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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neuere Aunstliteratur.

mechanisches Verfahren zu verzichten und die menschliche Hand zu Hilfe zu
nehmen. Wir haben aber inzwischen die Zeit der mageren und ausdruckslosen
Stahlstichtechnik längst überwunden. In der Radirung ist uns eine repro-
duzirende Kunst erwachsen, welche wie keine andre den malerischen Charakter
eines Gemäldes festzuhalten weiß, ohne die Strenge der Zeichnung zu vernach¬
lässigen. Die Leichtigkeit, mit welcher der Radirer die Nadel handhaben kann,
gestattet ihm, allen Absichten des Künstlers, jedem Pinselstriche gerecht zu werden,
in der Licht- und Schattenwirkung mit dem Originale zu wetteifern und selbst
ein Kunstwerk von harmonischem Eindruck zu schaffen. Die Radirung hat also
nicht bloß den sinnlichen Vorzug größerer Deutlichkeit vor der Photographie
voraus, sondern vor allen Dingen denjenigen der künstlerischen Selbständigkeit.
Der Radirer dringt in den Geist eines Kunstwerkes ein und spielt zugleich die
Rolle eines Erklärers, welcher uns zu einem leichteren Verständnisse des dar¬
gestellten Objektes verhilft.

In seiner Eigenschaft als Herausgeber der "Zeitschrift für bildende Kunst"
hat C. von Lützow gemeinsam mit dem Verleger E. A. Seemann gewissermaßen
eine Pflanzschule für Radirer begründet, deren Ergebnisse ihm bei diesen und
andern Publikationen, z. B. bei dem Belvederewerk, zu Gute kommen. An den
"Kunstschätzen Italiens" wirken W. Unger, E. Forberg, W. Wörnle, W. Kraus¬
kopf, L. H. Fischer -- damit wir nur die bekanntesten Namen nennen -- mit,
und sie haben bereits einzelne Blätter von auserlesener Schönheit beigesteuert,
welche nicht nur Werke der Malerei, sondern auch solche der Architektur und
Plastik wiedergeben. Aus der Zahl der letztern heben wir nur das Reiter¬
denkmal des Colleoni in Venedig, ein mit gewohnter Bravour ausgeführtes
Blatt von W. Unger, Donatellos Bronzestatue des David von P. Halm, ein
Madonnenrelief des Michelangelo von P. Gros und den Mailänder Dom nach
einer Allsehen Aquarelle von K. von siegt hervor. Bei der Reproduktion von
Gemälden war die Aufgabe der Radirer noch um vieles schwieriger, weil es
sich zum Teil um weltberühmte Werke handelt, die jedem Kunstfreunde tief im
Gedächtnis haften und mit deren Reproduktion sich schon die ausgezeichnetsten
Stecher beschäftigt haben. Gleichwohl kann sich Angers Bella ti Tiziano neben
Mandel behaupten, namentlich was die Leuchtkraft des Fleisches und die zarte
Modellirung des Halses betrifft. Nächst Rembrandt und Rubens ist Tizian
immer der dankbarste Vorwurf für Meister Angers Nadel. Fr. Böttchers Ra¬
dirung nach Raffaels Madonna della Sedia faßt trotz des kleinen Formats den
ganzen Liebreiz dieses köstlichen Bildes zusammen, und selbst die stolze Schön¬
heit und Hoheit der heiligen Barbara von Palma vecchio ist durch Woernle
soweit zum Ausdruck gebracht worden, wie dies bei der starken Verkleinerung
überhaupt möglich war. Als besonders wohlgelungene Blätter heben wir noch
die Bellinische Madonna in den Frari in Venedig von P. Halm, Antonius und
Kleopatra nach Tiepolo von Woernle, ein Bildnis nach Moroni von K. von siegt


Neuere Aunstliteratur.

mechanisches Verfahren zu verzichten und die menschliche Hand zu Hilfe zu
nehmen. Wir haben aber inzwischen die Zeit der mageren und ausdruckslosen
Stahlstichtechnik längst überwunden. In der Radirung ist uns eine repro-
duzirende Kunst erwachsen, welche wie keine andre den malerischen Charakter
eines Gemäldes festzuhalten weiß, ohne die Strenge der Zeichnung zu vernach¬
lässigen. Die Leichtigkeit, mit welcher der Radirer die Nadel handhaben kann,
gestattet ihm, allen Absichten des Künstlers, jedem Pinselstriche gerecht zu werden,
in der Licht- und Schattenwirkung mit dem Originale zu wetteifern und selbst
ein Kunstwerk von harmonischem Eindruck zu schaffen. Die Radirung hat also
nicht bloß den sinnlichen Vorzug größerer Deutlichkeit vor der Photographie
voraus, sondern vor allen Dingen denjenigen der künstlerischen Selbständigkeit.
Der Radirer dringt in den Geist eines Kunstwerkes ein und spielt zugleich die
Rolle eines Erklärers, welcher uns zu einem leichteren Verständnisse des dar¬
gestellten Objektes verhilft.

