großen Mängel,
die Zola im Vergleich mit einem wahrhaft genialen Dichter hat.

Ein andrer großer Mangel aber hängt mit diesem eng zusammen. Weil
Zola die Quelle der Schlechtigkeit nicht recht erkannt hat und deshalb das Gute
nicht darzustellen und in den geeigneten Gegensatz zum Schlechten zu stellen
weiß, entgeht ihm der rechte Angriffspunkt für die Spitze seiner Lanze. Ich
denke hier a» einen großen Franzosen, der für die neuere Literatur seines Volkes
von der höchsten Bedeutung geworden ist und dessen Einfluß sogar in England
und ein ganz Kein wenig auch in Deutschland zu spüren ist, nämlich an Frankens
Rabelais. Er war in gewissem Sinne der Vorgänger Zolas. Er hat über¬
haupt den Stil und die Denkweise der bedeutenderen Schriftsteller Frankreichs stark
beeinflußt. Montaigne, noch mehr aber Moliere und nach ihm Voltaire haben


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[0631] Emile Zola. rettungslos im Schlamm versinkt. Eine solche Behandlung heißt aber, die Menschen sowohl wie das Schicksal ungerecht behandeln, denn so wie „ein wackerer Mann bald schlecht, bald wieder auch edel handelt," so ist auch das Schicksal nicht immer ohne Erbarmen, Fortuna steht auf rollenden Rade. Hat denn Zola nicht beobachtet? Selbst wenn er die schlimmsten Verbrecher beobachtet, wird er das Gute im Hintergründe finden. Denn anch Räuber und Mörder suchen unter sich und vor dem Volke mit ihren Verbrechen zu prunken und bezeigen der Tugend ihre Ehrfurcht, indem sie ihre Schandthaten als Beweise von Klugheit und Tapferkeit rühmen, wie sie auch zu Anführern und Haupt¬ leuten nicht diejenigen wählen, welche sie für die dümmsten und feigsten, sondern die¬ jenigen, welche sie für die klügsten, tapfersten und gerechtesten der ganzen Bande halten. Wieviel mehr muß die Huldigung der Tugend bei den geringeren Ver¬ brechern, bei der ganzen Gesellschaft unsrer Naturalisten hervortreten! Wir sind die Marionetten der Vorsehung. Niemand lügt, ohne der Wahrheit zu huldigen, denn er weiß, daß die Lüge nur insofern Wert hat, als sie der Wahrheit ähnlich ist, und das Wort, die Heuchelei sei eine Huldigung, welche das Laster der Tugend darbringe, ist vollständig wahr. Niemand entbehrt der Idealität, selbst nicht wenn er Ideale lästert, denn indem er auf das materielle Leben als das Vorzüglichere hinweist und die Ideale für etwas Lächerliches erklärt, schafft er ja etwas, was ihm Ideal sein soll, und sucht das Niedrige mit einem Glänze zu umkleiden, den er von dem Hohen borgt. Ist es denn den Naturalisten niemals aufgefallen, daß die Menschen insgesamt den Vorwurf der Unwissenheit für den beleidigendsten halten, sodaß sie lieber, wenn sie die Wahl haben, für schlecht als für dumm gelten wollen? Und vermögen sie nicht zu erkennen, daß die Menschen damit eine unbewußte Weisheit bekunden, nämlich die Einsicht, daß die Unwissenheit die Wurzel, dasjenige aber, was das Volk Schlechtigkeit nennt, nur vie Zweige am Baume des Todes sind? Sicherlich, wer die Menschen so kahl, so armselig, so ganz dem Schlechten verfallen darstellt und dabei mit der ernsthaften Miene des Naturforschers zu Werke geht, der kennt die Menschen nur halb. Und diese Einseitigkeit der Schilderung ist einer der großen Mängel, die Zola im Vergleich mit einem wahrhaft genialen Dichter hat. Ein andrer großer Mangel aber hängt mit diesem eng zusammen. Weil Zola die Quelle der Schlechtigkeit nicht recht erkannt hat und deshalb das Gute nicht darzustellen und in den geeigneten Gegensatz zum Schlechten zu stellen weiß, entgeht ihm der rechte Angriffspunkt für die Spitze seiner Lanze. Ich denke hier a» einen großen Franzosen, der für die neuere Literatur seines Volkes von der höchsten Bedeutung geworden ist und dessen Einfluß sogar in England und ein ganz Kein wenig auch in Deutschland zu spüren ist, nämlich an Frankens Rabelais. Er war in gewissem Sinne der Vorgänger Zolas. Er hat über¬ haupt den Stil und die Denkweise der bedeutenderen Schriftsteller Frankreichs stark beeinflußt. Montaigne, noch mehr aber Moliere und nach ihm Voltaire haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/631>, abgerufen am 01.09.2024.