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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Die Entstehung des Faust.

furt dem Herzog und seiner Gemahlin vorgestellt, am 7. November 1775 traf
er in Weimar ein. In welcher Verfassung war damals die Faustdichtung?
Wir haben eine Äußerung des Dichters, freilich aus der spätesten Zeit, bei
Eckermann: "Der Faust entstand mit meinem Werther, ich brachte ihn im Jahre
1775 mit nach Weimar." Diese Äußerung klingt doch, als bezöge sie sich auf
ein fertiges Werk, und diese Annahme scheint sich zu befestigen, wenn man die
Äußerung des Dichters zusammenhält mit den anderweitigen Zeugnissen über
den der Vollendung nahen Zustand des Faust in den Jahren 1774 und 1775.
Die gewöhnliche Annahme ist freilich, Goethe sei durch die neuen Lebensver¬
hältnisse in Weimar, durch die Entwürfe zu neuen Dichtungen, die sich in ihm
hervordrängten, an der Vollendung des Faust verhindert worden, sodaß er erst
auf der italienischen Reise in Rom, dreizehn Jahre nach der Ankunft in Weimar,
den Faden wieder aufzunehmen versucht habe. Diese Ansicht könnte man dadurch
bestätigt finden, daß in Weimar, wo Goethe öfters den Faust -- aber nur
teilweise -- vorlas, das Stück als ein bald erscheinendes, also bald zu voll¬
endendes Werk angesehen wurde, wenn nicht als ein vollendetes, dem nur die
letzte Feile oder der letzte Schluß fehle. (Siehe auch dafür die Belege bei
Löper a. a. O.)

Ein Gegenzeugnis aber muß man in dem Briefe Goethes an Göschen vom
Juli 1786 und in des letzteren Ankündigung von der ersten Gesamtausgabe
der Goethischen Schriften sehen. (Löver a. a. O.) Da wird nämlich das Er¬
scheinen des Faust für den Sommer 1787 verheißen, "sicher als ein Fragment,
doch mit der Aussicht auf mögliche Vollendung." Diese Äußerung läßt einen
doppelten Schluß zu. Wenn der Dichter 1786 noch unsicher war, ob er nicht den
Faust nur als Fragment, anstatt vollendet, zu veröffentlichen genötigt sei, so
bietet sich zur Auffindung des Grundes folgende Alternative dar. Entweder war
die Dichtung noch nicht soweit vorgerückt, wie die andern Zeugnisse angeben,
sodaß sie eben nur des letzten Schlusses bedurft hätten, oder dem Dichter war
der Zweifel entstanden, ob er den bisherigen Plan festhalten könne, und wenn
nicht, ob er den Abschluß des Gedichtes nach einem neuen Plane innerhalb eines
Jahres herbeizuführen vermöge. Die letztere Annahme ist die allein zulässige.
Mit ihr wird aber die oft gehörte Annahme hinfällig, daß der Dichter durch
äußere Verhältnisse, durch neue, dem Faust sich vordrängende Entwürfe u. dergl.
an der baldigen Vollendung desselben in Weimar gehindert worden sei.

Schon hier drängt sich die Wahrscheinlichkeit auf, daß der Faust 1776 in Frank¬
furt fertig war, wenn nicht in allen, doch in den meisten Szenen und jedenfalls in
der Idee des Ganzen, die wahrscheinlich spätestens 1774 im Haupt des Dichters
sich vollendete. Daß nun dieser erste, in der Idee ganze Faust in der Aus¬
führung niemals vollendet worden, oder wenn er -- was wir mit vollkommener
Sicherheit doch nicht in Abrede stellen können -- in Frankfurt vollendet gewesen
sein sollte, niemals der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, und daß er später tief-


Die Entstehung des Faust.

furt dem Herzog und seiner Gemahlin vorgestellt, am 7. November 1775 traf
er in Weimar ein. In welcher Verfassung war damals die Faustdichtung?
Wir haben eine Äußerung des Dichters, freilich aus der spätesten Zeit, bei
Eckermann: „Der Faust entstand mit meinem Werther, ich brachte ihn im Jahre
1775 mit nach Weimar." Diese Äußerung klingt doch, als bezöge sie sich auf
ein fertiges Werk, und diese Annahme scheint sich zu befestigen, wenn man die
Äußerung des Dichters zusammenhält mit den anderweitigen Zeugnissen über
den der Vollendung nahen Zustand des Faust in den Jahren 1774 und 1775.
Die gewöhnliche Annahme ist freilich, Goethe sei durch die neuen Lebensver¬
hältnisse in Weimar, durch die Entwürfe zu neuen Dichtungen, die sich in ihm
hervordrängten, an der Vollendung des Faust verhindert worden, sodaß er erst
auf der italienischen Reise in Rom, dreizehn Jahre nach der Ankunft in Weimar,
den Faden wieder aufzunehmen versucht habe. Diese Ansicht könnte man dadurch
bestätigt finden, daß in Weimar, wo Goethe öfters den Faust — aber nur
teilweise — vorlas, das Stück als ein bald erscheinendes, also bald zu voll¬
endendes Werk angesehen wurde, wenn nicht als ein vollendetes, dem nur die
letzte Feile oder der letzte Schluß fehle. (Siehe auch dafür die Belege bei
Löper a. a. O.)

