Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Lntherfeste,

Diese Zustände stehen historisch fest, es ist eine große Thorheit von der
sogenannte" katholischen Geschichtsforschung, sie durch allerlei Künste zu eliminiren
und in allem Ernste den Beweis anzutreten, daß niemals die Kirche weniger
einer Reformation bedurft habe als damals. Nein, sie existirten wirklich und
wurden als unerträglich empfunden, aber niemand sah die Möglichkeit, ihnen
abzuhelfen, da sie im System lagen und niemand das Entweder -- Oder zu
stellen wagte. Der Tetzelsche Unfug war hierbei nur ein Tropfen, aber der¬
jenige, welcher das Gefäß zum Überlaufen brachte.

Die Spannung, welche zur Reformation drängte, war also da, aber sie
bedürfte, um zur Lösung zu kommen, des Mannes, des Reformators.*) Daß
Luther dieser Mann war, daß er "eben vielen andern tüchtigen Leuten doch
als der einzige der gewaltigen Arbeit gewachsen war, wußte die Reformationszeit
sehr wohl. Als Luther, ein geachteter, dem Untergänge geweihter Mann 1521
von Worms zurückkehrte, als er in den Thüringer Wäldern spurlos verschwunden
war und man ihn für tot halten mußte, war die Trauer in Deutschland eine
allgemeine. Damals wurde sein von Cranach gezeichnetes Bild in unzähligen
Exemplaren gedruckt und gekauft, damals brach Dürer in die herzbewegende
Klage aus: "Ach Gott im Himmel, erbarme dich unser! O Herr Jesu Christe,
bitte für dein Volk, erlöse uns zur rechten Zeit, bewahre in uns den wahren,
rechten Glauben, versäumte deine weit getrennten Schafe durch deine Stimme---
Und wenn wir diesen Mann, der klarer geschrieben hat, als irgend einer, der
seit 140 Jahren gelebt hat und dem dn einen solchen evangelischen Geist ge¬
geben hast, verloren haben sollten, so bitten wir dich, o himmlischer Vater,
daß dn deinen heiligen Geist wiederum einem gäbest, der deine heilige christliche
Kirche allenthalben wieder versäumte ^---O ihr frommen Christenmenschen
alle, helft mir fleißig beweinen diesen gottbegeisterten Menschen und Gott bitten,
daß er uns einen andern erleuchteten Mann sende." Aber wen? "O Erasmus
von Rotterdam, wo willst du bleiben? Höre du Ritter Christi, reite hervor
neben den Herrn Jesus, beschütze die Wahrheit, erlange die Märtyrerkrone. Du
bist ja ohnehin ein altes Männchen, lege deine wenigen Jahre wohl an, dem
Glauben zugute... Du kannst den Goliath fällen."

Erasmus und eine Märtyrerkrone! Dieser große Philologe und kleine
Mensch, der bei allem erst erwog, wie er und seine Eitelkeit sich dabei
stehen würde, war nicht der Mann, den Goliath zu fällen. Dennoch war, was
Dürer ausspricht, die allgemeine Meinung. Wäre Luther wirklich tot gewesen,
es hätte ihn niemand ersetzen können.

Luther war, um es mit einem Worte zu sagen, ein ganzer Mann.
Mir schwebt wiederum ein Wort eines auf anderm Gebiete großen Mannes



*) Die Sehnsucht nach der deutschen Einheit war auch Jahrhunderte lang da, doch
hätten sie alle die tausende voll Säugern und Turnern nicht herveigesungcn und - geturnt --
es bedürfte des Mannes, der die reife Zeit pflückte.
Zum Lntherfeste,

Diese Zustände stehen historisch fest, es ist eine große Thorheit von der
sogenannte» katholischen Geschichtsforschung, sie durch allerlei Künste zu eliminiren
und in allem Ernste den Beweis anzutreten, daß niemals die Kirche weniger
einer Reformation bedurft habe als damals. Nein, sie existirten wirklich und
wurden als unerträglich empfunden, aber niemand sah die Möglichkeit, ihnen
abzuhelfen, da sie im System lagen und niemand das Entweder — Oder zu
stellen wagte. Der Tetzelsche Unfug war hierbei nur ein Tropfen, aber der¬
jenige, welcher das Gefäß zum Überlaufen brachte.

