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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

verzehrt. Arbeitsame Bürgersleute haben gleichsam nicht Zeit, in der Ehe un¬
glücklich zu sein; in dem schönen Müßiggang vornehmer, von der Notdurft nicht
gedrückter Menschen schweifen die Gedanken leicht aus dem gezogenen Kreise,
der Umgang der Geschlechter, das Spiel der Liebe wird zur Unterhaltung, zum
Geschäft des Lebens, und führt oft zu tiefem Fall und tragischen Verderben.
So heißt es schon in den "Bekenntnissen einer schönen Seele": "Er sagte mit
einem tiefen Seufzer: Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mirs,
als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte. Warum, fragte ich.
Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe, versetzte er. Ich lachte
über ihn und habe hernach oft genug an seine Worte zu denken'gehabt." Auch
die junge schöne Gräfin im "Wilhelm Meister" lebt in unglücklicher Ehe mit
ihrem wunderlichen Manne; ihre Liebe zu Wilhelm und die seinige zu ihr ver¬
gleicht der Dichter zwei feindlichen Vorposten, die von den beiden Ufern eines
Stromes, der sie trennt, friedliche Grüße wechseln, ohne des Krieges zu ge¬
denken. Später suchte sie, wie so oft Frauen höhern Standes, ihr Leid durch
Wohlthätigkeit zu mildern; als Wilhelm dies hörte, machte es ihn äußerst
traurig: er "fühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zer¬
streuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder
Glückseligkeit zu setzen" (Buch 7, Kap. 6). Daß dem Dichter, obgleich er seinen
Wilhelm den höhern Ständen, als einem weiteren und edleren Dasein, zuführte,
doch die Schwächen derselben wohl zum Bewußtsein kamen, geht schon aus den
oben angeführten Zügen hervor, und so spielt auch hier, wie bei Schilderung
des Bürgertums, ein unmerkliches Lächeln um den Mund des Erzählers; er
scheint ganz in der Sache zu stehen, und doch schwebt sein Blick drüber. Schon
die Parallele, in die hier das Theater und die höfischen Sitten gestellt sind,
enthält eine leise satirische Andeutung. Da der Weltmann sich nicht geben kann.
wie er wirklich ist und fühlt, lebt er nicht auch im Reiche des Scheines, als
eine Art Schauspieler? Und muß umgekehrt der Schauspieler nicht auch sein
Äußeres bilden, die Befangenheit ablegen, in Gang und Geberde, im Blick der
Augen und im Klang der Stimme jene vollendete Persönlichkeit zu gewinnen
suchen, die Wilhelm als Vorzug derjenigen, die auf den Höhen des Lebens ge¬
boren sind, bewundert? Doch bei diesem Modischen Abbild des Adels, bei
den Zigeunern, wie sie Jarno nennt, konnte Wilhelm nicht bleiben; er erhält
die Warnung: flieh, Jüngling, flieh! und später kann er nicht Übles genug von
seinen frühern Kunstgenossen sagen, und merkt nicht, daß er, indem er sich gegen
ihr niedriges Treiben ereifert, die Welt selbst, wie sie ist, geschildert hat -- wie
ihm gleichfalls Jarno unter Lachen vorhält. Und auch gelernt hat er vieles
unter den Schallspielern; hat ihn z. B. nicht Philine durch ihr Necken und
Locken von dem Ungeschick befreit, mit dem er zuerst als verliebter Dichter unter
die Menschen trat?


Gedanken über Goethe.