Ein Gegenzeugnis aber muß man in dem Briefe Goethes an Göschen vom
Juli 1786 und in des letzteren Ankündigung von der ersten Gesamtausgabe
der Goethischen Schriften sehen. (Löver a. a. O.) Da wird nämlich das Er¬
scheinen des Faust für den Sommer 1787 verheißen, „sicher als ein Fragment,
doch mit der Aussicht auf mögliche Vollendung." Diese Äußerung läßt einen
doppelten Schluß zu. Wenn der Dichter 1786 noch unsicher war, ob er nicht den
Faust nur als Fragment, anstatt vollendet, zu veröffentlichen genötigt sei, so
bietet sich zur Auffindung des Grundes folgende Alternative dar. Entweder war
die Dichtung noch nicht soweit vorgerückt, wie die andern Zeugnisse angeben,
sodaß sie eben nur des letzten Schlusses bedurft hätten, oder dem Dichter war
der Zweifel entstanden, ob er den bisherigen Plan festhalten könne, und wenn
nicht, ob er den Abschluß des Gedichtes nach einem neuen Plane innerhalb eines
Jahres herbeizuführen vermöge. Die letztere Annahme ist die allein zulässige.
Mit ihr wird aber die oft gehörte Annahme hinfällig, daß der Dichter durch
äußere Verhältnisse, durch neue, dem Faust sich vordrängende Entwürfe u. dergl.
an der baldigen Vollendung desselben in Weimar gehindert worden sei.

Schon hier drängt sich die Wahrscheinlichkeit auf, daß der Faust 1776 in Frank¬
furt fertig war, wenn nicht in allen, doch in den meisten Szenen und jedenfalls in
der Idee des Ganzen, die wahrscheinlich spätestens 1774 im Haupt des Dichters
sich vollendete. Daß nun dieser erste, in der Idee ganze Faust in der Aus¬
führung niemals vollendet worden, oder wenn er — was wir mit vollkommener
Sicherheit doch nicht in Abrede stellen können — in Frankfurt vollendet gewesen
sein sollte, niemals der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, und daß er später tief-


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[0453] Die Entstehung des Faust. furt dem Herzog und seiner Gemahlin vorgestellt, am 7. November 1775 traf er in Weimar ein. In welcher Verfassung war damals die Faustdichtung? Wir haben eine Äußerung des Dichters, freilich aus der spätesten Zeit, bei Eckermann: „Der Faust entstand mit meinem Werther, ich brachte ihn im Jahre 1775 mit nach Weimar." Diese Äußerung klingt doch, als bezöge sie sich auf ein fertiges Werk, und diese Annahme scheint sich zu befestigen, wenn man die Äußerung des Dichters zusammenhält mit den anderweitigen Zeugnissen über den der Vollendung nahen Zustand des Faust in den Jahren 1774 und 1775. Die gewöhnliche Annahme ist freilich, Goethe sei durch die neuen Lebensver¬ hältnisse in Weimar, durch die Entwürfe zu neuen Dichtungen, die sich in ihm hervordrängten, an der Vollendung des Faust verhindert worden, sodaß er erst auf der italienischen Reise in Rom, dreizehn Jahre nach der Ankunft in Weimar, den Faden wieder aufzunehmen versucht habe. Diese Ansicht könnte man dadurch bestätigt finden, daß in Weimar, wo Goethe öfters den Faust — aber nur teilweise — vorlas, das Stück als ein bald erscheinendes, also bald zu voll¬ endendes Werk angesehen wurde, wenn nicht als ein vollendetes, dem nur die letzte Feile oder der letzte Schluß fehle. (Siehe auch dafür die Belege bei Löper a. a. O.) Ein Gegenzeugnis aber muß man in dem Briefe Goethes an Göschen vom Juli 1786 und in des letzteren Ankündigung von der ersten Gesamtausgabe der Goethischen Schriften sehen. (Löver a. a. O.) Da wird nämlich das Er¬ scheinen des Faust für den Sommer 1787 verheißen, „sicher als ein Fragment, doch mit der Aussicht auf mögliche Vollendung." Diese Äußerung läßt einen doppelten Schluß zu. Wenn der Dichter 1786 noch unsicher war, ob er nicht den Faust nur als Fragment, anstatt vollendet, zu veröffentlichen genötigt sei, so bietet sich zur Auffindung des Grundes folgende Alternative dar. Entweder war die Dichtung noch nicht soweit vorgerückt, wie die andern Zeugnisse angeben, sodaß sie eben nur des letzten Schlusses bedurft hätten, oder dem Dichter war der Zweifel entstanden, ob er den bisherigen Plan festhalten könne, und wenn nicht, ob er den Abschluß des Gedichtes nach einem neuen Plane innerhalb eines Jahres herbeizuführen vermöge. Die letztere Annahme ist die allein zulässige. Mit ihr wird aber die oft gehörte Annahme hinfällig, daß der Dichter durch äußere Verhältnisse, durch neue, dem Faust sich vordrängende Entwürfe u. dergl. an der baldigen Vollendung desselben in Weimar gehindert worden sei. Schon hier drängt sich die Wahrscheinlichkeit auf, daß der Faust 1776 in Frank¬ furt fertig war, wenn nicht in allen, doch in den meisten Szenen und jedenfalls in der Idee des Ganzen, die wahrscheinlich spätestens 1774 im Haupt des Dichters sich vollendete. Daß nun dieser erste, in der Idee ganze Faust in der Aus¬ führung niemals vollendet worden, oder wenn er — was wir mit vollkommener Sicherheit doch nicht in Abrede stellen können — in Frankfurt vollendet gewesen sein sollte, niemals der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, und daß er später tief-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/453>, abgerufen am 28.07.2024.