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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Line Geschichte der mncrikanischtM Literatur.

des äußerlichen Lebens entspringt der Mangel der Jdeenkontinuität. Daß die
Amerikaner so fest bei ihrer geschriebenen Verfassung beharren, rührt zum Teil
daher, daß sie sich bewußt sind, wenig andre politische Sicherhcitsanker zu be¬
sitzen. Aber innerhalb des Rahmens ihrer Verfassung halten sie alles für er¬
laubt; europäischer Idealismus und krasser Materialismus werden einer nach
dem andern übertrieben, ihre Schriftsteller verherrlichen jede Gestaltung des
menschlichen Daseins, von der asketischen an bis zur halbwilden. Der Zustand
der Unbeständigkeit wird genährt durch die rapiden Änderungen im Handel und .
durch das beständige Verschmelzen von einer Klasse in die andre, wodurch alle
festen Merkzeichen bis auf dasjenige einer flüchtigen öffentlichen Meinung weg¬
getrieben werden. Der größte Fehler der Amerikaner ist ihre Hast; sie bleiben
nicht stehen, um zu prüfen und die Einzelheiten zu studiren, sondern begnügen
sich mit Allgemeinheiten, welche mehr zu oberflächlichen Schlüssen als zu einer
tieferen Erkenntnis führen.

Während die aristokratischen Literaturen im Formalismus erstarren, ver¬
fallen demokratische gern ins Gegenteil, vollends wenn sie so jung sind wie die
amerikanische. Da herrscht rücksichtsloses jugendliches Drängen ohne Selbst-
beschcidung und Achtung vor Autoritäten. Wo rohe Kraft, Gewalt und Witz
vorherrschend sind, stellen Geschmack und höherer Flug der Phantasie sich selten
ein. In einem Lande mit einer ungebändigten Natur nimmt auch der Geist
des Volkes etwas von dieser Unbändigkeit an. Die Sucht nach Eroberung und
Bezwingung der Wildnis hemmen die Pflege der feineren Kultur.

Nichol, dem wir in dieser kurzen Wiedergabe seiner Einleitung gefolgt sind,
fügt noch hinzu, daß er bei dieser seiner Übersicht vor allem die Durchschnitts¬
literatur und den Dnrchschnittsgeift, welche entweder den Flitter und das Ge¬
triebe des Broadway oder die Wildheit des Grenzlcbens wiederspiegeln, im
Auge gehabt habe, "denn es fehlt nicht an ernsteren Geistern, welche nach einer
höhern Stufe streben."

Seinen Stoff gruppirt Nichol in einem Dutzend von Abschnitten ziemlich
übersichtlich, aber ohne strengere Methode des Aufbaues und der Unterordnung.
Es ist das die Folge des schon obenerwähnten Mangels an einheitlicher Ent¬
stehung. In den drei ersten Abschnitten: "Die Kolonialzeit," "Die Unabhängig¬
keitsbewegung" und "Amerikanische Politik und Beredtsamkeit" wiegt die Ge¬
schichtschreibung vor. Wir erhalten hier ein fortlaufendes Bild von der geistigen
und politischen Entwicklung Nordamerikas bis zur Entstehung des Bürgerkrieges.
Der Nahmen geht über den literaturgeschichtlichen hinaus. Theologen, Staats¬
männer und Politiker haben im vorigen Jahrhundert und zu Anfang des unsrigen
den Vordergrund der neuen Bühne eingenommen. Das strenge Puritanertum
und die nüchterne Aufgabe der ersten Kolonisirung haben für lange das Spiel
der freien dichtenden Phantasie hintertrieben; später halten die Kämpfe der Re¬
volution und Einrichtung und Ausbau der staatlichen Institutionen für mehrere


Line Geschichte der mncrikanischtM Literatur.

des äußerlichen Lebens entspringt der Mangel der Jdeenkontinuität. Daß die
Amerikaner so fest bei ihrer geschriebenen Verfassung beharren, rührt zum Teil
daher, daß sie sich bewußt sind, wenig andre politische Sicherhcitsanker zu be¬
sitzen. Aber innerhalb des Rahmens ihrer Verfassung halten sie alles für er¬
laubt; europäischer Idealismus und krasser Materialismus werden einer nach
dem andern übertrieben, ihre Schriftsteller verherrlichen jede Gestaltung des
menschlichen Daseins, von der asketischen an bis zur halbwilden. Der Zustand
der Unbeständigkeit wird genährt durch die rapiden Änderungen im Handel und .
durch das beständige Verschmelzen von einer Klasse in die andre, wodurch alle
festen Merkzeichen bis auf dasjenige einer flüchtigen öffentlichen Meinung weg¬
getrieben werden. Der größte Fehler der Amerikaner ist ihre Hast; sie bleiben
nicht stehen, um zu prüfen und die Einzelheiten zu studiren, sondern begnügen
sich mit Allgemeinheiten, welche mehr zu oberflächlichen Schlüssen als zu einer
tieferen Erkenntnis führen.

Während die aristokratischen Literaturen im Formalismus erstarren, ver¬
fallen demokratische gern ins Gegenteil, vollends wenn sie so jung sind wie die
amerikanische. Da herrscht rücksichtsloses jugendliches Drängen ohne Selbst-
beschcidung und Achtung vor Autoritäten. Wo rohe Kraft, Gewalt und Witz
vorherrschend sind, stellen Geschmack und höherer Flug der Phantasie sich selten
ein. In einem Lande mit einer ungebändigten Natur nimmt auch der Geist
des Volkes etwas von dieser Unbändigkeit an. Die Sucht nach Eroberung und
Bezwingung der Wildnis hemmen die Pflege der feineren Kultur.

