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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Francesco von Rimini.

kannte, legte ihm in aller Offenheit seinen Lebenslauf dar, dessen Inhalt fol¬
gender war.

Oswalds Mutter war die Tochter eines evangelischen Pastors, welcher in
einer protestantischen Enklave der Provinz Posen die Seelsorge leitete. Der
Gutsherr war ein polnischer Edelmann, welcher seine beiden Kinder, einen Sohn
und eine Tochter, von dem Prediger unterrichten ließ. Um die ungebundene
Natur der Kinder in bessere Wege zu lenken, hatte der Gutsherr die einzige
Tochter des Pastors in sein Haus genommen und mit seinen Kindern erziehen
lassen. Hedwig blieb noch in dem Schlosse, als schon der Sohn die Heimat
verlassen hatte, um eine Universität zu beziehen. Auf dieser hatte sich der un¬
gestüme Charakter des jungen Barons zu noch größerer Zügellosigkeit entwickelt;
er war bei seinen Ferienbesuchen auf dem Gute der Schrecken und die Furcht
der Dienerschaft und Bauern geworden. Für Hedwig war er freilich ein andrer:
ihr gegenüber war er gefügig und schmiegsam und verhehlte ihr nicht, daß er
sie liebe, während ihn diese stets mit Entschiedenheit und Kälte zurückwies.
Zwischen Weihnachten und Neujahr war auf einem Nachbargute ein Ball, der
Gutsherr war mit seinen Kindern dorthin gefahren, Hedwig allein auf dein
Schlosse zurückgeblieben. Mitten in der Nacht war der junge Kasimir, der sich
heimlich vom Balle entfernt hatte, zurückgekehrt. Unter dem Vorwande, daß
die Schwester plötzlich erkrankt sei, hatte er sich den Eintritt in das Zimmer
Hedwigs zu verschaffen gewußt und, da er die Diener vorsorglicher Weise ent¬
fernt hatte, das Mädchen vergewaltigt. Am andern Tage war Kasimir ver¬
schwunden. Der Gutsherr, von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt, hatte seinen
Sohn aufgefordert, durch eine sofortige Ehe mit Hedwig seine Schandthat
wieder gutzumachen und ihm im Weigerungsfalle mit Verstoßung und Ent¬
erbung bedroht. Kasimir leistete den väterlichen Ermahnungen keine Folge;
der inzwischen eingetretene Ausbruch der polnischen Revolution führte ihn in
die Reihen der Insurgenten; in einem Scharmützel von den Russen gefangen
genommen, wurde Kasimir erschossen. Bei den: Aufstande, welcher auch die preu¬
ßische Provinz Posen ergriffen hatte, wurde das Gut des Edelmannes von den em¬
pörten Bauern eingeäschert. Der Baron starb bald nach dem Untergange des Hauses,
die überlebende Tochter ging in ein Kloster. Der Zuspruch des Vaters ließ
Hedwig ihr trauriges Schicksal überleben, und in den Wirren der Insurrektion
war es namentlich Großheims Vater -- den der Pastor oftmals vor den
Quälereien des rohen Kasimir geschützt hatte --, welcher ihnen mit Aufgebot
aller seiner Kräfte zur Seite stand und des Pastors Haus und das Leben der
Familie gegen die wütenden Schaaren der Bauern schützte. Auf seinen Wunsch
erhielt der Pastor seine Emeritirung und siedelte in das kleine Städtchen über,
in welchem Esther Meyer, die für Max Genöve bestimmte Braut, lebte. Hier
war es wiederum Großheim, der arme Jude, welcher den von kärglicher Pension
lebenden Pastor nach Möglichkeit unterstützte und seiner Tochter manchen kleinen


Francesco von Rimini.

kannte, legte ihm in aller Offenheit seinen Lebenslauf dar, dessen Inhalt fol¬
gender war.

