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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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es irgend einem eingefallen, Versaccentc zu setzen. Und weiter nichts als diese
rein erfundenen nud ganz nebensächlichen Äußerlichkeiten weis; der Verfasser in
der Hauptsache von der mittelhochdeutsche" Aecentuation auszusagen.

Fünfundzwanzig Jahre laug hat Herr Beyer, wie er sagt, sich vorzugs¬
weise mit den "Wescnsgcsctzcn der deutschen Poetik" beschäftigt. Hätte er nur
einen ganz kleinen Teil dieser Zeit darauf verwendet, die Wesensgesetze der alt¬
deutschen Verskunst ernstlich zu studieren, so würde dies seinem Werke sehr
wesentlich zu statten gekommen sein. Aber wenn man auch diese Forderung
nicht erheben will, das kann man wenigstens von ihm verlangen, daß er sich
nicht den Anschein giebt, Dinge zu wissen, von denen er nichts versteht. Schlimmer
als Nichtwissen ist präteudirtes Wissen. Es wirkt absolut schädlich.

Ein lustiges Stücklein davon leistet sich der Verfasser, wo er von den soge¬
nannten "streng gemessenen" Verhärten handelt. Da soll Gottfrieds von Stra߬
burg "Tristan und Isolde" die "erste größere Dichtung" sein, in welcher der
"iambische Viertakter" angewandt wurde. Nun ist aber Gottfrieds "Tristan"
in keiner andern Versart gedichtet als alle die höfischen Epen vor ihm, und
dieses freie Versmaß, das nur vier Hebungen als notwendig fordert, während
die Senkungen gleichgiltig sind, als "streng gemessenen" ländischen Viertakter
anzusprechen, ist recht seltsam. Köstlich aber ist die darauf folgende Anknüpfung:
"Die Form dieser Dichtung fand Nachahmung in E. Christ. Kleists idyllischer
Erzählung "Irin, der gelähmte Kranich."" Wir wollen von der eigentümlichen
Verschmelzung der beiden Kleistschen Gedichte zu einem absehen -- übrigens
ist nur "Irin" in vierfüßigen Jamben, der "Gelähmte Kranich" vielmehr in
fünffüßigen --, aber der Sprung von Gottfried auf Kleist ist mehr als naiv.
Es dürfte Herrn Beyer schwer fallen, nachzuweisen, daß Kleist Gottfried ge¬
kannt habe.

Mit der Quantität halten natürlich auch die antiken Versfüße wieder ihren
Einzug in die "nationale" Poetik. Die Benennungen iambisch und anapästisch
für steigenden, trochäisch und daktylisch für fallenden Rhythmus mit ein- oder
zweisilbiger Senkung kann man sich ja der Kürze halber gefallen lassen, wenn
sie auch geeignet sind, Mißverständnisse hervorzurufen. Aber auch der Spon-
deus wird förmlich als deutscher Versfuß eingeführt, obwohl Spondeen zu bilden
früher als "eine Verirrung und Verkehrtheit, eine Versündigung an unserm
Sprachgcist" hingestellt worden war, und obwohl in der Anmerkung zugegeben
wird, daß wir keine reinen Spondeen haben. Auch für Pyrrhichius und
Tribrachys (^^), ja sogar für den Dvppelpyrrhichius (^^), die im Deutschen
für unmöglich erklärt werden, werden uns deutsche Beispiele gegeben. Zwar
eifert der Verfasser gegen die "steifen, geschraubten und ungelenken Verse,
welche nach den Gesetzen der qucmtitircnden Rhythmik" gebaut sind, zwar findet
er mit Benedix "in der Nachahmung antiker Versmaße entschieden eine Nicht¬
achtung, ja eine Mißhandlung des deutschen Rhythmus, doch lobt er die


Line deutsch-nationale Verslehre.

es irgend einem eingefallen, Versaccentc zu setzen. Und weiter nichts als diese
rein erfundenen nud ganz nebensächlichen Äußerlichkeiten weis; der Verfasser in
der Hauptsache von der mittelhochdeutsche« Aecentuation auszusagen.

Fünfundzwanzig Jahre laug hat Herr Beyer, wie er sagt, sich vorzugs¬
weise mit den „Wescnsgcsctzcn der deutschen Poetik" beschäftigt. Hätte er nur
einen ganz kleinen Teil dieser Zeit darauf verwendet, die Wesensgesetze der alt¬
deutschen Verskunst ernstlich zu studieren, so würde dies seinem Werke sehr
wesentlich zu statten gekommen sein. Aber wenn man auch diese Forderung
nicht erheben will, das kann man wenigstens von ihm verlangen, daß er sich
nicht den Anschein giebt, Dinge zu wissen, von denen er nichts versteht. Schlimmer
als Nichtwissen ist präteudirtes Wissen. Es wirkt absolut schädlich.

Ein lustiges Stücklein davon leistet sich der Verfasser, wo er von den soge¬
nannten „streng gemessenen" Verhärten handelt. Da soll Gottfrieds von Stra߬
burg „Tristan und Isolde" die „erste größere Dichtung" sein, in welcher der
„iambische Viertakter" angewandt wurde. Nun ist aber Gottfrieds „Tristan"
in keiner andern Versart gedichtet als alle die höfischen Epen vor ihm, und
dieses freie Versmaß, das nur vier Hebungen als notwendig fordert, während
die Senkungen gleichgiltig sind, als „streng gemessenen" ländischen Viertakter
anzusprechen, ist recht seltsam. Köstlich aber ist die darauf folgende Anknüpfung:
„Die Form dieser Dichtung fand Nachahmung in E. Christ. Kleists idyllischer
Erzählung »Irin, der gelähmte Kranich.«" Wir wollen von der eigentümlichen
Verschmelzung der beiden Kleistschen Gedichte zu einem absehen — übrigens
ist nur „Irin" in vierfüßigen Jamben, der „Gelähmte Kranich" vielmehr in
fünffüßigen —, aber der Sprung von Gottfried auf Kleist ist mehr als naiv.
Es dürfte Herrn Beyer schwer fallen, nachzuweisen, daß Kleist Gottfried ge¬
kannt habe.

Mit der Quantität halten natürlich auch die antiken Versfüße wieder ihren
Einzug in die „nationale" Poetik. Die Benennungen iambisch und anapästisch
für steigenden, trochäisch und daktylisch für fallenden Rhythmus mit ein- oder
zweisilbiger Senkung kann man sich ja der Kürze halber gefallen lassen, wenn
sie auch geeignet sind, Mißverständnisse hervorzurufen. Aber auch der Spon-
deus wird förmlich als deutscher Versfuß eingeführt, obwohl Spondeen zu bilden
früher als „eine Verirrung und Verkehrtheit, eine Versündigung an unserm
Sprachgcist" hingestellt worden war, und obwohl in der Anmerkung zugegeben
wird, daß wir keine reinen Spondeen haben. Auch für Pyrrhichius und
Tribrachys (^^), ja sogar für den Dvppelpyrrhichius (^^), die im Deutschen
für unmöglich erklärt werden, werden uns deutsche Beispiele gegeben. Zwar
eifert der Verfasser gegen die „steifen, geschraubten und ungelenken Verse,
welche nach den Gesetzen der qucmtitircnden Rhythmik" gebaut sind, zwar findet
er mit Benedix „in der Nachahmung antiker Versmaße entschieden eine Nicht¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/144>, abgerufen am 27.07.2024.