Nichol, dem wir in dieser kurzen Wiedergabe seiner Einleitung gefolgt sind,
fügt noch hinzu, daß er bei dieser seiner Übersicht vor allem die Durchschnitts¬
literatur und den Dnrchschnittsgeift, welche entweder den Flitter und das Ge¬
triebe des Broadway oder die Wildheit des Grenzlcbens wiederspiegeln, im
Auge gehabt habe, „denn es fehlt nicht an ernsteren Geistern, welche nach einer
höhern Stufe streben."

Seinen Stoff gruppirt Nichol in einem Dutzend von Abschnitten ziemlich
übersichtlich, aber ohne strengere Methode des Aufbaues und der Unterordnung.
Es ist das die Folge des schon obenerwähnten Mangels an einheitlicher Ent¬
stehung. In den drei ersten Abschnitten: „Die Kolonialzeit," „Die Unabhängig¬
keitsbewegung" und „Amerikanische Politik und Beredtsamkeit" wiegt die Ge¬
schichtschreibung vor. Wir erhalten hier ein fortlaufendes Bild von der geistigen
und politischen Entwicklung Nordamerikas bis zur Entstehung des Bürgerkrieges.
Der Nahmen geht über den literaturgeschichtlichen hinaus. Theologen, Staats¬
männer und Politiker haben im vorigen Jahrhundert und zu Anfang des unsrigen
den Vordergrund der neuen Bühne eingenommen. Das strenge Puritanertum
und die nüchterne Aufgabe der ersten Kolonisirung haben für lange das Spiel
der freien dichtenden Phantasie hintertrieben; später halten die Kämpfe der Re¬
volution und Einrichtung und Ausbau der staatlichen Institutionen für mehrere


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[0569] Line Geschichte der mncrikanischtM Literatur. des äußerlichen Lebens entspringt der Mangel der Jdeenkontinuität. Daß die Amerikaner so fest bei ihrer geschriebenen Verfassung beharren, rührt zum Teil daher, daß sie sich bewußt sind, wenig andre politische Sicherhcitsanker zu be¬ sitzen. Aber innerhalb des Rahmens ihrer Verfassung halten sie alles für er¬ laubt; europäischer Idealismus und krasser Materialismus werden einer nach dem andern übertrieben, ihre Schriftsteller verherrlichen jede Gestaltung des menschlichen Daseins, von der asketischen an bis zur halbwilden. Der Zustand der Unbeständigkeit wird genährt durch die rapiden Änderungen im Handel und . durch das beständige Verschmelzen von einer Klasse in die andre, wodurch alle festen Merkzeichen bis auf dasjenige einer flüchtigen öffentlichen Meinung weg¬ getrieben werden. Der größte Fehler der Amerikaner ist ihre Hast; sie bleiben nicht stehen, um zu prüfen und die Einzelheiten zu studiren, sondern begnügen sich mit Allgemeinheiten, welche mehr zu oberflächlichen Schlüssen als zu einer tieferen Erkenntnis führen. Während die aristokratischen Literaturen im Formalismus erstarren, ver¬ fallen demokratische gern ins Gegenteil, vollends wenn sie so jung sind wie die amerikanische. Da herrscht rücksichtsloses jugendliches Drängen ohne Selbst- beschcidung und Achtung vor Autoritäten. Wo rohe Kraft, Gewalt und Witz vorherrschend sind, stellen Geschmack und höherer Flug der Phantasie sich selten ein. In einem Lande mit einer ungebändigten Natur nimmt auch der Geist des Volkes etwas von dieser Unbändigkeit an. Die Sucht nach Eroberung und Bezwingung der Wildnis hemmen die Pflege der feineren Kultur. Nichol, dem wir in dieser kurzen Wiedergabe seiner Einleitung gefolgt sind, fügt noch hinzu, daß er bei dieser seiner Übersicht vor allem die Durchschnitts¬ literatur und den Dnrchschnittsgeift, welche entweder den Flitter und das Ge¬ triebe des Broadway oder die Wildheit des Grenzlcbens wiederspiegeln, im Auge gehabt habe, „denn es fehlt nicht an ernsteren Geistern, welche nach einer höhern Stufe streben." Seinen Stoff gruppirt Nichol in einem Dutzend von Abschnitten ziemlich übersichtlich, aber ohne strengere Methode des Aufbaues und der Unterordnung. Es ist das die Folge des schon obenerwähnten Mangels an einheitlicher Ent¬ stehung. In den drei ersten Abschnitten: „Die Kolonialzeit," „Die Unabhängig¬ keitsbewegung" und „Amerikanische Politik und Beredtsamkeit" wiegt die Ge¬ schichtschreibung vor. Wir erhalten hier ein fortlaufendes Bild von der geistigen und politischen Entwicklung Nordamerikas bis zur Entstehung des Bürgerkrieges. Der Nahmen geht über den literaturgeschichtlichen hinaus. Theologen, Staats¬ männer und Politiker haben im vorigen Jahrhundert und zu Anfang des unsrigen den Vordergrund der neuen Bühne eingenommen. Das strenge Puritanertum und die nüchterne Aufgabe der ersten Kolonisirung haben für lange das Spiel der freien dichtenden Phantasie hintertrieben; später halten die Kämpfe der Re¬ volution und Einrichtung und Ausbau der staatlichen Institutionen für mehrere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/569>, abgerufen am 28.07.2024.