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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Aus dem Schuldbuche der Fortschrittspartei.

jeder Erhöhung seines Selbstgefühls gegenüber dem Auslande leicht dasjenige
vergißt, was ihn an den innern Zuständen verdrießt."

Die hier angenommene Regel zeigte während der Konfliktsjahre von 1862
bis 1866 so zahlreiche und grelle Ausnahmen, daß diese die Regel zu bilden
schienen. Das Ansehen des Landes sollte dnrch die Reorganisation der Armee
erhöht werden, und dieser Zweck war gesunden Augen deutlich erkennbar, das
Ansehen war durch die Erfolge gegen die Dänen und gegen die kleinstaat¬
liche Majorität 1364 bereits unbestreitbar erhöht, und es war mit Händen zu
greifen, daß eine weitere und gewaltigere Erhöhung ins Auge gefaßt war. Aber
wie stellte sich die große Mehrheit des Abgeordnetenhauses zu der Regierung,
welche dies bewirken wollte und später zu bewirken begonnen hat? Vergaß sie
über der Steigerung des preußischen Selbstgefühls dein Auslande gegenüber das¬
jenige, was an den innern Zuständen verdroß, und schloß sie sich patriotisch
dem Minister an, der Preußens Recht und Interesse energisch zur Geltung zu
bringen, der Preußen nicht von Österreich überflügeln, es' nicht unter den Willen
der Kleinstaaten beugen zu lassen bemüht war? Zeigten die Herren sich auch
nur im entferntesten opferwillig? Mit nichten, das Gegenteil war-der Fall.
Ein Parlamentarismus, wie ihn die Verfassung nicht kannte, sollte eingeführt,
die Macht des Abgeordnetenhauses sollte vermehrt werden, und im Ärger darüber,
daß die Regierung sich dazu nicht herbeiließ, hinderte und schwächte man die
Aktion der letztern, soviel man irgend vermochte, nahm Partei gegen sie und
für die Mittelstaaten und den Augustenburger und erging sich in Prophezeiungen,
bei denen man jetzt nicht weiß, was an ihnen erstaunlicher ist, die ""patriotische
Gesinnung oder die ungeheuerliche Unvernunft, die sich in ihnen ausspricht.
Der bitterste Haß, die ärgste Verblendung machte sich geltend, aus purer dok¬
trinärer Rechthaberei, aus Eifer für sein demokratisches Credo setzte man alles
aus den Augen, was die Vaterlandsliebe verlangte, und das Ende war, daß
man statt der Macht und Würde der Volksvertretung den Zuschauern dieses
Schauspiels nur die moralische und materielle Ohnmacht derselben zum Bewußt¬
sein brachte und sich mit seinen großen Phrasen vor der Geschichte unsterblich
blamirte.

Die Sache ist im allgemeinen bekannt, und man könnte sie in Frieden bei
andern parlamentarischen Thorheiten ruhen lassen, wenn der Geist, der damals
die Mehrheit des preußische" Abgeordnetenhauses erfüllte, nicht in der Fort¬
schrittspartei fortlebte und sich seit einigen Jahren auch in andern liberalen
Lagern von neuem regte. Wir halten es deshalb für nützlich, wenn die Erinnerung
an jene Periode politischen Wahnes von Zeit zu Zeit aufgefrischt wird, und
zwar in ihren Einzelheiten. In nichts werden die wahre Natur, das eigentliche
Ziel der Fortschrittspartei, ihr geringes Verständnis des Staates und seiner
oberste" Bedürfnisse und die Schwäche ihres Patriotismus, wenn derselbe zwischen
juristischen Doktrinen und Velleitäten und großen politischen Gedanken und


Aus dem Schuldbuche der Fortschrittspartei.

jeder Erhöhung seines Selbstgefühls gegenüber dem Auslande leicht dasjenige
vergißt, was ihn an den innern Zuständen verdrießt."

Die hier angenommene Regel zeigte während der Konfliktsjahre von 1862
bis 1866 so zahlreiche und grelle Ausnahmen, daß diese die Regel zu bilden
schienen. Das Ansehen des Landes sollte dnrch die Reorganisation der Armee
erhöht werden, und dieser Zweck war gesunden Augen deutlich erkennbar, das
Ansehen war durch die Erfolge gegen die Dänen und gegen die kleinstaat¬
liche Majorität 1364 bereits unbestreitbar erhöht, und es war mit Händen zu
greifen, daß eine weitere und gewaltigere Erhöhung ins Auge gefaßt war. Aber
wie stellte sich die große Mehrheit des Abgeordnetenhauses zu der Regierung,
welche dies bewirken wollte und später zu bewirken begonnen hat? Vergaß sie
über der Steigerung des preußischen Selbstgefühls dein Auslande gegenüber das¬
jenige, was an den innern Zuständen verdroß, und schloß sie sich patriotisch
dem Minister an, der Preußens Recht und Interesse energisch zur Geltung zu
bringen, der Preußen nicht von Österreich überflügeln, es' nicht unter den Willen
der Kleinstaaten beugen zu lassen bemüht war? Zeigten die Herren sich auch
nur im entferntesten opferwillig? Mit nichten, das Gegenteil war-der Fall.
Ein Parlamentarismus, wie ihn die Verfassung nicht kannte, sollte eingeführt,
die Macht des Abgeordnetenhauses sollte vermehrt werden, und im Ärger darüber,
daß die Regierung sich dazu nicht herbeiließ, hinderte und schwächte man die
Aktion der letztern, soviel man irgend vermochte, nahm Partei gegen sie und
für die Mittelstaaten und den Augustenburger und erging sich in Prophezeiungen,
bei denen man jetzt nicht weiß, was an ihnen erstaunlicher ist, die »«patriotische
Gesinnung oder die ungeheuerliche Unvernunft, die sich in ihnen ausspricht.
Der bitterste Haß, die ärgste Verblendung machte sich geltend, aus purer dok¬
trinärer Rechthaberei, aus Eifer für sein demokratisches Credo setzte man alles
aus den Augen, was die Vaterlandsliebe verlangte, und das Ende war, daß
man statt der Macht und Würde der Volksvertretung den Zuschauern dieses
Schauspiels nur die moralische und materielle Ohnmacht derselben zum Bewußt¬
sein brachte und sich mit seinen großen Phrasen vor der Geschichte unsterblich
blamirte.

Die Sache ist im allgemeinen bekannt, und man könnte sie in Frieden bei
andern parlamentarischen Thorheiten ruhen lassen, wenn der Geist, der damals
die Mehrheit des preußische« Abgeordnetenhauses erfüllte, nicht in der Fort¬
schrittspartei fortlebte und sich seit einigen Jahren auch in andern liberalen
Lagern von neuem regte. Wir halten es deshalb für nützlich, wenn die Erinnerung
an jene Periode politischen Wahnes von Zeit zu Zeit aufgefrischt wird, und
zwar in ihren Einzelheiten. In nichts werden die wahre Natur, das eigentliche
Ziel der Fortschrittspartei, ihr geringes Verständnis des Staates und seiner
oberste» Bedürfnisse und die Schwäche ihres Patriotismus, wenn derselbe zwischen
juristischen Doktrinen und Velleitäten und großen politischen Gedanken und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/66>, abgerufen am 08.09.2024.