Oswalds Mutter war die Tochter eines evangelischen Pastors, welcher in
einer protestantischen Enklave der Provinz Posen die Seelsorge leitete. Der
Gutsherr war ein polnischer Edelmann, welcher seine beiden Kinder, einen Sohn
und eine Tochter, von dem Prediger unterrichten ließ. Um die ungebundene
Natur der Kinder in bessere Wege zu lenken, hatte der Gutsherr die einzige
Tochter des Pastors in sein Haus genommen und mit seinen Kindern erziehen
lassen. Hedwig blieb noch in dem Schlosse, als schon der Sohn die Heimat
verlassen hatte, um eine Universität zu beziehen. Auf dieser hatte sich der un¬
gestüme Charakter des jungen Barons zu noch größerer Zügellosigkeit entwickelt;
er war bei seinen Ferienbesuchen auf dem Gute der Schrecken und die Furcht
der Dienerschaft und Bauern geworden. Für Hedwig war er freilich ein andrer:
ihr gegenüber war er gefügig und schmiegsam und verhehlte ihr nicht, daß er
sie liebe, während ihn diese stets mit Entschiedenheit und Kälte zurückwies.
Zwischen Weihnachten und Neujahr war auf einem Nachbargute ein Ball, der
Gutsherr war mit seinen Kindern dorthin gefahren, Hedwig allein auf dein
Schlosse zurückgeblieben. Mitten in der Nacht war der junge Kasimir, der sich
heimlich vom Balle entfernt hatte, zurückgekehrt. Unter dem Vorwande, daß
die Schwester plötzlich erkrankt sei, hatte er sich den Eintritt in das Zimmer
Hedwigs zu verschaffen gewußt und, da er die Diener vorsorglicher Weise ent¬
fernt hatte, das Mädchen vergewaltigt. Am andern Tage war Kasimir ver¬
schwunden. Der Gutsherr, von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt, hatte seinen
Sohn aufgefordert, durch eine sofortige Ehe mit Hedwig seine Schandthat
wieder gutzumachen und ihm im Weigerungsfalle mit Verstoßung und Ent¬
erbung bedroht. Kasimir leistete den väterlichen Ermahnungen keine Folge;
der inzwischen eingetretene Ausbruch der polnischen Revolution führte ihn in
die Reihen der Insurgenten; in einem Scharmützel von den Russen gefangen
genommen, wurde Kasimir erschossen. Bei den: Aufstande, welcher auch die preu¬
ßische Provinz Posen ergriffen hatte, wurde das Gut des Edelmannes von den em¬
pörten Bauern eingeäschert. Der Baron starb bald nach dem Untergange des Hauses,
die überlebende Tochter ging in ein Kloster. Der Zuspruch des Vaters ließ
Hedwig ihr trauriges Schicksal überleben, und in den Wirren der Insurrektion
war es namentlich Großheims Vater — den der Pastor oftmals vor den
Quälereien des rohen Kasimir geschützt hatte —, welcher ihnen mit Aufgebot
aller seiner Kräfte zur Seite stand und des Pastors Haus und das Leben der
Familie gegen die wütenden Schaaren der Bauern schützte. Auf seinen Wunsch
erhielt der Pastor seine Emeritirung und siedelte in das kleine Städtchen über,
in welchem Esther Meyer, die für Max Genöve bestimmte Braut, lebte. Hier
war es wiederum Großheim, der arme Jude, welcher den von kärglicher Pension
lebenden Pastor nach Möglichkeit unterstützte und seiner Tochter manchen kleinen


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[0218] Francesco von Rimini. kannte, legte ihm in aller Offenheit seinen Lebenslauf dar, dessen Inhalt fol¬ gender war. Oswalds Mutter war die Tochter eines evangelischen Pastors, welcher in einer protestantischen Enklave der Provinz Posen die Seelsorge leitete. Der Gutsherr war ein polnischer Edelmann, welcher seine beiden Kinder, einen Sohn und eine Tochter, von dem Prediger unterrichten ließ. Um die ungebundene Natur der Kinder in bessere Wege zu lenken, hatte der Gutsherr die einzige Tochter des Pastors in sein Haus genommen und mit seinen Kindern erziehen lassen. Hedwig blieb noch in dem Schlosse, als schon der Sohn die Heimat verlassen hatte, um eine Universität zu beziehen. Auf dieser hatte sich der un¬ gestüme Charakter des jungen Barons zu noch größerer Zügellosigkeit entwickelt; er war bei seinen Ferienbesuchen auf dem Gute der Schrecken und die Furcht der Dienerschaft und Bauern geworden. Für Hedwig war er freilich ein andrer: ihr gegenüber war er gefügig und schmiegsam und verhehlte ihr nicht, daß er sie liebe, während ihn diese stets mit Entschiedenheit und Kälte zurückwies. Zwischen Weihnachten und Neujahr war auf einem Nachbargute ein Ball, der Gutsherr war mit seinen Kindern dorthin gefahren, Hedwig allein auf dein Schlosse zurückgeblieben. Mitten in der Nacht war der junge Kasimir, der sich heimlich vom Balle entfernt hatte, zurückgekehrt. Unter dem Vorwande, daß die Schwester plötzlich erkrankt sei, hatte er sich den Eintritt in das Zimmer Hedwigs zu verschaffen gewußt und, da er die Diener vorsorglicher Weise ent¬ fernt hatte, das Mädchen vergewaltigt. Am andern Tage war Kasimir ver¬ schwunden. Der Gutsherr, von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt, hatte seinen Sohn aufgefordert, durch eine sofortige Ehe mit Hedwig seine Schandthat wieder gutzumachen und ihm im Weigerungsfalle mit Verstoßung und Ent¬ erbung bedroht. Kasimir leistete den väterlichen Ermahnungen keine Folge; der inzwischen eingetretene Ausbruch der polnischen Revolution führte ihn in die Reihen der Insurgenten; in einem Scharmützel von den Russen gefangen genommen, wurde Kasimir erschossen. Bei den: Aufstande, welcher auch die preu¬ ßische Provinz Posen ergriffen hatte, wurde das Gut des Edelmannes von den em¬ pörten Bauern eingeäschert. Der Baron starb bald nach dem Untergange des Hauses, die überlebende Tochter ging in ein Kloster. Der Zuspruch des Vaters ließ Hedwig ihr trauriges Schicksal überleben, und in den Wirren der Insurrektion war es namentlich Großheims Vater — den der Pastor oftmals vor den Quälereien des rohen Kasimir geschützt hatte —, welcher ihnen mit Aufgebot aller seiner Kräfte zur Seite stand und des Pastors Haus und das Leben der Familie gegen die wütenden Schaaren der Bauern schützte. Auf seinen Wunsch erhielt der Pastor seine Emeritirung und siedelte in das kleine Städtchen über, in welchem Esther Meyer, die für Max Genöve bestimmte Braut, lebte. Hier war es wiederum Großheim, der arme Jude, welcher den von kärglicher Pension lebenden Pastor nach Möglichkeit unterstützte und seiner Tochter manchen kleinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/218>, abgerufen am 27.07.2024.