Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Levin Schücking.

tunlich ist dem Roman die Polemik gegen eine gewisse Facheinseitigkeit, die zur
Zeit seiner Entstehung eben anfing als Evangelium verkündet zu werden,
"Nicht Hugo ist es, sondern Manfred, der mir die rechte Antwort auf unsre
alte Lebensfrage gegeben," sagt die Heldin, Gräfin Constanze Merwing, nachdem
sie in Italien die Frau des Malers Manfred Walpole geworden ist, zu ihrem
Verehrer, dem Erbprinzen August, "Sie ist schwer in Worte zu fassen. Be¬
obachten Sie ihn und beobachten Sie jenen andern jungen Mann aus unserm
Vaterlande dort. Er ist auch ein Künstler, er ist Dichter. Ihr gnädigster
Vater hat sich ihm so gnädig erwiesen, ihm ein Reisestipendium zu geben, damit
er Italien sehen könne. Das führt ihn zu uns. Aber ich glaube, er wird aus
Italien heimkehren, wie er hingegangen ist. Er ist ein strebender, er strebt
rastlos mit allen Kräften seiner Seele, ein großer Poet zu werden. Aber auch
nur das. Er denkt nur an Stoffe für seine Gedichte, an Bilder für seine Ge¬
dichte, an Reime für seine Gedichte. Weder die andern Künste, noch das Leben
der Völker, noch die Verhältnisse der Einzelnen gewinnen ihm irgendein Inter¬
esse ab. Und so bleibt er bei allem Streben eine dürftige Natur und wird sein
Ziel nicht erreichen. Anders Manfred. Er strebt auch, er strebt mit intensiver
Kraft vorwärts auf der Bahn zum höchsten Ausdruck des Schöne". Aber er
hält dabei Ruhepunkte inne, welche ihm zu neuen Ausgangspunkten werden;
er hält sein großes Auge offen für die Betrachtung, er verschließt sich keiner
Erscheinung des Lebens und keinem Rufe der Zeit. Er gönnt seiner Seele
Ruhe, die Ruhe, zu wachsen. Oft wirft er das Handwerksgerät fort, wir
machen kleine Reisen und suchen die schönsten Punkte Italiens auf, oder wir
lesen zusammen und suchen große Bilder oder große Gedanken in uns aufzu¬
nehmen, die unsre Anschauung erweitem." Der Protest der Bildung gegen
die rohe Einseitigkeit, den der Roman unsers Autors erhielt, verhallte natürlich
ungehört wie tausend ähnliche Proteste. Freilich läßt sich nicht sagen, daß
Schücking vermocht hätte, ihm einen starken, zwingenden Ausdruck zu geben.
Bei diesem wie bei manchem andern Buche des Autors treten wir immer wieder
an die Frage heran, wie weit Schückings poetisches Vermögen, seine Vertiefungs¬
und Konzentrationskraft gereicht haben? Denn das Höchste, auch nur in dem
Sinne, wie es Immermann in den "Epigonen" und im "Münchhausen" erreicht hat,
läßt uns die gebildete Auffassung und Darstellung des Schriftstellers doch immer
vermissen. Es ist auch hier, als hätten wir nicht sowohl ein völlig ausge¬
stattetes, gleichmäßig durchgeführtes Bild, als vielmehr eine geistvolle, vielver¬
sprechende Skizze vor uns.

Unter den nächstfolgenden Werken Schückings "Die Marketenderin von
Köln" (1361), "Historische Novellen" (1862). "Frauen und Rätsel" (1866).
"Eine Künstlerleidenschaft" (1867), "Die Malerin aus dem Louvre" (1869)
verdient der erstgenannte Roman den Vorzug. Alle diese Arbeiten aber hinter¬
lassen den Eindruck, daß bei dem Autor Zeiten einer gewissen Ermattung, eines


Levin Schücking.

