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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rums Fischer und sein Kant.

er einmal von Kant (aber nicht durch seine Nachfolger!) lernt, daß diese Gegen¬
sätze beide falsche Vorstellungsweisen sind, die nur aufgehoben werden können
durch den transcendentalen Idealismus und empirischen Realismus, welche beide
miteinander wirklich notwendig verbunden sind. Das hatte mit vollem Recht
unser Anonymus gesagt. Wo bleibt nun der Unsinn und die Sudelei? Es
mag unangenehm sein, wenn man einen Eimer Wasser ausgegossen hat, um den
Gegner zu ertränken, und dasselbe tropfenweise wieder auf das eigne Haupt
zurückbekömmt. Aber wer kann das in diesem Falle verhindern?

Der ganze Streit dreht sich im Grunde um die Frage, ob die "Kritik der
reinen Vernunft" noch heute das ist oder vielmehr werden kann -- denn sie ist
es noch nie gewesen --, was sie im Sinne Kants sein sollte, d. i. ein Weg¬
weiser für alle Wissenschaften, um Irrtum abzuwehren und Wahrheit sicher zu
fördern und zu schlitzen, oder ob sie ein überwundener Standpunkt ist. Wenn
die schülerhaften Denkfehler, die Kuno Fischer Kant vorwirft, sich wirklich bei
ihm finden, dann bliebe uns nichts übrig, als uns der neuen Sonne, der Philo¬
sophie des Dinges an sich, zuzuwenden. Dann würde aber doch vielleicht diese
Sonne eher erkalten, als man gehofft hat, und es würde in kurzer Zeit wenig
mehr von wirklicher Philosophie in den Wissenschaften geredet werden, denn sie
wäre dann eine Fachwissenschaft geworden wie andre auch, an der sich wahr¬
scheinlich immer noch einige Spezialisten ergötzen würden, die dann das Recht
Hütten, jeden selbständigen Denker einen Dilettanten zu schelten. Sollten sich
aber umgekehrt die Spekulationen über das Ding an sich als Irrwege heraus¬
stellen, dann wird, wie wir hoffen, Kant noch einmal wieder lebendig ans dem
Schutt der Profesforcnweisheit auferstehen, die unnatürliche Trennung zwischen
Philosophie und Naturwissenschaft, die man in der englischen Wissenschaft nicht
einmal kennt, und die nur durch die sogenannten großen Idealisten in Deutsch¬
land verschuldet ist, wird ein Ende nehmen, und auf allen Gebieten des Lebens
wie der Wissenschaft wird durch den erneuten Einfluß Kants der Skeptizismus
schwinden. Dazu ist freilich zunächst erforderlich, daß die wirklichen unver¬
schuldeten Mängel im kantischen System überwunden werden. So namentlich
müssen die Gegenstände der praktischen Vernunft nach denselben Prinzipien be¬
handelt werden, die in der "Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt sind, denn
nur so kann die Quelle der transcendenter Spekulationen verstopft werden. Aus
dem großen stürmischen Meere des Scheines müssen die transcendentalen Ideen
gerettet werden auf die Insel, in welcher nach Kant allein Wahrheit gefunden
werden kann. Daß das möglich ist, wenn man die Thatsachen des Gefühls und des
Willens nicht als Dinge an sich, sondern als Erscheimmgen des innern Sinnes
betrachtet, die mit Hilfe der Kategorien einer exakten Erkenntnis wohl zugänglich
sind, das ist der Sinn des ersten Werkes von Albrecht Krause, welches vor¬
aussichtlich noch einmal eine ganz andre Rolle spielen wird, als Kuno Fischer
erwartet. Denn der Wagen dieser Untersuchungen ist bereits in so feste, sichere


Rums Fischer und sein Kant.

er einmal von Kant (aber nicht durch seine Nachfolger!) lernt, daß diese Gegen¬
sätze beide falsche Vorstellungsweisen sind, die nur aufgehoben werden können
durch den transcendentalen Idealismus und empirischen Realismus, welche beide
miteinander wirklich notwendig verbunden sind. Das hatte mit vollem Recht
unser Anonymus gesagt. Wo bleibt nun der Unsinn und die Sudelei? Es
mag unangenehm sein, wenn man einen Eimer Wasser ausgegossen hat, um den
Gegner zu ertränken, und dasselbe tropfenweise wieder auf das eigne Haupt
zurückbekömmt. Aber wer kann das in diesem Falle verhindern?