Die Spannung, welche zur Reformation drängte, war also da, aber sie
bedürfte, um zur Lösung zu kommen, des Mannes, des Reformators.*) Daß
Luther dieser Mann war, daß er »eben vielen andern tüchtigen Leuten doch
als der einzige der gewaltigen Arbeit gewachsen war, wußte die Reformationszeit
sehr wohl. Als Luther, ein geachteter, dem Untergänge geweihter Mann 1521
von Worms zurückkehrte, als er in den Thüringer Wäldern spurlos verschwunden
war und man ihn für tot halten mußte, war die Trauer in Deutschland eine
allgemeine. Damals wurde sein von Cranach gezeichnetes Bild in unzähligen
Exemplaren gedruckt und gekauft, damals brach Dürer in die herzbewegende
Klage aus: „Ach Gott im Himmel, erbarme dich unser! O Herr Jesu Christe,
bitte für dein Volk, erlöse uns zur rechten Zeit, bewahre in uns den wahren,
rechten Glauben, versäumte deine weit getrennten Schafe durch deine Stimme---
Und wenn wir diesen Mann, der klarer geschrieben hat, als irgend einer, der
seit 140 Jahren gelebt hat und dem dn einen solchen evangelischen Geist ge¬
geben hast, verloren haben sollten, so bitten wir dich, o himmlischer Vater,
daß dn deinen heiligen Geist wiederum einem gäbest, der deine heilige christliche
Kirche allenthalben wieder versäumte ^---O ihr frommen Christenmenschen
alle, helft mir fleißig beweinen diesen gottbegeisterten Menschen und Gott bitten,
daß er uns einen andern erleuchteten Mann sende." Aber wen? „O Erasmus
von Rotterdam, wo willst du bleiben? Höre du Ritter Christi, reite hervor
neben den Herrn Jesus, beschütze die Wahrheit, erlange die Märtyrerkrone. Du
bist ja ohnehin ein altes Männchen, lege deine wenigen Jahre wohl an, dem
Glauben zugute... Du kannst den Goliath fällen."

Erasmus und eine Märtyrerkrone! Dieser große Philologe und kleine
Mensch, der bei allem erst erwog, wie er und seine Eitelkeit sich dabei
stehen würde, war nicht der Mann, den Goliath zu fällen. Dennoch war, was
Dürer ausspricht, die allgemeine Meinung. Wäre Luther wirklich tot gewesen,
es hätte ihn niemand ersetzen können.

Luther war, um es mit einem Worte zu sagen, ein ganzer Mann.
Mir schwebt wiederum ein Wort eines auf anderm Gebiete großen Mannes