In seiner Eigenschaft als Herausgeber der „Zeitschrift für bildende Kunst"
hat C. von Lützow gemeinsam mit dem Verleger E. A. Seemann gewissermaßen
eine Pflanzschule für Radirer begründet, deren Ergebnisse ihm bei diesen und
andern Publikationen, z. B. bei dem Belvederewerk, zu Gute kommen. An den
„Kunstschätzen Italiens" wirken W. Unger, E. Forberg, W. Wörnle, W. Kraus¬
kopf, L. H. Fischer — damit wir nur die bekanntesten Namen nennen — mit,
und sie haben bereits einzelne Blätter von auserlesener Schönheit beigesteuert,
welche nicht nur Werke der Malerei, sondern auch solche der Architektur und
Plastik wiedergeben. Aus der Zahl der letztern heben wir nur das Reiter¬
denkmal des Colleoni in Venedig, ein mit gewohnter Bravour ausgeführtes
Blatt von W. Unger, Donatellos Bronzestatue des David von P. Halm, ein
Madonnenrelief des Michelangelo von P. Gros und den Mailänder Dom nach
einer Allsehen Aquarelle von K. von siegt hervor. Bei der Reproduktion von
Gemälden war die Aufgabe der Radirer noch um vieles schwieriger, weil es
sich zum Teil um weltberühmte Werke handelt, die jedem Kunstfreunde tief im
Gedächtnis haften und mit deren Reproduktion sich schon die ausgezeichnetsten
Stecher beschäftigt haben. Gleichwohl kann sich Angers Bella ti Tiziano neben
Mandel behaupten, namentlich was die Leuchtkraft des Fleisches und die zarte
Modellirung des Halses betrifft. Nächst Rembrandt und Rubens ist Tizian
immer der dankbarste Vorwurf für Meister Angers Nadel. Fr. Böttchers Ra¬
dirung nach Raffaels Madonna della Sedia faßt trotz des kleinen Formats den
ganzen Liebreiz dieses köstlichen Bildes zusammen, und selbst die stolze Schön¬
heit und Hoheit der heiligen Barbara von Palma vecchio ist durch Woernle
soweit zum Ausdruck gebracht worden, wie dies bei der starken Verkleinerung
überhaupt möglich war. Als besonders wohlgelungene Blätter heben wir noch
die Bellinische Madonna in den Frari in Venedig von P. Halm, Antonius und
Kleopatra nach Tiepolo von Woernle, ein Bildnis nach Moroni von K. von siegt


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[0463] Neuere Aunstliteratur. mechanisches Verfahren zu verzichten und die menschliche Hand zu Hilfe zu nehmen. Wir haben aber inzwischen die Zeit der mageren und ausdruckslosen Stahlstichtechnik längst überwunden. In der Radirung ist uns eine repro- duzirende Kunst erwachsen, welche wie keine andre den malerischen Charakter eines Gemäldes festzuhalten weiß, ohne die Strenge der Zeichnung zu vernach¬ lässigen. Die Leichtigkeit, mit welcher der Radirer die Nadel handhaben kann, gestattet ihm, allen Absichten des Künstlers, jedem Pinselstriche gerecht zu werden, in der Licht- und Schattenwirkung mit dem Originale zu wetteifern und selbst ein Kunstwerk von harmonischem Eindruck zu schaffen. Die Radirung hat also nicht bloß den sinnlichen Vorzug größerer Deutlichkeit vor der Photographie voraus, sondern vor allen Dingen denjenigen der künstlerischen Selbständigkeit. Der Radirer dringt in den Geist eines Kunstwerkes ein und spielt zugleich die Rolle eines Erklärers, welcher uns zu einem leichteren Verständnisse des dar¬ gestellten Objektes verhilft. In seiner Eigenschaft als Herausgeber der „Zeitschrift für bildende Kunst" hat C. von Lützow gemeinsam mit dem Verleger E. A. Seemann gewissermaßen eine Pflanzschule für Radirer begründet, deren Ergebnisse ihm bei diesen und andern Publikationen, z. B. bei dem Belvederewerk, zu Gute kommen. An den „Kunstschätzen Italiens" wirken W. Unger, E. Forberg, W. Wörnle, W. Kraus¬ kopf, L. H. Fischer — damit wir nur die bekanntesten Namen nennen — mit, und sie haben bereits einzelne Blätter von auserlesener Schönheit beigesteuert, welche nicht nur Werke der Malerei, sondern auch solche der Architektur und Plastik wiedergeben. Aus der Zahl der letztern heben wir nur das Reiter¬ denkmal des Colleoni in Venedig, ein mit gewohnter Bravour ausgeführtes Blatt von W. Unger, Donatellos Bronzestatue des David von P. Halm, ein Madonnenrelief des Michelangelo von P. Gros und den Mailänder Dom nach einer Allsehen Aquarelle von K. von siegt hervor. Bei der Reproduktion von Gemälden war die Aufgabe der Radirer noch um vieles schwieriger, weil es sich zum Teil um weltberühmte Werke handelt, die jedem Kunstfreunde tief im Gedächtnis haften und mit deren Reproduktion sich schon die ausgezeichnetsten Stecher beschäftigt haben. Gleichwohl kann sich Angers Bella ti Tiziano neben Mandel behaupten, namentlich was die Leuchtkraft des Fleisches und die zarte Modellirung des Halses betrifft. Nächst Rembrandt und Rubens ist Tizian immer der dankbarste Vorwurf für Meister Angers Nadel. Fr. Böttchers Ra¬ dirung nach Raffaels Madonna della Sedia faßt trotz des kleinen Formats den ganzen Liebreiz dieses köstlichen Bildes zusammen, und selbst die stolze Schön¬ heit und Hoheit der heiligen Barbara von Palma vecchio ist durch Woernle soweit zum Ausdruck gebracht worden, wie dies bei der starken Verkleinerung überhaupt möglich war. Als besonders wohlgelungene Blätter heben wir noch die Bellinische Madonna in den Frari in Venedig von P. Halm, Antonius und Kleopatra nach Tiepolo von Woernle, ein Bildnis nach Moroni von K. von siegt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/463>, abgerufen am 28.07.2024.