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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena,

man sich dem mißtrauisch gemachten Gegner in unvorsichtigster Weise aus, und
als man im August sich zum Kriege entschloß, weil ein Überfall vor der Thüre
stand, war es zu spät. Man hätte schon 1805 losbrechen sollen. Alle Ein¬
sichtsvollen im Heere hatten das begriffen, die Masse fühlte es instinktmäßig
heraus. Man war nicht hinreichend vorbereitet, man ergriff halbe Maßregeln,
man zog mit düstern Ahnungen, in einer krankhaften Stimmung zu Felde, die
sich aus Mißtrauen in die oberste Leitung, Reue über die verlorene Gelegen¬
heit und fieberhafter Hast, das Versäumte um jeden Preis nachzuholen, zu¬
sammensetzte und in der Zuversicht auf die Tüchtigkeit der Truppen schon des¬
halb kein genügendes Gegengewicht fand, weil der Feind die Überlegenheit der
Zahl für sich hatte. "Daher die Ängstlichkeit in der Heerführung, die nur ganz
sichere Schritte thun wollte und die halbgethauen immer wieder zurückzog____
Diese Politik, diese Heerführung, die unglückliche Zusammensetzung des Haupt¬
quartiers, die geringe numerische Stärke der Armee waren die hauptsächlichsten
äußern Ursachen der Katastrophe."

Ausführlicher bespricht v. d. Goltz die Ursachen der innern militärischen
Schwäche des damaligen Preußen, und zwar weist er an erster Stelle auf den
Einfluß des frivolen, unpatriotischen, kosmopolitischen Geistes hin, der die Auf¬
klärungszeit charakterisirte und sich nach der Niederlage in entsprechender Weise
äußerte. Statt eines entrüsteten Nationalgefühls gewahrte man fast allent¬
halben Gleichgiltigkeit, bisweilen sogar Schadenfreude und vielfach ehrlose Unter¬
stützung des Siegers von seiten der Besiegten. Nirgends beinahe auch nur
passiver Widerstand, allenthalben die Möglichkeit für die Franzosen, den Ver¬
waltungsapparat des Staates mühelos für ihre Zwecke zu benutzen. Manches
wurde hier erzwungen, groß aber war die Anzahl der freiwilligen Anbeter des
Erfolgs. Die Presse betrachtete die Ereignisse so gleichmütig, als ob es sich
um einen Krieg in Hinterindien handelte, sie pries den Kaiser als Helden, lobte
seine Großmut und Herablassung, die Beredsamkeit seiner Proklamationen, rühmte
die Trefflichkeit seiner Armee und den Edelsinn der französischen Nation. Prä¬
sident, Bürgermeister und Rat von Berlin trieben ihren Eifer für die Sache
der fremden Eindringlinge soweit, daß der französische Gouverneur ihn zügeln
zu müssen glaubte.

Wie hatte es dahin kommen können? Zunächst rächte sich jetzt die Be¬
vormundung, unter welcher Friedrich Wilhelm I. und dessen großer Sohn Preußen
gehalten hatten. Sehr bedeutendes war damit geleistet worden, aber andrer¬
seits hatten Volk und Beamte sich gewöhnt, in allem von obenher geleitet zu
werden, und so zeigten sie sich hilflos, als sie dieser Leitung entbehren mußten.
Auf den siebenjährigen Krieg ferner mit seiner Anspannung aller Kräfte war
naturgemäß eine starke Erschlaffung im Handeln gefolgt. Friedrichs Strenge
hielt freilich die Lebensgeister noch rege, aber unter dem milden Regiments nach
ihm konnte man sich gehen lassen. Friedrich Wilhelms III. Regierung war eine


Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena,

man sich dem mißtrauisch gemachten Gegner in unvorsichtigster Weise aus, und
als man im August sich zum Kriege entschloß, weil ein Überfall vor der Thüre
stand, war es zu spät. Man hätte schon 1805 losbrechen sollen. Alle Ein¬
sichtsvollen im Heere hatten das begriffen, die Masse fühlte es instinktmäßig
heraus. Man war nicht hinreichend vorbereitet, man ergriff halbe Maßregeln,
man zog mit düstern Ahnungen, in einer krankhaften Stimmung zu Felde, die
sich aus Mißtrauen in die oberste Leitung, Reue über die verlorene Gelegen¬
heit und fieberhafter Hast, das Versäumte um jeden Preis nachzuholen, zu¬
sammensetzte und in der Zuversicht auf die Tüchtigkeit der Truppen schon des¬
halb kein genügendes Gegengewicht fand, weil der Feind die Überlegenheit der
Zahl für sich hatte. „Daher die Ängstlichkeit in der Heerführung, die nur ganz
sichere Schritte thun wollte und die halbgethauen immer wieder zurückzog____
Diese Politik, diese Heerführung, die unglückliche Zusammensetzung des Haupt¬
quartiers, die geringe numerische Stärke der Armee waren die hauptsächlichsten
äußern Ursachen der Katastrophe."

