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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

aus der ursprünglichen Einheit nicht hervortreten; wer einem ansehnlichen Ge¬
schlechte angehört, wird sich ohne viel Rat und Ermahnung vou selbst der
Ebenbürtigen zuwenden; der Reichtum wird ihn anlocken, weil dieser in der
Fülle der Mittel auch Schönheit der Erscheinung bedingt und gewährt; die
fremde Nasse, die fremde Religion, der über- oder untergeordnete Stand stößt
ihn ab oder sagt ihm nichts -- wie eS dem Steinadler mir im Gebirge wohl
ist, der Möve am Seestrande, den Drosseln und Amseln unter den Früchten
des Gartens.*) Nun aber löst sich, bald im Aufsteigen, bald im Verfall der
Bildung, das Bewußtsein des Einzelnen, das Gemüt mit seiner eignen Art
von dem allherrschenden, dunkeln, sittlichen Element (nach Hegel: das Subjekt
von der Substanz), und es wird daher die Ehestiftung dnrch die Eltern gern
in die Zeit der Väter zurückverlegt, in eine Höhe, zu der wir mit Ehrfurcht
aufblicken, und wo das, was wir schmerzlich vermissen, noch nicht zerstört war.
Und dies klingt auch aus den Worten des Apothekers wieder, dem sonst doch
die ideale Stimmung fremd ist.

Das lieblichste Bild eines wohlhabenden Bürgerhauses, in dem viel Töchter
sind, giebt uns die zweite Epistel. Alle Wirtschaftszweige, alle Beschäftigungen
eines solchen werden nach einander vorgeführt, jede in der Hand einer der
Töchter: der Keller, die Küche, die Bodenkammer, der Garten, Obst und Ge¬
müse, Nadel und Zwirn, auch der weibliche Putz. Die viele Arbeit im Hause
bewahrt die Mädchen vor herzverderbender Lektüre überspannter Romane, ja
im Bürgerhause fehlt nicht bloß die Zeit, sondern auch die Lust zum Lesen,
und jedes Geschwätz ist willkommener als ein Buch. So reift jedes der Mädchen
im Stillen


Häuslicher Tugend entgegen, den klugen Mann zu beglücken.

Auch der Garten um das Haus ist kein Park, romantisch und feucht, sondern
ans sonnigen Beeten trägt er nützliche Kräuter, die auf den Tisch kommen, und
an den Bäumen Früchte, die die Frende der Jugend sind. Der Vater beherrscht
so sein patriarchalisches Königreich -- "es ist eine schöne Philisterei im Hause,
es wird einem ganz wohl" (an Frau von Stein, von der Harzreise im Winter).
Auch hier mischt sich in die reizende Schilderung eine leise Ironie, verstärkt
durch die Anklänge an antike Redeweise; die wohlmeinende Gesinnung schließt
heitere Züge nicht aus, z. B. von der Schwester, deren Reich die Küche ist:


Gerne nimmt sie das Lob vom Vater und allen Geschwistern,
Und mißlingt ihr etwas, so ists ein größeres Unglück,
Als wenn dir ein Schuldner entläuft und den Wechsel zurückläßt.


81 <zu" volos axes nndoro, nudo Ovid, *) Rsroiä. 9, 32:
(Gleich und gleich, so allein ists recht,
Drauf will ich leben und sterben!)
Gedanken über Goethe.

aus der ursprünglichen Einheit nicht hervortreten; wer einem ansehnlichen Ge¬
schlechte angehört, wird sich ohne viel Rat und Ermahnung vou selbst der
Ebenbürtigen zuwenden; der Reichtum wird ihn anlocken, weil dieser in der
Fülle der Mittel auch Schönheit der Erscheinung bedingt und gewährt; die
fremde Nasse, die fremde Religion, der über- oder untergeordnete Stand stößt
ihn ab oder sagt ihm nichts — wie eS dem Steinadler mir im Gebirge wohl
ist, der Möve am Seestrande, den Drosseln und Amseln unter den Früchten
des Gartens.*) Nun aber löst sich, bald im Aufsteigen, bald im Verfall der
Bildung, das Bewußtsein des Einzelnen, das Gemüt mit seiner eignen Art
von dem allherrschenden, dunkeln, sittlichen Element (nach Hegel: das Subjekt
von der Substanz), und es wird daher die Ehestiftung dnrch die Eltern gern
in die Zeit der Väter zurückverlegt, in eine Höhe, zu der wir mit Ehrfurcht
aufblicken, und wo das, was wir schmerzlich vermissen, noch nicht zerstört war.
Und dies klingt auch aus den Worten des Apothekers wieder, dem sonst doch
die ideale Stimmung fremd ist.

