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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Moriz Carriere und seine Gedichte.

Auffassungen derselben Sache, welche in ihrer vollen Wesenheit erfaßt sein will.
I" diesem harmonischen Bestreben bricht die künstlerische Natur des Mannes
hervor, der in dem Schönen die Versöhnung der Gegensätze als konkrete Wirk-
lichkeit schaut, welche in abstrakter Einseitigkeit in Wissenschaft und Leben sich
bekämpfen. Und in der Chronologie der verschiedenen Gedichte sehen wir die
nllmählige Entwicklung dieser Anschauungen des berühmten Ästhetikers.

Die erste Abteilung der Gedichte trägt die Überschrift: "Glück und Leid
der Liebe." Man würde irregehen, wollte man unter dieser Rubrik nur erotische
Gedichte suchen; Liebe ist ja, wie die Kunst, jene harmonische Vereinigung von
Realen und Idealem, welche der Philosoph in seiner ganzen Weltanschauung
anstrebt, und so ist von den Liebesliedern zu Gedankendichtungen, welche ein¬
gestreut sind, eine natürliche Brücke geschlagen. In diesen Gedichten können
wir zugleich den Lebensgang unsers Philosophen verfolgen, wie ihn derselbe in
der "Gegenwart" (1875, Ur. Is und 16) dargestellt hat. Wir wählen für
unsre Betrachtung diese chronologische Anordnung.

Der Verfasser selbst hat seine Gedichte in fünf Rubriken eingeteilt: die
erste ist die schon genannte; es folgen dann "Lebensbilder," "Stimmen der
Zeit," "Personen gewidmet," "Geschichtsbilder."

In die früheste Zeit (1835) führen uus die sechs Gedichte "Studenten¬
glück." Aus den stimmungsvollen, lyrischen Harmonien derselben, die mit
melodischer Sangbarkeit unser Ohr gefangen nehmen, vernehmen wir aber auch
zugleich jene energischen Dur-Töne sittlicher Begeisterung, des ethischen Enthu¬
siasmus für das Wahre, Gute und Schöne, in deren Pflege der Jüngling
seine Lebensaufgabe sieht. Aus derselben Zeit stammt das schöne Gedicht auf
Goethe: "Die drei Leiern," das in dem Gedanken gipfelt, daß Goethe in
seinen verschiedenen Werken drei verschiedene Seiten seines Genius offenbarte,
die er im "Faust" zusammenfaßt:


Und einmal nahm er zusammen sie all,
Und mächtig die Welt durchbraust
Das Lied der Lieder im vollsten Hall,
Das Lied des Lebens, der Faust.

Aus diesen "Tagen wilden Strebens," geboren aus dem "Drang der Zeit,"
stammt ein herrliches Lied, eine Perle der Sammlung "Allen Heiligen." In
36 Oktave" schildert der jugendliche Dichter hier die großen Heroen der Mensch¬
heit, von Moses bis auf Luther, von Armin bis auf Goethe -- ein hinreißendes
Gedicht, ein poetisches Geschichtsbild ersten Ranges, in welchem Gedanken und
Worte wie ein stolzer Strom dahinrauschcn. "Adlerglcich heben sich die Ge¬
danken sausend, vereint in einer Hymne brausend, nach oben" -- wie der Dichter
in einem Liederzyklus sich einmal cmsdrllckt, der den Titel führt: "Lyrische
Phantasien nach Beethovens L-woll-Symphonie." "Sturmgedauken und Lieder-


Moriz Carriere und seine Gedichte.

Auffassungen derselben Sache, welche in ihrer vollen Wesenheit erfaßt sein will.
I» diesem harmonischen Bestreben bricht die künstlerische Natur des Mannes
hervor, der in dem Schönen die Versöhnung der Gegensätze als konkrete Wirk-
lichkeit schaut, welche in abstrakter Einseitigkeit in Wissenschaft und Leben sich
bekämpfen. Und in der Chronologie der verschiedenen Gedichte sehen wir die
nllmählige Entwicklung dieser Anschauungen des berühmten Ästhetikers.

Die erste Abteilung der Gedichte trägt die Überschrift: „Glück und Leid
der Liebe." Man würde irregehen, wollte man unter dieser Rubrik nur erotische
Gedichte suchen; Liebe ist ja, wie die Kunst, jene harmonische Vereinigung von
Realen und Idealem, welche der Philosoph in seiner ganzen Weltanschauung
anstrebt, und so ist von den Liebesliedern zu Gedankendichtungen, welche ein¬
gestreut sind, eine natürliche Brücke geschlagen. In diesen Gedichten können
wir zugleich den Lebensgang unsers Philosophen verfolgen, wie ihn derselbe in
der „Gegenwart" (1875, Ur. Is und 16) dargestellt hat. Wir wählen für
unsre Betrachtung diese chronologische Anordnung.

Der Verfasser selbst hat seine Gedichte in fünf Rubriken eingeteilt: die
erste ist die schon genannte; es folgen dann „Lebensbilder," „Stimmen der
Zeit," „Personen gewidmet," „Geschichtsbilder."