tunlich ist dem Roman die Polemik gegen eine gewisse Facheinseitigkeit, die zur
Zeit seiner Entstehung eben anfing als Evangelium verkündet zu werden,
„Nicht Hugo ist es, sondern Manfred, der mir die rechte Antwort auf unsre
alte Lebensfrage gegeben," sagt die Heldin, Gräfin Constanze Merwing, nachdem
sie in Italien die Frau des Malers Manfred Walpole geworden ist, zu ihrem
Verehrer, dem Erbprinzen August, „Sie ist schwer in Worte zu fassen. Be¬
obachten Sie ihn und beobachten Sie jenen andern jungen Mann aus unserm
Vaterlande dort. Er ist auch ein Künstler, er ist Dichter. Ihr gnädigster
Vater hat sich ihm so gnädig erwiesen, ihm ein Reisestipendium zu geben, damit
er Italien sehen könne. Das führt ihn zu uns. Aber ich glaube, er wird aus
Italien heimkehren, wie er hingegangen ist. Er ist ein strebender, er strebt
rastlos mit allen Kräften seiner Seele, ein großer Poet zu werden. Aber auch
nur das. Er denkt nur an Stoffe für seine Gedichte, an Bilder für seine Ge¬
dichte, an Reime für seine Gedichte. Weder die andern Künste, noch das Leben
der Völker, noch die Verhältnisse der Einzelnen gewinnen ihm irgendein Inter¬
esse ab. Und so bleibt er bei allem Streben eine dürftige Natur und wird sein
Ziel nicht erreichen. Anders Manfred. Er strebt auch, er strebt mit intensiver
Kraft vorwärts auf der Bahn zum höchsten Ausdruck des Schöne». Aber er
hält dabei Ruhepunkte inne, welche ihm zu neuen Ausgangspunkten werden;
er hält sein großes Auge offen für die Betrachtung, er verschließt sich keiner
Erscheinung des Lebens und keinem Rufe der Zeit. Er gönnt seiner Seele
Ruhe, die Ruhe, zu wachsen. Oft wirft er das Handwerksgerät fort, wir
machen kleine Reisen und suchen die schönsten Punkte Italiens auf, oder wir
lesen zusammen und suchen große Bilder oder große Gedanken in uns aufzu¬
nehmen, die unsre Anschauung erweitem." Der Protest der Bildung gegen
die rohe Einseitigkeit, den der Roman unsers Autors erhielt, verhallte natürlich
ungehört wie tausend ähnliche Proteste. Freilich läßt sich nicht sagen, daß
Schücking vermocht hätte, ihm einen starken, zwingenden Ausdruck zu geben.
Bei diesem wie bei manchem andern Buche des Autors treten wir immer wieder
an die Frage heran, wie weit Schückings poetisches Vermögen, seine Vertiefungs¬
und Konzentrationskraft gereicht haben? Denn das Höchste, auch nur in dem
Sinne, wie es Immermann in den „Epigonen" und im „Münchhausen" erreicht hat,
läßt uns die gebildete Auffassung und Darstellung des Schriftstellers doch immer
vermissen. Es ist auch hier, als hätten wir nicht sowohl ein völlig ausge¬
stattetes, gleichmäßig durchgeführtes Bild, als vielmehr eine geistvolle, vielver¬
sprechende Skizze vor uns.

Unter den nächstfolgenden Werken Schückings „Die Marketenderin von
Köln" (1361), „Historische Novellen" (1862). „Frauen und Rätsel" (1866).
„Eine Künstlerleidenschaft" (1867), „Die Malerin aus dem Louvre" (1869)
verdient der erstgenannte Roman den Vorzug. Alle diese Arbeiten aber hinter¬
lassen den Eindruck, daß bei dem Autor Zeiten einer gewissen Ermattung, eines