Das lieblichste Bild eines wohlhabenden Bürgerhauses, in dem viel Töchter
sind, giebt uns die zweite Epistel. Alle Wirtschaftszweige, alle Beschäftigungen
eines solchen werden nach einander vorgeführt, jede in der Hand einer der
Töchter: der Keller, die Küche, die Bodenkammer, der Garten, Obst und Ge¬
müse, Nadel und Zwirn, auch der weibliche Putz. Die viele Arbeit im Hause
bewahrt die Mädchen vor herzverderbender Lektüre überspannter Romane, ja
im Bürgerhause fehlt nicht bloß die Zeit, sondern auch die Lust zum Lesen,
und jedes Geschwätz ist willkommener als ein Buch. So reift jedes der Mädchen
im Stillen


Häuslicher Tugend entgegen, den klugen Mann zu beglücken.

Auch der Garten um das Haus ist kein Park, romantisch und feucht, sondern
ans sonnigen Beeten trägt er nützliche Kräuter, die auf den Tisch kommen, und
an den Bäumen Früchte, die die Frende der Jugend sind. Der Vater beherrscht
so sein patriarchalisches Königreich — „es ist eine schöne Philisterei im Hause,
es wird einem ganz wohl" (an Frau von Stein, von der Harzreise im Winter).
Auch hier mischt sich in die reizende Schilderung eine leise Ironie, verstärkt
durch die Anklänge an antike Redeweise; die wohlmeinende Gesinnung schließt
heitere Züge nicht aus, z. B. von der Schwester, deren Reich die Küche ist:


Gerne nimmt sie das Lob vom Vater und allen Geschwistern,
Und mißlingt ihr etwas, so ists ein größeres Unglück,
Als wenn dir ein Schuldner entläuft und den Wechsel zurückläßt.


81 <zu» volos axes nndoro, nudo Ovid, *) Rsroiä. 9, 32:
(Gleich und gleich, so allein ists recht,
Drauf will ich leben und sterben!)
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[0264] Gedanken über Goethe. aus der ursprünglichen Einheit nicht hervortreten; wer einem ansehnlichen Ge¬ schlechte angehört, wird sich ohne viel Rat und Ermahnung vou selbst der Ebenbürtigen zuwenden; der Reichtum wird ihn anlocken, weil dieser in der Fülle der Mittel auch Schönheit der Erscheinung bedingt und gewährt; die fremde Nasse, die fremde Religion, der über- oder untergeordnete Stand stößt ihn ab oder sagt ihm nichts — wie eS dem Steinadler mir im Gebirge wohl ist, der Möve am Seestrande, den Drosseln und Amseln unter den Früchten des Gartens.*) Nun aber löst sich, bald im Aufsteigen, bald im Verfall der Bildung, das Bewußtsein des Einzelnen, das Gemüt mit seiner eignen Art von dem allherrschenden, dunkeln, sittlichen Element (nach Hegel: das Subjekt von der Substanz), und es wird daher die Ehestiftung dnrch die Eltern gern in die Zeit der Väter zurückverlegt, in eine Höhe, zu der wir mit Ehrfurcht aufblicken, und wo das, was wir schmerzlich vermissen, noch nicht zerstört war. Und dies klingt auch aus den Worten des Apothekers wieder, dem sonst doch die ideale Stimmung fremd ist. Das lieblichste Bild eines wohlhabenden Bürgerhauses, in dem viel Töchter sind, giebt uns die zweite Epistel. Alle Wirtschaftszweige, alle Beschäftigungen eines solchen werden nach einander vorgeführt, jede in der Hand einer der Töchter: der Keller, die Küche, die Bodenkammer, der Garten, Obst und Ge¬ müse, Nadel und Zwirn, auch der weibliche Putz. Die viele Arbeit im Hause bewahrt die Mädchen vor herzverderbender Lektüre überspannter Romane, ja im Bürgerhause fehlt nicht bloß die Zeit, sondern auch die Lust zum Lesen, und jedes Geschwätz ist willkommener als ein Buch. So reift jedes der Mädchen im Stillen Häuslicher Tugend entgegen, den klugen Mann zu beglücken. Auch der Garten um das Haus ist kein Park, romantisch und feucht, sondern ans sonnigen Beeten trägt er nützliche Kräuter, die auf den Tisch kommen, und an den Bäumen Früchte, die die Frende der Jugend sind. Der Vater beherrscht so sein patriarchalisches Königreich — „es ist eine schöne Philisterei im Hause, es wird einem ganz wohl" (an Frau von Stein, von der Harzreise im Winter). Auch hier mischt sich in die reizende Schilderung eine leise Ironie, verstärkt durch die Anklänge an antike Redeweise; die wohlmeinende Gesinnung schließt heitere Züge nicht aus, z. B. von der Schwester, deren Reich die Küche ist: Gerne nimmt sie das Lob vom Vater und allen Geschwistern, Und mißlingt ihr etwas, so ists ein größeres Unglück, Als wenn dir ein Schuldner entläuft und den Wechsel zurückläßt. 81 <zu» volos axes nndoro, nudo Ovid, *) Rsroiä. 9, 32: (Gleich und gleich, so allein ists recht, Drauf will ich leben und sterben!)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/264>, abgerufen am 28.07.2024.