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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Ägraria.

werden, die letztern glauben mit einem gewissen Hochmut den Standpunkt des
Archimedes gewonnen zu haben, legen aber die Hände in den Schoß, und so
sind beide Richtungen, die alles mit sich fortreißen wollende und die beharrende,
gleich unbefriedigend und gleich unfruchtbar.

In der Mitte zwischen beiden Extremen bewegen sich nun zahlreiche Mei¬
nungen, die in so vielen Broschüren und Büchern ihren Ausdruck finden, das;
kaum die Zeit eines thätigen Menschen ausreicht, alles das zu bewältigen, was
der Büchermarkt an Lösungen der agrarischen Frage bringt. Schon aus dieser
Erscheinung wird man schließen müssen, daß es "irgendwo faul ist im Staate."
Wo soviele Ärzte mit ihren Heilmitteln auftreten, muß doch ein Kranker vor¬
handen sein. Selbstverständlich sind es nicht bloß Sachverständige, die sich zur
Heilung anbieten, die freie Konkurrenz auf allen Gebieten gewährt auch Quack¬
salbern genügenden Raum zur Entfaltung, und oft verstehen diese so sehr den
Schein der Sachkunde zu erwecken, daß sie den Unvorsichtigen zu täuschen wissen.

Zu den wirklich Sachverständigen gehört der Verfasser einer Schrift, welche
den Anlaß zu diesen Bemerkungen giebt. In einer umfangreichen Broschüre
behandelt der Landrat a. D. Otto Bolde die agrarischen Fragen der Gegen¬
wart*) in so ruhiger und leidenschaftsloser Weise, daß er selbst die Anerkennung
derjenigen beanspruchen darf, welche seine Anschauungen und Vorschlüge nicht
teilen. Das Buch ist leider geschrieben, bevor die Ergebnisse der Berufsstatistik
im Reiche veröffentlicht worden sind, und insofern bedürfen verschiedne seiner
Zahlen der Berichtigung; auch die Verhandlungen über die Holzzölle im Reichs^
tage konnten nicht mehr verwertet werden. Nichtsdestoweniger glauben wir,
daß der Verfasser bei seinen Studien auch unter Benutzung des neuern Materials
zu denselben Resultaten gelangt sein würde.

Er wirft zunächst die Frage auf, ob unsre heutigen agrarischen Zustände
befriedigend seien. Indem er davon ausgeht, daß die denkbar beste Organisation
der menschlichen Gesellschaft diejenige ist, bei welcher wirtschaftlich und sozial
der Schwerpunkt auf den Mittelklassen ruht und die Armut des Ärmsten sich
möglichst hoch über das Proletariat, wie der Reichtum des Reichsten nicht allzusehr
über den Durchschnitt erhebt, daß also zwischen den einzelnen Klassen der Be¬
völkerung keine allzugroße Kluft besteht, gelangt der Verfasser dahin, diese Frage
zu verneinen. Von großem Interesse war es uns, daß er auf dem landwirt¬
schaftlichen Gebiet deu Mangel statistischer Erhebungen fast ganz in derselben
Weise beklagt, wie dies in dem Aufsatze der Grenzboten "Bäuerliche Zustünde
in Deutschland" (S. 220) geschehen ist. Eben deshalb sind die Grundlagen für
die Beantwortung der aufgeworfenen Frage keine exakten, sondern nur auf
Einzelbeobachtungen begründete. Die Mängel der gegenwärtigen Zustande sieht



Die agrarischen Fragen der Gegenwart nebst Vorschlägen für die prensiischi'
Agrarpolitik. Berlin, Wnlther und Apolant, 1883, 145 S,
Ägraria.

werden, die letztern glauben mit einem gewissen Hochmut den Standpunkt des
Archimedes gewonnen zu haben, legen aber die Hände in den Schoß, und so
sind beide Richtungen, die alles mit sich fortreißen wollende und die beharrende,
gleich unbefriedigend und gleich unfruchtbar.

In der Mitte zwischen beiden Extremen bewegen sich nun zahlreiche Mei¬
nungen, die in so vielen Broschüren und Büchern ihren Ausdruck finden, das;
kaum die Zeit eines thätigen Menschen ausreicht, alles das zu bewältigen, was
der Büchermarkt an Lösungen der agrarischen Frage bringt. Schon aus dieser
Erscheinung wird man schließen müssen, daß es „irgendwo faul ist im Staate."
Wo soviele Ärzte mit ihren Heilmitteln auftreten, muß doch ein Kranker vor¬
handen sein. Selbstverständlich sind es nicht bloß Sachverständige, die sich zur
Heilung anbieten, die freie Konkurrenz auf allen Gebieten gewährt auch Quack¬
salbern genügenden Raum zur Entfaltung, und oft verstehen diese so sehr den
Schein der Sachkunde zu erwecken, daß sie den Unvorsichtigen zu täuschen wissen.

Zu den wirklich Sachverständigen gehört der Verfasser einer Schrift, welche
den Anlaß zu diesen Bemerkungen giebt. In einer umfangreichen Broschüre
behandelt der Landrat a. D. Otto Bolde die agrarischen Fragen der Gegen¬
wart*) in so ruhiger und leidenschaftsloser Weise, daß er selbst die Anerkennung
derjenigen beanspruchen darf, welche seine Anschauungen und Vorschlüge nicht
teilen. Das Buch ist leider geschrieben, bevor die Ergebnisse der Berufsstatistik
im Reiche veröffentlicht worden sind, und insofern bedürfen verschiedne seiner
Zahlen der Berichtigung; auch die Verhandlungen über die Holzzölle im Reichs^
tage konnten nicht mehr verwertet werden. Nichtsdestoweniger glauben wir,
daß der Verfasser bei seinen Studien auch unter Benutzung des neuern Materials
zu denselben Resultaten gelangt sein würde.

Er wirft zunächst die Frage auf, ob unsre heutigen agrarischen Zustände
befriedigend seien. Indem er davon ausgeht, daß die denkbar beste Organisation
der menschlichen Gesellschaft diejenige ist, bei welcher wirtschaftlich und sozial
der Schwerpunkt auf den Mittelklassen ruht und die Armut des Ärmsten sich
möglichst hoch über das Proletariat, wie der Reichtum des Reichsten nicht allzusehr
über den Durchschnitt erhebt, daß also zwischen den einzelnen Klassen der Be¬
völkerung keine allzugroße Kluft besteht, gelangt der Verfasser dahin, diese Frage
zu verneinen. Von großem Interesse war es uns, daß er auf dem landwirt¬
schaftlichen Gebiet deu Mangel statistischer Erhebungen fast ganz in derselben
Weise beklagt, wie dies in dem Aufsatze der Grenzboten „Bäuerliche Zustünde
in Deutschland" (S. 220) geschehen ist. Eben deshalb sind die Grundlagen für
die Beantwortung der aufgeworfenen Frage keine exakten, sondern nur auf
Einzelbeobachtungen begründete. Die Mängel der gegenwärtigen Zustande sieht



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Agrarpolitik. Berlin, Wnlther und Apolant, 1883, 145 S,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/546>, abgerufen am 08.09.2024.