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154366"/>
          <fw type="header" place="top"> Levin Schücking.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_564" prev="#ID_563"> tunlich ist dem Roman die Polemik gegen eine gewisse Facheinseitigkeit, die zur<lb/>
Zeit seiner Entstehung eben anfing als Evangelium verkündet zu werden,<lb/>
&#x201E;Nicht Hugo ist es, sondern Manfred, der mir die rechte Antwort auf unsre<lb/>
alte Lebensfrage gegeben," sagt die Heldin, Gräfin Constanze Merwing, nachdem<lb/>
sie in Italien die Frau des Malers Manfred Walpole geworden ist, zu ihrem<lb/>
Verehrer, dem Erbprinzen August, &#x201E;Sie ist schwer in Worte zu fassen. Be¬<lb/>
obachten Sie ihn und beobachten Sie jenen andern jungen Mann aus unserm<lb/>
Vaterlande dort. Er ist auch ein Künstler, er ist Dichter. Ihr gnädigster<lb/>
Vater hat sich ihm so gnädig erwiesen, ihm ein Reisestipendium zu geben, damit<lb/>
er Italien sehen könne. Das führt ihn zu uns. Aber ich glaube, er wird aus<lb/>
Italien heimkehren, wie er hingegangen ist. Er ist ein strebender, er strebt<lb/>
rastlos mit allen Kräften seiner Seele, ein großer Poet zu werden. Aber auch<lb/>
nur das. Er denkt nur an Stoffe für seine Gedichte, an Bilder für seine Ge¬<lb/>
dichte, an Reime für seine Gedichte. Weder die andern Künste, noch das Leben<lb/>
der Völker, noch die Verhältnisse der Einzelnen gewinnen ihm irgendein Inter¬<lb/>
esse ab. Und so bleibt er bei allem Streben eine dürftige Natur und wird sein<lb/>
Ziel nicht erreichen. Anders Manfred. Er strebt auch, er strebt mit intensiver<lb/>
Kraft vorwärts auf der Bahn zum höchsten Ausdruck des Schöne». Aber er<lb/>
hält dabei Ruhepunkte inne, welche ihm zu neuen Ausgangspunkten werden;<lb/>
er hält sein großes Auge offen für die Betrachtung, er verschließt sich keiner<lb/>
Erscheinung des Lebens und keinem Rufe der Zeit. Er gönnt seiner Seele<lb/>
Ruhe, die Ruhe, zu wachsen. Oft wirft er das Handwerksgerät fort, wir<lb/>
machen kleine Reisen und suchen die schönsten Punkte Italiens auf, oder wir<lb/>
lesen zusammen und suchen große Bilder oder große Gedanken in uns aufzu¬<lb/>
nehmen, die unsre Anschauung erweitem." Der Protest der Bildung gegen<lb/>
die rohe Einseitigkeit, den der Roman unsers Autors erhielt, verhallte natürlich<lb/>
ungehört wie tausend ähnliche Proteste. Freilich läßt sich nicht sagen, daß<lb/>
Schücking vermocht hätte, ihm einen starken, zwingenden Ausdruck zu geben.<lb/>
Bei diesem wie bei manchem andern Buche des Autors treten wir immer wieder<lb/>
an die Frage heran, wie weit Schückings poetisches Vermögen, seine Vertiefungs¬<lb/>
und Konzentrationskraft gereicht haben? Denn das Höchste, auch nur in dem<lb/>
Sinne, wie es Immermann in den &#x201E;Epigonen" und im &#x201E;Münchhausen" erreicht hat,<lb/>
läßt uns die gebildete Auffassung und Darstellung des Schriftstellers doch immer<lb/>
vermissen. Es ist auch hier, als hätten wir nicht sowohl ein völlig ausge¬<lb/>
stattetes, gleichmäßig durchgeführtes Bild, als vielmehr eine geistvolle, vielver¬<lb/>
sprechende Skizze vor uns.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_565" next="#ID_566"> Unter den nächstfolgenden Werken Schückings &#x201E;Die Marketenderin von<lb/>
Köln" (1361), &#x201E;Historische Novellen" (1862). &#x201E;Frauen und Rätsel" (1866).<lb/>
&#x201E;Eine Künstlerleidenschaft" (1867), &#x201E;Die Malerin aus dem Louvre" (1869)<lb/>
