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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

jchcinung im ganzen, nicht einzelne Persönlichkeiten, die sich der Richtung ange¬
schlossen haben, weil sie vielleicht glaubten, es werde sich in dem Verein für
Sozialpolitik der Kern zu einer praktischen sozialreformatorischen Richtung bilden
und es werde von ihm ans sich eine große, einschneidende Bewegung im Sinne
stetiger sozialer Entwicklung erheben können. Diese Meinung hat harte Ent¬
täuschung erfahren. Die Begründer des Vereins für Sozialpolitik konnten nicht
mehr die Thatsache des abschüssigen Ganges der sozialen Verhältnisse unter dem
Einflüsse des Manchestertums verkennen. Aber weiter bis zu dieser Erkenntnis
waren offenbar nur ihrer wenige gelangt; die Mehrzahl wollte ohne Zweifel
erst Führung für den praktischen Weg im Vereine finden.

Daß der Verein für Sozialpolitik damit gleich von vornherein in eine
schwache Stellung dem Volkswirtschaftlichen Kongreß gegenüber kam, liegt auf
der Hand. Der Volkswirtschaftliche Kongreß beherrschte als Vertreter des
Manchestertums die sozialpolitische Debatte und Praxis in Deutschland. Er
beherrschte beides deshalb, weil er wußte, was er wollte, weil seine Angehörigen
auch dem Wollen entsprechend handelten. Und wenn auch das, was der Volks¬
wirtschaftliche Kongreß und seine Angehörigen wollten, falsch war, wenn auch
der Weg, auf dem sie die deutsche Nation führten, zum Abgrunde ging, man
weiß, daß ein starker und ungehemmter Strom abwärts nur umso sicherer alles
in der Nähe mit sich reißt; man weiß auch, daß Bauleute, die zwar einsehen,
es müsse hier ein Damm gebaut und es müsse gerettet werden, die aber nicht
wissen, ivie dies anzufangen ist, und die sich im Angesicht des reißenden Stromes
erst über die Mittel, ihm beizukommen, berate" wolle", nichts Sonderliches aus¬
richten werden.

Schon die erste" Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik ließen keinen
Zweifel über seine Schwäche und über die seiner Angehörigen; Versuche, den Pelz
zu waschen, ohne ihn naß zu machen, können immer nur das Kopfschütteln, nicht
den Beifall klarer Köpfe erwecken. Als nun gar nach einigen Jahren schon der
Verein für Sozialpolitik sich mit dem Volkswirtschaftlichen Kongreß zu gemein¬
samer Versammlung verband, da war dies nichts anders als ein Sprung in
den Strom, den man dämmen wollte. Und in diesem Strome ist denn auch
der Verein für Sozialpolitik, von dem sich bei seiner Gründung viele vieles
versprachen, ertrunken. Denn wenn er auch abermals nach nungen Jahren
wieder auftauchte und in Frankfurt "selbständige" Sitzungen abhielt, in diesen
führte das große Wort der Reichstagsabgeordnete Sonncmann und ein andres
Mitglied der famosen "Volkspartei," Herr Spier. Und die Verhandlungen
verliefen ganz zum Wohlgefallen dieser beiden.

Indes nicht nur auf dem gewissermaßen praktischen Boden der Ver¬
sammlungsthätigkeit -- denn von ihm ans lassen sich starke, tiefe und nach¬
haltige Anregungen für weite Kreise geben -- hat der Kathedersozialismus
Fiasko gemacht. Auch da, wo er aus seiner eignen Erkenntnis Schlüsse zu


Fortschritte der sozialpolitischen Debatte.

jchcinung im ganzen, nicht einzelne Persönlichkeiten, die sich der Richtung ange¬
schlossen haben, weil sie vielleicht glaubten, es werde sich in dem Verein für
Sozialpolitik der Kern zu einer praktischen sozialreformatorischen Richtung bilden
und es werde von ihm ans sich eine große, einschneidende Bewegung im Sinne
stetiger sozialer Entwicklung erheben können. Diese Meinung hat harte Ent¬
täuschung erfahren. Die Begründer des Vereins für Sozialpolitik konnten nicht
mehr die Thatsache des abschüssigen Ganges der sozialen Verhältnisse unter dem
Einflüsse des Manchestertums verkennen. Aber weiter bis zu dieser Erkenntnis
waren offenbar nur ihrer wenige gelangt; die Mehrzahl wollte ohne Zweifel
erst Führung für den praktischen Weg im Vereine finden.

Daß der Verein für Sozialpolitik damit gleich von vornherein in eine
schwache Stellung dem Volkswirtschaftlichen Kongreß gegenüber kam, liegt auf
der Hand. Der Volkswirtschaftliche Kongreß beherrschte als Vertreter des
Manchestertums die sozialpolitische Debatte und Praxis in Deutschland. Er
beherrschte beides deshalb, weil er wußte, was er wollte, weil seine Angehörigen
auch dem Wollen entsprechend handelten. Und wenn auch das, was der Volks¬
wirtschaftliche Kongreß und seine Angehörigen wollten, falsch war, wenn auch
der Weg, auf dem sie die deutsche Nation führten, zum Abgrunde ging, man
weiß, daß ein starker und ungehemmter Strom abwärts nur umso sicherer alles
in der Nähe mit sich reißt; man weiß auch, daß Bauleute, die zwar einsehen,
es müsse hier ein Damm gebaut und es müsse gerettet werden, die aber nicht
wissen, ivie dies anzufangen ist, und die sich im Angesicht des reißenden Stromes
erst über die Mittel, ihm beizukommen, berate» wolle», nichts Sonderliches aus¬
richten werden.

Schon die erste» Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik ließen keinen
Zweifel über seine Schwäche und über die seiner Angehörigen; Versuche, den Pelz
zu waschen, ohne ihn naß zu machen, können immer nur das Kopfschütteln, nicht
den Beifall klarer Köpfe erwecken. Als nun gar nach einigen Jahren schon der
Verein für Sozialpolitik sich mit dem Volkswirtschaftlichen Kongreß zu gemein¬
samer Versammlung verband, da war dies nichts anders als ein Sprung in
den Strom, den man dämmen wollte. Und in diesem Strome ist denn auch
der Verein für Sozialpolitik, von dem sich bei seiner Gründung viele vieles
versprachen, ertrunken. Denn wenn er auch abermals nach nungen Jahren
wieder auftauchte und in Frankfurt „selbständige" Sitzungen abhielt, in diesen
führte das große Wort der Reichstagsabgeordnete Sonncmann und ein andres
Mitglied der famosen „Volkspartei," Herr Spier. Und die Verhandlungen
verliefen ganz zum Wohlgefallen dieser beiden.

Indes nicht nur auf dem gewissermaßen praktischen Boden der Ver¬
sammlungsthätigkeit — denn von ihm ans lassen sich starke, tiefe und nach¬
haltige Anregungen für weite Kreise geben — hat der Kathedersozialismus
Fiasko gemacht. Auch da, wo er aus seiner eignen Erkenntnis Schlüsse zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/546>, abgerufen am 28.07.2024.