*) Die Sehnsucht nach der deutschen Einheit war auch Jahrhunderte lang da, doch
hätten sie alle die tausende voll Säugern und Turnern nicht herveigesungcn und - geturnt —
es bedürfte des Mannes, der die reife Zeit pflückte.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154524"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Lntherfeste,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1072"> Diese Zustände stehen historisch fest, es ist eine große Thorheit von der<lb/>
sogenannte» katholischen Geschichtsforschung, sie durch allerlei Künste zu eliminiren<lb/>
und in allem Ernste den Beweis anzutreten, daß niemals die Kirche weniger<lb/>
einer Reformation bedurft habe als damals. Nein, sie existirten wirklich und<lb/>
wurden als unerträglich empfunden, aber niemand sah die Möglichkeit, ihnen<lb/>
abzuhelfen, da sie im System lagen und niemand das Entweder &#x2014; Oder zu<lb/>
stellen wagte. Der Tetzelsche Unfug war hierbei nur ein Tropfen, aber der¬<lb/>
jenige, welcher das Gefäß zum Überlaufen brachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1073"> Die Spannung, welche zur Reformation drängte, war also da, aber sie<lb/>
bedürfte, um zur Lösung zu kommen, des Mannes, des Reformators.*) Daß<lb/>
Luther dieser Mann war, daß er »eben vielen andern tüchtigen Leuten doch<lb/>
als der einzige der gewaltigen Arbeit gewachsen war, wußte die Reformationszeit<lb/>
sehr wohl. Als Luther, ein geachteter, dem Untergänge geweihter Mann 1521<lb/>
von Worms zurückkehrte, als er in den Thüringer Wäldern spurlos verschwunden<lb/>
war und man ihn für tot halten mußte, war die Trauer in Deutschland eine<lb/>
allgemeine. Damals wurde sein von Cranach gezeichnetes Bild in unzähligen<lb/>
Exemplaren gedruckt und gekauft, damals brach Dürer in die herzbewegende<lb/>
Klage aus: &#x201E;Ach Gott im Himmel, erbarme dich unser! O Herr Jesu Christe,<lb/>
bitte für dein Volk, erlöse uns zur rechten Zeit, bewahre in uns den wahren,<lb/>
rechten Glauben, versäumte deine weit getrennten Schafe durch deine Stimme---<lb/>
Und wenn wir diesen Mann, der klarer geschrieben hat, als irgend einer, der<lb/>
seit 140 Jahren gelebt hat und dem dn einen solchen evangelischen Geist ge¬<lb/>
geben hast, verloren haben sollten, so bitten wir dich, o himmlischer Vater,<lb/>
daß dn deinen heiligen Geist wiederum einem gäbest, der deine heilige christliche<lb/>
Kirche allenthalben wieder versäumte ^---O ihr frommen Christenmenschen<lb/>
alle, helft mir fleißig beweinen diesen gottbegeisterten Menschen und Gott bitten,<lb/>
daß er uns einen andern erleuchteten Mann sende." Aber wen? &#x201E;O Erasmus<lb/>
von Rotterdam, wo willst du bleiben? Höre du Ritter Christi, reite hervor<lb/>
neben den Herrn Jesus, beschütze die Wahrheit, erlange die Märtyrerkrone. Du<lb/>
bist ja ohnehin ein altes Männchen, lege deine wenigen Jahre wohl an, dem<lb/>
Glauben zugute... Du kannst den Goliath fällen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1074"> Erasmus und eine Märtyrerkrone! Dieser große Philologe und kleine<lb/>
Mensch, der bei allem erst erwog, wie er und seine Eitelkeit sich dabei<lb/>
stehen würde, war nicht der Mann, den Goliath zu fällen. Dennoch war, was<lb/>
Dürer ausspricht, die allgemeine Meinung. Wäre Luther wirklich tot gewesen,<lb/>
es hätte ihn niemand ersetzen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1075" next="#ID_1076"> Luther war, um es mit einem Worte zu sagen, ein ganzer Mann.<lb/>
Mir schwebt wiederum ein Wort eines auf anderm Gebiete großen Mannes</p><lb/>
          <note xml:id="FID_29" place="foot"> *) Die Sehnsucht nach der deutschen Einheit war auch Jahrhunderte lang da, doch<lb/>
hätten sie alle die tausende voll Säugern und Turnern nicht herveigesungcn und - geturnt &#x2014;<lb/>
es bedürfte des Mannes, der die reife Zeit pflückte.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Zum Lntherfeste, Diese Zustände stehen historisch fest, es ist eine große Thorheit von der sogenannte» katholischen Geschichtsforschung, sie durch allerlei Künste zu eliminiren und in allem Ernste den Beweis anzutreten, daß niemals die Kirche weniger einer Reformation bedurft habe als damals. Nein, sie existirten wirklich und wurden als unerträglich empfunden, aber niemand sah die Möglichkeit, ihnen abzuhelfen, da sie im System lagen und niemand das Entweder — Oder zu stellen wagte. Der Tetzelsche Unfug war hierbei nur ein Tropfen, aber der¬ jenige, welcher das Gefäß zum Überlaufen brachte. Die Spannung, welche zur Reformation drängte, war also da, aber sie bedürfte, um zur Lösung zu kommen, des Mannes, des Reformators.*) Daß Luther dieser Mann war, daß er »eben vielen andern tüchtigen Leuten doch als der einzige der gewaltigen Arbeit gewachsen war, wußte die Reformationszeit sehr wohl. Als Luther, ein geachteter, dem Untergänge geweihter Mann 1521 von Worms zurückkehrte, als er in den Thüringer Wäldern spurlos verschwunden war und man ihn für tot halten mußte, war die Trauer in Deutschland eine allgemeine. Damals wurde sein von Cranach gezeichnetes Bild in unzähligen Exemplaren gedruckt und gekauft, damals brach Dürer in die herzbewegende Klage aus: „Ach Gott im Himmel, erbarme dich unser! O Herr Jesu Christe, bitte für dein Volk, erlöse uns zur rechten Zeit, bewahre in uns den wahren, rechten Glauben, versäumte deine weit getrennten Schafe durch deine Stimme--- Und wenn wir diesen Mann, der klarer geschrieben hat, als irgend einer, der seit 140 Jahren gelebt hat und dem dn einen solchen evangelischen Geist ge¬ geben hast, verloren haben sollten, so bitten wir dich, o himmlischer Vater, daß dn deinen heiligen Geist wiederum einem gäbest, der deine heilige christliche Kirche allenthalben wieder versäumte ^---O ihr frommen Christenmenschen alle, helft mir fleißig beweinen diesen gottbegeisterten Menschen und Gott bitten, daß er uns einen andern erleuchteten Mann sende." Aber wen? „O Erasmus von Rotterdam, wo willst du bleiben? Höre du Ritter Christi, reite hervor neben den Herrn Jesus, beschütze die Wahrheit, erlange die Märtyrerkrone. Du bist ja ohnehin ein altes Männchen, lege deine wenigen Jahre wohl an, dem Glauben zugute... Du kannst den Goliath fällen." Erasmus und eine Märtyrerkrone! Dieser große Philologe und kleine Mensch, der bei allem erst erwog, wie er und seine Eitelkeit sich dabei stehen würde, war nicht der Mann, den Goliath zu fällen. Dennoch war, was Dürer ausspricht, die allgemeine Meinung. Wäre Luther wirklich tot gewesen, es hätte ihn niemand ersetzen können. Luther war, um es mit einem Worte zu sagen, ein ganzer Mann. Mir schwebt wiederum ein Wort eines auf anderm Gebiete großen Mannes *) Die Sehnsucht nach der deutschen Einheit war auch Jahrhunderte lang da, doch hätten sie alle die tausende voll Säugern und Turnern nicht herveigesungcn und - geturnt — es bedürfte des Mannes, der die reife Zeit pflückte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/359>, abgerufen am 28.07.2024.