verdient der erstgenannte Roman den Vorzug. Alle diese Arbeiten aber hinter¬<lb/>
lassen den Eindruck, daß bei dem Autor Zeiten einer gewissen Ermattung, eines</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0201] Levin Schücking. tunlich ist dem Roman die Polemik gegen eine gewisse Facheinseitigkeit, die zur Zeit seiner Entstehung eben anfing als Evangelium verkündet zu werden, „Nicht Hugo ist es, sondern Manfred, der mir die rechte Antwort auf unsre alte Lebensfrage gegeben," sagt die Heldin, Gräfin Constanze Merwing, nachdem sie in Italien die Frau des Malers Manfred Walpole geworden ist, zu ihrem Verehrer, dem Erbprinzen August, „Sie ist schwer in Worte zu fassen. Be¬ obachten Sie ihn und beobachten Sie jenen andern jungen Mann aus unserm Vaterlande dort. Er ist auch ein Künstler, er ist Dichter. Ihr gnädigster Vater hat sich ihm so gnädig erwiesen, ihm ein Reisestipendium zu geben, damit er Italien sehen könne. Das führt ihn zu uns. Aber ich glaube, er wird aus Italien heimkehren, wie er hingegangen ist. Er ist ein strebender, er strebt rastlos mit allen Kräften seiner Seele, ein großer Poet zu werden. Aber auch nur das. Er denkt nur an Stoffe für seine Gedichte, an Bilder für seine Ge¬ dichte, an Reime für seine Gedichte. Weder die andern Künste, noch das Leben der Völker, noch die Verhältnisse der Einzelnen gewinnen ihm irgendein Inter¬ esse ab. Und so bleibt er bei allem Streben eine dürftige Natur und wird sein Ziel nicht erreichen. Anders Manfred. Er strebt auch, er strebt mit intensiver Kraft vorwärts auf der Bahn zum höchsten Ausdruck des Schöne». Aber er hält dabei Ruhepunkte inne, welche ihm zu neuen Ausgangspunkten werden; er hält sein großes Auge offen für die Betrachtung, er verschließt sich keiner Erscheinung des Lebens und keinem Rufe der Zeit. Er gönnt seiner Seele Ruhe, die Ruhe, zu wachsen. Oft wirft er das Handwerksgerät fort, wir machen kleine Reisen und suchen die schönsten Punkte Italiens auf, oder wir lesen zusammen und suchen große Bilder oder große Gedanken in uns aufzu¬ nehmen, die unsre Anschauung erweitem." Der Protest der Bildung gegen die rohe Einseitigkeit, den der Roman unsers Autors erhielt, verhallte natürlich ungehört wie tausend ähnliche Proteste. Freilich läßt sich nicht sagen, daß Schücking vermocht hätte, ihm einen starken, zwingenden Ausdruck zu geben. Bei diesem wie bei manchem andern Buche des Autors treten wir immer wieder an die Frage heran, wie weit Schückings poetisches Vermögen, seine Vertiefungs¬ und Konzentrationskraft gereicht haben? Denn das Höchste, auch nur in dem Sinne, wie es Immermann in den „Epigonen" und im „Münchhausen" erreicht hat, läßt uns die gebildete Auffassung und Darstellung des Schriftstellers doch immer vermissen. Es ist auch hier, als hätten wir nicht sowohl ein völlig ausge¬ stattetes, gleichmäßig durchgeführtes Bild, als vielmehr eine geistvolle, vielver¬ sprechende Skizze vor uns. Unter den nächstfolgenden Werken Schückings „Die Marketenderin von Köln" (1361), „Historische Novellen" (1862). „Frauen und Rätsel" (1866). „Eine Künstlerleidenschaft" (1867), „Die Malerin aus dem Louvre" (1869) verdient der erstgenannte Roman den Vorzug. Alle diese Arbeiten aber hinter¬ lassen den Eindruck, daß bei dem Autor Zeiten einer gewissen Ermattung, eines

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/201
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/201>, abgerufen am 27.07.2024.