Der ganze Streit dreht sich im Grunde um die Frage, ob die „Kritik der
reinen Vernunft" noch heute das ist oder vielmehr werden kann — denn sie ist
es noch nie gewesen —, was sie im Sinne Kants sein sollte, d. i. ein Weg¬
weiser für alle Wissenschaften, um Irrtum abzuwehren und Wahrheit sicher zu
fördern und zu schlitzen, oder ob sie ein überwundener Standpunkt ist. Wenn
die schülerhaften Denkfehler, die Kuno Fischer Kant vorwirft, sich wirklich bei
ihm finden, dann bliebe uns nichts übrig, als uns der neuen Sonne, der Philo¬
sophie des Dinges an sich, zuzuwenden. Dann würde aber doch vielleicht diese
Sonne eher erkalten, als man gehofft hat, und es würde in kurzer Zeit wenig
mehr von wirklicher Philosophie in den Wissenschaften geredet werden, denn sie
wäre dann eine Fachwissenschaft geworden wie andre auch, an der sich wahr¬
scheinlich immer noch einige Spezialisten ergötzen würden, die dann das Recht
Hütten, jeden selbständigen Denker einen Dilettanten zu schelten. Sollten sich
aber umgekehrt die Spekulationen über das Ding an sich als Irrwege heraus¬
stellen, dann wird, wie wir hoffen, Kant noch einmal wieder lebendig ans dem
Schutt der Profesforcnweisheit auferstehen, die unnatürliche Trennung zwischen
Philosophie und Naturwissenschaft, die man in der englischen Wissenschaft nicht
einmal kennt, und die nur durch die sogenannten großen Idealisten in Deutsch¬
land verschuldet ist, wird ein Ende nehmen, und auf allen Gebieten des Lebens
wie der Wissenschaft wird durch den erneuten Einfluß Kants der Skeptizismus
schwinden. Dazu ist freilich zunächst erforderlich, daß die wirklichen unver¬
schuldeten Mängel im kantischen System überwunden werden. So namentlich
müssen die Gegenstände der praktischen Vernunft nach denselben Prinzipien be¬
handelt werden, die in der „Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt sind, denn
nur so kann die Quelle der transcendenter Spekulationen verstopft werden. Aus
dem großen stürmischen Meere des Scheines müssen die transcendentalen Ideen
gerettet werden auf die Insel, in welcher nach Kant allein Wahrheit gefunden
werden kann. Daß das möglich ist, wenn man die Thatsachen des Gefühls und des
Willens nicht als Dinge an sich, sondern als Erscheimmgen des innern Sinnes
betrachtet, die mit Hilfe der Kategorien einer exakten Erkenntnis wohl zugänglich
sind, das ist der Sinn des ersten Werkes von Albrecht Krause, welches vor¬
aussichtlich noch einmal eine ganz andre Rolle spielen wird, als Kuno Fischer
erwartet. Denn der Wagen dieser Untersuchungen ist bereits in so feste, sichere


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[0571] Rums Fischer und sein Kant. er einmal von Kant (aber nicht durch seine Nachfolger!) lernt, daß diese Gegen¬ sätze beide falsche Vorstellungsweisen sind, die nur aufgehoben werden können durch den transcendentalen Idealismus und empirischen Realismus, welche beide miteinander wirklich notwendig verbunden sind. Das hatte mit vollem Recht unser Anonymus gesagt. Wo bleibt nun der Unsinn und die Sudelei? Es mag unangenehm sein, wenn man einen Eimer Wasser ausgegossen hat, um den Gegner zu ertränken, und dasselbe tropfenweise wieder auf das eigne Haupt zurückbekömmt. Aber wer kann das in diesem Falle verhindern? Der ganze Streit dreht sich im Grunde um die Frage, ob die „Kritik der reinen Vernunft" noch heute das ist oder vielmehr werden kann — denn sie ist es noch nie gewesen —, was sie im Sinne Kants sein sollte, d. i. ein Weg¬ weiser für alle Wissenschaften, um Irrtum abzuwehren und Wahrheit sicher zu fördern und zu schlitzen, oder ob sie ein überwundener Standpunkt ist. Wenn die schülerhaften Denkfehler, die Kuno Fischer Kant vorwirft, sich wirklich bei ihm finden, dann bliebe uns nichts übrig, als uns der neuen Sonne, der Philo¬ sophie des Dinges an sich, zuzuwenden. Dann würde aber doch vielleicht diese Sonne eher erkalten, als man gehofft hat, und es würde in kurzer Zeit wenig mehr von wirklicher Philosophie in den Wissenschaften geredet werden, denn sie wäre dann eine Fachwissenschaft geworden wie andre auch, an der sich wahr¬ scheinlich immer noch einige Spezialisten ergötzen würden, die dann das Recht Hütten, jeden selbständigen Denker einen Dilettanten zu schelten. Sollten sich aber umgekehrt die Spekulationen über das Ding an sich als Irrwege heraus¬ stellen, dann wird, wie wir hoffen, Kant noch einmal wieder lebendig ans dem Schutt der Profesforcnweisheit auferstehen, die unnatürliche Trennung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, die man in der englischen Wissenschaft nicht einmal kennt, und die nur durch die sogenannten großen Idealisten in Deutsch¬ land verschuldet ist, wird ein Ende nehmen, und auf allen Gebieten des Lebens wie der Wissenschaft wird durch den erneuten Einfluß Kants der Skeptizismus schwinden. Dazu ist freilich zunächst erforderlich, daß die wirklichen unver¬ schuldeten Mängel im kantischen System überwunden werden. So namentlich müssen die Gegenstände der praktischen Vernunft nach denselben Prinzipien be¬ handelt werden, die in der „Kritik der reinen Vernunft" niedergelegt sind, denn nur so kann die Quelle der transcendenter Spekulationen verstopft werden. Aus dem großen stürmischen Meere des Scheines müssen die transcendentalen Ideen gerettet werden auf die Insel, in welcher nach Kant allein Wahrheit gefunden werden kann. Daß das möglich ist, wenn man die Thatsachen des Gefühls und des Willens nicht als Dinge an sich, sondern als Erscheimmgen des innern Sinnes betrachtet, die mit Hilfe der Kategorien einer exakten Erkenntnis wohl zugänglich sind, das ist der Sinn des ersten Werkes von Albrecht Krause, welches vor¬ aussichtlich noch einmal eine ganz andre Rolle spielen wird, als Kuno Fischer erwartet. Denn der Wagen dieser Untersuchungen ist bereits in so feste, sichere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/571>, abgerufen am 08.09.2024.