Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen. Roman "Georg Jenatsch" und der Novelle "Der Heilige" oder "König "ut Die "Kleinen Novellen" sollten überall da gekannt und gelesen werden, Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen. Roman „Georg Jenatsch" und der Novelle „Der Heilige" oder „König »ut Die „Kleinen Novellen" sollten überall da gekannt und gelesen werden, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0622" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154069"/> <fw type="header" place="top"> Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2693" prev="#ID_2692"> Roman „Georg Jenatsch" und der Novelle „Der Heilige" oder „König »ut<lb/> Heiliger," wie sie seit der zweiten oder dritten Auflage benannt ist. Die Titel-<lb/> äuderungen sind eine der Wunderlichkeiten unsers Schweizer Novellisten. Die<lb/> Novelle „Plautus im Nonnenkloster" hieß früher, wenn wir nicht irren, „Das<lb/> Brigittchen von Troger," „Gustav Adolfs Page" führte zuerst ganz gewiß den<lb/> Namen „Page Leubelfing." Es scheint nicht, daß diese Titeländerungen durch<lb/> wesentliche Juhaltsänderungen bedingt wären — sie sind eben eine äußerliche<lb/> Liebhaberei des Autors, und obschon wir sie nicht loben, so heben sie nichts<lb/> von den wahrhaften Vorzügen und guten Wirkungen seiner Erzählungskunst ans.</p><lb/> <p xml:id="ID_2694" next="#ID_2695"> Die „Kleinen Novellen" sollten überall da gekannt und gelesen werden,<lb/> wo man noch Verständnis für die Phantasie, die einen überlieferten oder er¬<lb/> sonnenen Vorgang auch wirklich zu beleben vermag, Gefühl für die Frende an<lb/> der bunten Fülle der Lebensanschauungen und Empfindung für Feinheit des<lb/> Stils bewahrt hat. C. F. Meyer ist darin ein echter Poet, daß er das große<lb/> Grundgesetz der Gattung weder zu umgehen trachtet noch falsch interpretirt,<lb/> daß er in der Novelle vor allem die Darstellung eines in dieser Besonderheit<lb/> einzigen, nicht leicht wiederkehrenden Moments, einer eigentümlichen Handlung<lb/> oder eines Konfliktes sieht, der sich unter eben diesen Verhältnissen, in dieser<lb/> Verkettn»,; nicht wiederholen kann. Engherzig und äußerlich erfaßt, führt dies<lb/> Gesetz der Gattung die Novelle bekanntlich sehr oft an den Rand des Aben¬<lb/> teuerlichen und Absurden, richtig verstanden sichert es derselben Wirkungen, die<lb/> mit und in keiner andern Knnstgattnng zu erreiche» sind. Nun braucht man<lb/> nnr die älteste der Meyerschen Novellen, „Das Amulet," mit „Gustav Adolfs<lb/> Page" zu vergleichen, um wahrzunehmen, daß dem Dichter im Laufe seiner<lb/> Entwicklung die innersten Bedingungen der novellistischen Form klarer und schärfer<lb/> zum Bewußtsein gekommen sind. Wenn nun der neueste Novellist in Bezug<lb/> auf eine eigenartige „neue" oder besser einzige Handlung die Pfade einschlagen<lb/> muß, die schon Boccaccio und die alten florentinischen und venezianischen Fabn-<lb/> listen gewandelt sind, so wäre es Thorheit, die archaistische Nachahmung jener<lb/> klassischen Novellisten als das Ziel des modernen Autors hinzustellen. Ein<lb/> berechtigter Trieb der Erweiterung, ein unbesiegbarer Drang der Schaffenden<lb/> wie des Publikums nach Stimmung und lebendigster Anschaulichkeit dehnt die<lb/> moderne Novelle auf ganz natürliche Weise weiter aus, ohne daß wir beirren<lb/> die leere und geschwätzige Breite „beliebter Erzähler" loben wollen. Bei C. F.<lb/> Meyer ist dieser Trieb besonders stark entwickelt, seine bewegliche Phantasie be¬<lb/> lebt nicht nnr die vorgeführte Handlung mit jener Menge von Einzelzügen,<lb/> die ein ästhetischer Puritaner als nicht zur Sache gehörig bezeichnet und doch<lb/> die Teilnahme an dem erzählten Abenteuer erhöhen helfen, sondern er hat auch<lb/> eine Neigung, plötzlich Ausblicke in eine weitere Welt zu eröffnen, als die in<lb/> der Novelle dargestellte ist. Der Hintergrund ist weiter ausgeführt und ge¬<lb/> stattet der Vorstellungskraft des Lesers, sich weiter zu ergehen, als der Autor</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0622]
Lonrad Ferdinand Meyers kleine Novellen.
