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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Lntstehung des Faust.

soll; nur die philosophischen Kommentatoren haben sich an ihren Sinn, aber
zur Erhnschung desselben auch verzweifelte Sprünge gemacht, die ihnen viel¬
seitigen Spott eingetragen. Uns bleibt freilich nichts übrig, als auch an dieses
Rätsel uns zu wagen. Denn mit dem Dekret der wohlfeilsten Weisheit: Un¬
sinn, Unsinn! haben wir nirgend etwas zu schaffen.

Nun kommt jedoch etwas, was die schon verzweifelte Aufgabe noch mehr
erschwert. Am 11. August 1787 hatte Goethe zuversichtlich aus Rom (Ita¬
lienische Reise) geschrieben: der fertige Faust solle auf seinem Mantel als
Kurier des Dichters Ankunft in Deutschland melden. Wir wissen, daß nachdem
gleichwohl erst im Frühjahr 1788 der Faden scheinbar gefunden worden, die
Ausspinnung desselben bei der Szene der Hexenküche geblieben war. Der fertige
Faust ward nicht mit aus Italien gebracht, aber auch in Weimar keineswegs
alsbald zustande gebracht, das Gedicht erschien vielmehr 1790 als Fragment,
allerdings mit der Szene der Hexenküche. Aber von den andern darin mit¬
geteilten Szenen ist es zweifelhaft, ob auch nur eine einzige nach dem in Rom
gefundenen Plan gearbeitet ist, ob sie nicht sämtlich dem Frankfurter Faust an¬
gehören und höchstens zum Teil überarbeitet worden sind.

Der dritte Ansatz zur Faustdichtung ist, wie wir aus dem Schiller-
Goethischen Briefwechsel ganz genau wissen, von dem Dichter im Jahre 1797
genommen worden. Seit diesem Ansatz im wesentlichen mit geistiger Kontinuität,
wenn auch nicht ohne zeitliche Unterbrechungen, fortarbeitend, hat der Dichter
den ersten Teil des Faust bis zum Jahre 1808 vollendet. Ob aber nach dem
l?88 zu Rom gefundenen Plan oder nach einem neuen dritten Plan, das er¬
hellt aus dem Schiller-Goethischen Briefwechsel nicht mit äußerer Sicherheit.
Immerhin legen die Briefsteller schon äußerlich nahe, daß dem Dichter ein neuer
Plan, wenn auch erst allmählich bei der Fortarbeit, aufgegangen, wofür jeden¬
falls die innere Wahrscheinlichkeit spricht. Denn es ist wiederum sehr unwahr¬
scheinlich, daß nur äußere Gründe die lange Verzögerung in dem Abschluß des
Gedichtes herbeigeführt haben sollen, nachdem der Plan der Fortführung zwanzig
Jahre vorher anscheinend glücklich gefunden worden. Vielmehr war wohl auch
dieses Glück des Findens noch nicht das rechte.

So hätten wir uns also um den Kern dreier Faustpläne zu bemühen und
sodann um die Erkenntnis, wie diese Pläne entstanden und warum sie durch
einander ersetzt wurden. Dann wären wir zum Verständnis des ersten Teiles
gelangt, welches uns aber zugleich den Schlüssel geben müßte, wie und warum
die mit den spätern Motiven des ersten Teiles zum Teil gleichzeitig entstandenen
Motive des zweiten Teiles ausgeschieden und zu einer eignen Dichtung ver¬
arbeitet werden mußten.




Die Lntstehung des Faust.

soll; nur die philosophischen Kommentatoren haben sich an ihren Sinn, aber
zur Erhnschung desselben auch verzweifelte Sprünge gemacht, die ihnen viel¬
seitigen Spott eingetragen. Uns bleibt freilich nichts übrig, als auch an dieses
Rätsel uns zu wagen. Denn mit dem Dekret der wohlfeilsten Weisheit: Un¬
sinn, Unsinn! haben wir nirgend etwas zu schaffen.

Nun kommt jedoch etwas, was die schon verzweifelte Aufgabe noch mehr
erschwert. Am 11. August 1787 hatte Goethe zuversichtlich aus Rom (Ita¬
lienische Reise) geschrieben: der fertige Faust solle auf seinem Mantel als
Kurier des Dichters Ankunft in Deutschland melden. Wir wissen, daß nachdem
gleichwohl erst im Frühjahr 1788 der Faden scheinbar gefunden worden, die
Ausspinnung desselben bei der Szene der Hexenküche geblieben war. Der fertige
Faust ward nicht mit aus Italien gebracht, aber auch in Weimar keineswegs
alsbald zustande gebracht, das Gedicht erschien vielmehr 1790 als Fragment,
allerdings mit der Szene der Hexenküche. Aber von den andern darin mit¬
geteilten Szenen ist es zweifelhaft, ob auch nur eine einzige nach dem in Rom
gefundenen Plan gearbeitet ist, ob sie nicht sämtlich dem Frankfurter Faust an¬
gehören und höchstens zum Teil überarbeitet worden sind.

Der dritte Ansatz zur Faustdichtung ist, wie wir aus dem Schiller-
Goethischen Briefwechsel ganz genau wissen, von dem Dichter im Jahre 1797
genommen worden. Seit diesem Ansatz im wesentlichen mit geistiger Kontinuität,
wenn auch nicht ohne zeitliche Unterbrechungen, fortarbeitend, hat der Dichter
den ersten Teil des Faust bis zum Jahre 1808 vollendet. Ob aber nach dem
l?88 zu Rom gefundenen Plan oder nach einem neuen dritten Plan, das er¬
hellt aus dem Schiller-Goethischen Briefwechsel nicht mit äußerer Sicherheit.
Immerhin legen die Briefsteller schon äußerlich nahe, daß dem Dichter ein neuer
Plan, wenn auch erst allmählich bei der Fortarbeit, aufgegangen, wofür jeden¬
falls die innere Wahrscheinlichkeit spricht. Denn es ist wiederum sehr unwahr¬
scheinlich, daß nur äußere Gründe die lange Verzögerung in dem Abschluß des
Gedichtes herbeigeführt haben sollen, nachdem der Plan der Fortführung zwanzig
Jahre vorher anscheinend glücklich gefunden worden. Vielmehr war wohl auch
dieses Glück des Findens noch nicht das rechte.

So hätten wir uns also um den Kern dreier Faustpläne zu bemühen und
sodann um die Erkenntnis, wie diese Pläne entstanden und warum sie durch
einander ersetzt wurden. Dann wären wir zum Verständnis des ersten Teiles
gelangt, welches uns aber zugleich den Schlüssel geben müßte, wie und warum
die mit den spätern Motiven des ersten Teiles zum Teil gleichzeitig entstandenen
Motive des zweiten Teiles ausgeschieden und zu einer eignen Dichtung ver¬
arbeitet werden mußten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/455>, abgerufen am 27.07.2024.