Ausführlicher bespricht v. d. Goltz die Ursachen der innern militärischen
Schwäche des damaligen Preußen, und zwar weist er an erster Stelle auf den
Einfluß des frivolen, unpatriotischen, kosmopolitischen Geistes hin, der die Auf¬
klärungszeit charakterisirte und sich nach der Niederlage in entsprechender Weise
äußerte. Statt eines entrüsteten Nationalgefühls gewahrte man fast allent¬
halben Gleichgiltigkeit, bisweilen sogar Schadenfreude und vielfach ehrlose Unter¬
stützung des Siegers von seiten der Besiegten. Nirgends beinahe auch nur
passiver Widerstand, allenthalben die Möglichkeit für die Franzosen, den Ver¬
waltungsapparat des Staates mühelos für ihre Zwecke zu benutzen. Manches
wurde hier erzwungen, groß aber war die Anzahl der freiwilligen Anbeter des
Erfolgs. Die Presse betrachtete die Ereignisse so gleichmütig, als ob es sich
um einen Krieg in Hinterindien handelte, sie pries den Kaiser als Helden, lobte
seine Großmut und Herablassung, die Beredsamkeit seiner Proklamationen, rühmte
die Trefflichkeit seiner Armee und den Edelsinn der französischen Nation. Prä¬
sident, Bürgermeister und Rat von Berlin trieben ihren Eifer für die Sache
der fremden Eindringlinge soweit, daß der französische Gouverneur ihn zügeln
zu müssen glaubte.

Wie hatte es dahin kommen können? Zunächst rächte sich jetzt die Be¬
vormundung, unter welcher Friedrich Wilhelm I. und dessen großer Sohn Preußen
gehalten hatten. Sehr bedeutendes war damit geleistet worden, aber andrer¬
seits hatten Volk und Beamte sich gewöhnt, in allem von obenher geleitet zu
werden, und so zeigten sie sich hilflos, als sie dieser Leitung entbehren mußten.
Auf den siebenjährigen Krieg ferner mit seiner Anspannung aller Kräfte war
naturgemäß eine starke Erschlaffung im Handeln gefolgt. Friedrichs Strenge
hielt freilich die Lebensgeister noch rege, aber unter dem milden Regiments nach
ihm konnte man sich gehen lassen. Friedrich Wilhelms III. Regierung war eine


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[0616] Die Wahrheit über die Katastrophe von Jena, man sich dem mißtrauisch gemachten Gegner in unvorsichtigster Weise aus, und als man im August sich zum Kriege entschloß, weil ein Überfall vor der Thüre stand, war es zu spät. Man hätte schon 1805 losbrechen sollen. Alle Ein¬ sichtsvollen im Heere hatten das begriffen, die Masse fühlte es instinktmäßig heraus. Man war nicht hinreichend vorbereitet, man ergriff halbe Maßregeln, man zog mit düstern Ahnungen, in einer krankhaften Stimmung zu Felde, die sich aus Mißtrauen in die oberste Leitung, Reue über die verlorene Gelegen¬ heit und fieberhafter Hast, das Versäumte um jeden Preis nachzuholen, zu¬ sammensetzte und in der Zuversicht auf die Tüchtigkeit der Truppen schon des¬ halb kein genügendes Gegengewicht fand, weil der Feind die Überlegenheit der Zahl für sich hatte. „Daher die Ängstlichkeit in der Heerführung, die nur ganz sichere Schritte thun wollte und die halbgethauen immer wieder zurückzog____ Diese Politik, diese Heerführung, die unglückliche Zusammensetzung des Haupt¬ quartiers, die geringe numerische Stärke der Armee waren die hauptsächlichsten äußern Ursachen der Katastrophe." Ausführlicher bespricht v. d. Goltz die Ursachen der innern militärischen Schwäche des damaligen Preußen, und zwar weist er an erster Stelle auf den Einfluß des frivolen, unpatriotischen, kosmopolitischen Geistes hin, der die Auf¬ klärungszeit charakterisirte und sich nach der Niederlage in entsprechender Weise äußerte. Statt eines entrüsteten Nationalgefühls gewahrte man fast allent¬ halben Gleichgiltigkeit, bisweilen sogar Schadenfreude und vielfach ehrlose Unter¬ stützung des Siegers von seiten der Besiegten. Nirgends beinahe auch nur passiver Widerstand, allenthalben die Möglichkeit für die Franzosen, den Ver¬ waltungsapparat des Staates mühelos für ihre Zwecke zu benutzen. Manches wurde hier erzwungen, groß aber war die Anzahl der freiwilligen Anbeter des Erfolgs. Die Presse betrachtete die Ereignisse so gleichmütig, als ob es sich um einen Krieg in Hinterindien handelte, sie pries den Kaiser als Helden, lobte seine Großmut und Herablassung, die Beredsamkeit seiner Proklamationen, rühmte die Trefflichkeit seiner Armee und den Edelsinn der französischen Nation. Prä¬ sident, Bürgermeister und Rat von Berlin trieben ihren Eifer für die Sache der fremden Eindringlinge soweit, daß der französische Gouverneur ihn zügeln zu müssen glaubte. Wie hatte es dahin kommen können? Zunächst rächte sich jetzt die Be¬ vormundung, unter welcher Friedrich Wilhelm I. und dessen großer Sohn Preußen gehalten hatten. Sehr bedeutendes war damit geleistet worden, aber andrer¬ seits hatten Volk und Beamte sich gewöhnt, in allem von obenher geleitet zu werden, und so zeigten sie sich hilflos, als sie dieser Leitung entbehren mußten. Auf den siebenjährigen Krieg ferner mit seiner Anspannung aller Kräfte war naturgemäß eine starke Erschlaffung im Handeln gefolgt. Friedrichs Strenge hielt freilich die Lebensgeister noch rege, aber unter dem milden Regiments nach ihm konnte man sich gehen lassen. Friedrich Wilhelms III. Regierung war eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/616>, abgerufen am 28.07.2024.