Roman „Georg Jenatsch" und der Novelle „Der Heilige" oder „König »ut
Heiliger," wie sie seit der zweiten oder dritten Auflage benannt ist. Die Titel-
äuderungen sind eine der Wunderlichkeiten unsers Schweizer Novellisten. Die
Novelle „Plautus im Nonnenkloster" hieß früher, wenn wir nicht irren, „Das
Brigittchen von Troger," „Gustav Adolfs Page" führte zuerst ganz gewiß den
Namen „Page Leubelfing." Es scheint nicht, daß diese Titeländerungen durch
wesentliche Juhaltsänderungen bedingt wären — sie sind eben eine äußerliche
Liebhaberei des Autors, und obschon wir sie nicht loben, so heben sie nichts
von den wahrhaften Vorzügen und guten Wirkungen seiner Erzählungskunst ans.
Die „Kleinen Novellen" sollten überall da gekannt und gelesen werden,
wo man noch Verständnis für die Phantasie, die einen überlieferten oder er¬
sonnenen Vorgang auch wirklich zu beleben vermag, Gefühl für die Frende an
der bunten Fülle der Lebensanschauungen und Empfindung für Feinheit des
Stils bewahrt hat. C. F. Meyer ist darin ein echter Poet, daß er das große
Grundgesetz der Gattung weder zu umgehen trachtet noch falsch interpretirt,
daß er in der Novelle vor allem die Darstellung eines in dieser Besonderheit
einzigen, nicht leicht wiederkehrenden Moments, einer eigentümlichen Handlung
oder eines Konfliktes sieht, der sich unter eben diesen Verhältnissen, in dieser
Verkettn»,; nicht wiederholen kann. Engherzig und äußerlich erfaßt, führt dies
Gesetz der Gattung die Novelle bekanntlich sehr oft an den Rand des Aben¬
teuerlichen und Absurden, richtig verstanden sichert es derselben Wirkungen, die
mit und in keiner andern Knnstgattnng zu erreiche» sind. Nun braucht man
nnr die älteste der Meyerschen Novellen, „Das Amulet," mit „Gustav Adolfs
Page" zu vergleichen, um wahrzunehmen, daß dem Dichter im Laufe seiner
Entwicklung die innersten Bedingungen der novellistischen Form klarer und schärfer
zum Bewußtsein gekommen sind. Wenn nun der neueste Novellist in Bezug
auf eine eigenartige „neue" oder besser einzige Handlung die Pfade einschlagen
muß, die schon Boccaccio und die alten florentinischen und venezianischen Fabn-
listen gewandelt sind, so wäre es Thorheit, die archaistische Nachahmung jener
klassischen Novellisten als das Ziel des modernen Autors hinzustellen. Ein
berechtigter Trieb der Erweiterung, ein unbesiegbarer Drang der Schaffenden
wie des Publikums nach Stimmung und lebendigster Anschaulichkeit dehnt die
moderne Novelle auf ganz natürliche Weise weiter aus, ohne daß wir beirren
die leere und geschwätzige Breite „beliebter Erzähler" loben wollen. Bei C. F.
Meyer ist dieser Trieb besonders stark entwickelt, seine bewegliche Phantasie be¬
lebt nicht nnr die vorgeführte Handlung mit jener Menge von Einzelzügen,
die ein ästhetischer Puritaner als nicht zur Sache gehörig bezeichnet und doch
die Teilnahme an dem erzählten Abenteuer erhöhen helfen, sondern er hat auch
eine Neigung, plötzlich Ausblicke in eine weitere Welt zu eröffnen, als die in
der Novelle dargestellte ist. Der Hintergrund ist weiter ausgeführt und ge¬
stattet der Vorstellungskraft des Lesers, sich weiter zu ergehen, als der Autor
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