In die früheste Zeit (1835) führen uus die sechs Gedichte „Studenten¬
glück." Aus den stimmungsvollen, lyrischen Harmonien derselben, die mit
melodischer Sangbarkeit unser Ohr gefangen nehmen, vernehmen wir aber auch
zugleich jene energischen Dur-Töne sittlicher Begeisterung, des ethischen Enthu¬
siasmus für das Wahre, Gute und Schöne, in deren Pflege der Jüngling
seine Lebensaufgabe sieht. Aus derselben Zeit stammt das schöne Gedicht auf
Goethe: „Die drei Leiern," das in dem Gedanken gipfelt, daß Goethe in
seinen verschiedenen Werken drei verschiedene Seiten seines Genius offenbarte,
die er im „Faust" zusammenfaßt:


Und einmal nahm er zusammen sie all,
Und mächtig die Welt durchbraust
Das Lied der Lieder im vollsten Hall,
Das Lied des Lebens, der Faust.

Aus diesen „Tagen wilden Strebens," geboren aus dem „Drang der Zeit,"
stammt ein herrliches Lied, eine Perle der Sammlung „Allen Heiligen." In
36 Oktave» schildert der jugendliche Dichter hier die großen Heroen der Mensch¬
heit, von Moses bis auf Luther, von Armin bis auf Goethe — ein hinreißendes
Gedicht, ein poetisches Geschichtsbild ersten Ranges, in welchem Gedanken und
Worte wie ein stolzer Strom dahinrauschcn. „Adlerglcich heben sich die Ge¬
danken sausend, vereint in einer Hymne brausend, nach oben" — wie der Dichter
in einem Liederzyklus sich einmal cmsdrllckt, der den Titel führt: „Lyrische
Phantasien nach Beethovens L-woll-Symphonie." „Sturmgedauken und Lieder-


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[0365] Moriz Carriere und seine Gedichte. Auffassungen derselben Sache, welche in ihrer vollen Wesenheit erfaßt sein will. I» diesem harmonischen Bestreben bricht die künstlerische Natur des Mannes hervor, der in dem Schönen die Versöhnung der Gegensätze als konkrete Wirk- lichkeit schaut, welche in abstrakter Einseitigkeit in Wissenschaft und Leben sich bekämpfen. Und in der Chronologie der verschiedenen Gedichte sehen wir die nllmählige Entwicklung dieser Anschauungen des berühmten Ästhetikers. Die erste Abteilung der Gedichte trägt die Überschrift: „Glück und Leid der Liebe." Man würde irregehen, wollte man unter dieser Rubrik nur erotische Gedichte suchen; Liebe ist ja, wie die Kunst, jene harmonische Vereinigung von Realen und Idealem, welche der Philosoph in seiner ganzen Weltanschauung anstrebt, und so ist von den Liebesliedern zu Gedankendichtungen, welche ein¬ gestreut sind, eine natürliche Brücke geschlagen. In diesen Gedichten können wir zugleich den Lebensgang unsers Philosophen verfolgen, wie ihn derselbe in der „Gegenwart" (1875, Ur. Is und 16) dargestellt hat. Wir wählen für unsre Betrachtung diese chronologische Anordnung. Der Verfasser selbst hat seine Gedichte in fünf Rubriken eingeteilt: die erste ist die schon genannte; es folgen dann „Lebensbilder," „Stimmen der Zeit," „Personen gewidmet," „Geschichtsbilder." In die früheste Zeit (1835) führen uus die sechs Gedichte „Studenten¬ glück." Aus den stimmungsvollen, lyrischen Harmonien derselben, die mit melodischer Sangbarkeit unser Ohr gefangen nehmen, vernehmen wir aber auch zugleich jene energischen Dur-Töne sittlicher Begeisterung, des ethischen Enthu¬ siasmus für das Wahre, Gute und Schöne, in deren Pflege der Jüngling seine Lebensaufgabe sieht. Aus derselben Zeit stammt das schöne Gedicht auf Goethe: „Die drei Leiern," das in dem Gedanken gipfelt, daß Goethe in seinen verschiedenen Werken drei verschiedene Seiten seines Genius offenbarte, die er im „Faust" zusammenfaßt: Und einmal nahm er zusammen sie all, Und mächtig die Welt durchbraust Das Lied der Lieder im vollsten Hall, Das Lied des Lebens, der Faust. Aus diesen „Tagen wilden Strebens," geboren aus dem „Drang der Zeit," stammt ein herrliches Lied, eine Perle der Sammlung „Allen Heiligen." In 36 Oktave» schildert der jugendliche Dichter hier die großen Heroen der Mensch¬ heit, von Moses bis auf Luther, von Armin bis auf Goethe — ein hinreißendes Gedicht, ein poetisches Geschichtsbild ersten Ranges, in welchem Gedanken und Worte wie ein stolzer Strom dahinrauschcn. „Adlerglcich heben sich die Ge¬ danken sausend, vereint in einer Hymne brausend, nach oben" — wie der Dichter in einem Liederzyklus sich einmal cmsdrllckt, der den Titel führt: „Lyrische Phantasien nach Beethovens L-woll-Symphonie." „Sturmgedauken und Lieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/365>, abgerufen am 27.07.2024.