verzehrt. Arbeitsame Bürgersleute haben gleichsam nicht Zeit, in der Ehe un¬
glücklich zu sein; in dem schönen Müßiggang vornehmer, von der Notdurft nicht
gedrückter Menschen schweifen die Gedanken leicht aus dem gezogenen Kreise,
der Umgang der Geschlechter, das Spiel der Liebe wird zur Unterhaltung, zum
Geschäft des Lebens, und führt oft zu tiefem Fall und tragischen Verderben.
So heißt es schon in den „Bekenntnissen einer schönen Seele": „Er sagte mit
einem tiefen Seufzer: Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mirs,
als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte. Warum, fragte ich.
Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe, versetzte er. Ich lachte
über ihn und habe hernach oft genug an seine Worte zu denken'gehabt." Auch
die junge schöne Gräfin im „Wilhelm Meister" lebt in unglücklicher Ehe mit
ihrem wunderlichen Manne; ihre Liebe zu Wilhelm und die seinige zu ihr ver¬
gleicht der Dichter zwei feindlichen Vorposten, die von den beiden Ufern eines
Stromes, der sie trennt, friedliche Grüße wechseln, ohne des Krieges zu ge¬
denken. Später suchte sie, wie so oft Frauen höhern Standes, ihr Leid durch
Wohlthätigkeit zu mildern; als Wilhelm dies hörte, machte es ihn äußerst
traurig: er „fühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zer¬
streuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder
Glückseligkeit zu setzen" (Buch 7, Kap. 6). Daß dem Dichter, obgleich er seinen
Wilhelm den höhern Ständen, als einem weiteren und edleren Dasein, zuführte,
doch die Schwächen derselben wohl zum Bewußtsein kamen, geht schon aus den
oben angeführten Zügen hervor, und so spielt auch hier, wie bei Schilderung
des Bürgertums, ein unmerkliches Lächeln um den Mund des Erzählers; er
scheint ganz in der Sache zu stehen, und doch schwebt sein Blick drüber. Schon
die Parallele, in die hier das Theater und die höfischen Sitten gestellt sind,
enthält eine leise satirische Andeutung. Da der Weltmann sich nicht geben kann.
wie er wirklich ist und fühlt, lebt er nicht auch im Reiche des Scheines, als
eine Art Schauspieler? Und muß umgekehrt der Schauspieler nicht auch sein
Äußeres bilden, die Befangenheit ablegen, in Gang und Geberde, im Blick der
Augen und im Klang der Stimme jene vollendete Persönlichkeit zu gewinnen
suchen, die Wilhelm als Vorzug derjenigen, die auf den Höhen des Lebens ge¬
boren sind, bewundert? Doch bei diesem Modischen Abbild des Adels, bei
den Zigeunern, wie sie Jarno nennt, konnte Wilhelm nicht bleiben; er erhält
die Warnung: flieh, Jüngling, flieh! und später kann er nicht Übles genug von
seinen frühern Kunstgenossen sagen, und merkt nicht, daß er, indem er sich gegen
ihr niedriges Treiben ereifert, die Welt selbst, wie sie ist, geschildert hat — wie
ihm gleichfalls Jarno unter Lachen vorhält. Und auch gelernt hat er vieles
unter den Schallspielern; hat ihn z. B. nicht Philine durch ihr Necken und
Locken von dem Ungeschick befreit, mit dem er zuerst als verliebter Dichter unter
die Menschen trat?


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[0308] Gedanken über Goethe. verzehrt. Arbeitsame Bürgersleute haben gleichsam nicht Zeit, in der Ehe un¬ glücklich zu sein; in dem schönen Müßiggang vornehmer, von der Notdurft nicht gedrückter Menschen schweifen die Gedanken leicht aus dem gezogenen Kreise, der Umgang der Geschlechter, das Spiel der Liebe wird zur Unterhaltung, zum Geschäft des Lebens, und führt oft zu tiefem Fall und tragischen Verderben. So heißt es schon in den „Bekenntnissen einer schönen Seele": „Er sagte mit einem tiefen Seufzer: Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mirs, als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte. Warum, fragte ich. Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe, versetzte er. Ich lachte über ihn und habe hernach oft genug an seine Worte zu denken'gehabt." Auch die junge schöne Gräfin im „Wilhelm Meister" lebt in unglücklicher Ehe mit ihrem wunderlichen Manne; ihre Liebe zu Wilhelm und die seinige zu ihr ver¬ gleicht der Dichter zwei feindlichen Vorposten, die von den beiden Ufern eines Stromes, der sie trennt, friedliche Grüße wechseln, ohne des Krieges zu ge¬ denken. Später suchte sie, wie so oft Frauen höhern Standes, ihr Leid durch Wohlthätigkeit zu mildern; als Wilhelm dies hörte, machte es ihn äußerst traurig: er „fühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zer¬ streuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Glückseligkeit zu setzen" (Buch 7, Kap. 6). Daß dem Dichter, obgleich er seinen Wilhelm den höhern Ständen, als einem weiteren und edleren Dasein, zuführte, doch die Schwächen derselben wohl zum Bewußtsein kamen, geht schon aus den oben angeführten Zügen hervor, und so spielt auch hier, wie bei Schilderung des Bürgertums, ein unmerkliches Lächeln um den Mund des Erzählers; er scheint ganz in der Sache zu stehen, und doch schwebt sein Blick drüber. Schon die Parallele, in die hier das Theater und die höfischen Sitten gestellt sind, enthält eine leise satirische Andeutung. Da der Weltmann sich nicht geben kann. wie er wirklich ist und fühlt, lebt er nicht auch im Reiche des Scheines, als eine Art Schauspieler? Und muß umgekehrt der Schauspieler nicht auch sein Äußeres bilden, die Befangenheit ablegen, in Gang und Geberde, im Blick der Augen und im Klang der Stimme jene vollendete Persönlichkeit zu gewinnen suchen, die Wilhelm als Vorzug derjenigen, die auf den Höhen des Lebens ge¬ boren sind, bewundert? Doch bei diesem Modischen Abbild des Adels, bei den Zigeunern, wie sie Jarno nennt, konnte Wilhelm nicht bleiben; er erhält die Warnung: flieh, Jüngling, flieh! und später kann er nicht Übles genug von seinen frühern Kunstgenossen sagen, und merkt nicht, daß er, indem er sich gegen ihr niedriges Treiben ereifert, die Welt selbst, wie sie ist, geschildert hat — wie ihm gleichfalls Jarno unter Lachen vorhält. Und auch gelernt hat er vieles unter den Schallspielern; hat ihn z. B. nicht Philine durch ihr Necken und Locken von dem Ungeschick befreit, mit dem er zuerst als verliebter Dichter unter die Menschen trat?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/308>, abgerufen am 28.07.2024.