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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Frankreich, Arran und China.

des Mittelmeeres hin und auf die Gelegenheit, sich dort neben Algerien auszu¬
dehnen, dann aber auch auf entlegenere Gebiete. Man habe, bemerkte er, oft
behauptet, daß Frankreich sich selbst genüge, keiner Eroberungen bedürfe und
der Begabung zur Gründung von Kolonien ermangle. "Ich weiß recht wohl,
fuhr er fort, daß es uns an dem Überschuß von Bevölkerung fehlt, der in be¬
nachbarten Nationen jene gewaltigen Auswanderungen fördert, welche dahin
führten, daß dem Mutterlande auf friedlichem Wege jenseits des Ozeans neue
Kolonien gewonnen wurden. Indeß haben wir in Frankreich einen Überfluß
von Kapital, wir haben eine Pflanzschule von Ingenieuren, von Männern der
praktischen Wissenschaften, von Spezialisten, die vortrefflich geeignet sind, neuen
Gebieten, die durch friedliche Eroberung erworben werden, die Wohlthaten der
Gesittung zuzuführen. Jenseits der Grenzen des europäischen Frankreichs giebt
es ein moralisches Frankreich, welches sich bis in den fernsten Osten erstreckt,
und dort haben wir das nationale Interesse zu wahren." Gegen diese Sprache
war durchaus nichts einzuwenden, am wenigsten konnten die in ihr ausgedrückten
Anschauungen und Absichten in Deutschland bedenklich erscheinen; aber streichen
wir in der Waddingtonschen Rede das Wort "friedlich" aus, so gewinnt die
Sache ein andres Gesicht, mit dem sie uus zwar für unser Interesse auch nichts
fürchten läßt, wohl aber Möglichkeiten, ja Wahrscheinlichkeiten einschließt, die
Gefahren für Frankreich selbst bedeuten. Die ins Auge gefaßten Eroberungen
ließen sich eben auf friedlichem Wege nicht bewerkstelligen. Man bedürfte dazu
Kriegsschiffe, Soldaten und Kanonen, und es könnte sich daraus, wenigstens
in Tonkin und Arran, eine Lage entwickeln, die für Frankreich sehr unbequem,
ja verhängnisvoll sein würde.

Bis jetzt ist es nur ein kleiner Krieg, der in Tonkin geführt wird. Die
Franzosen landeten in geringer Zahl an der dortigen Küste, um die Schutz¬
herrschaft über das Land zu beanspruchen und dem Handel und Verkehr neue
Wege zu schaffen. Geraume Zeit stockte das Unternehmen, etwa vor Jahres¬
frist kam neues Leben hinein, die Niederlage und der Tod des Kommandanten
Riviere verlangten Sühne und gaben dem Plane der Annexion neuen Antrieb,
Arran zeigte Neigung zum Widerstande, und jetzt erfahren wir aus Paris und
Hongkong, daß der dort stationirte französische Admiral mit dem Gedanken um¬
geht, sich der Befestigungen an der Mündung des Hueflusses zu bemächtigen
und so den ersten Schritt zur Belagerung und Einnahme von Huc, der Haupt¬
stadt von Aunam, zu thun. So ist ein kleiner Krieg allmählich zu einem ver¬
hältnismäßig großen geworden, der, wenn, wie vielfach erwartet wird, das be¬
nachbarte China sich direkt einmischen sollte -- indirekt ist dies bereits geschehen --,
noch weit größere Verhältnisse annehmen würde. Der Plan der Franzosen scheint
hier die Erwerbung des gesamten Landes an den Grenzen Siams von Saigon bis
zum Nordende Tonkins einzuschließen. Wie bekannt, sind erhebliche Verstärkungen,
Landtruppen in der Zahl von etwa fünftausend Mann, zu dem Zwecke dorthin


Frankreich, Arran und China.

des Mittelmeeres hin und auf die Gelegenheit, sich dort neben Algerien auszu¬
dehnen, dann aber auch auf entlegenere Gebiete. Man habe, bemerkte er, oft
behauptet, daß Frankreich sich selbst genüge, keiner Eroberungen bedürfe und
der Begabung zur Gründung von Kolonien ermangle. „Ich weiß recht wohl,
fuhr er fort, daß es uns an dem Überschuß von Bevölkerung fehlt, der in be¬
nachbarten Nationen jene gewaltigen Auswanderungen fördert, welche dahin
führten, daß dem Mutterlande auf friedlichem Wege jenseits des Ozeans neue
Kolonien gewonnen wurden. Indeß haben wir in Frankreich einen Überfluß
von Kapital, wir haben eine Pflanzschule von Ingenieuren, von Männern der
praktischen Wissenschaften, von Spezialisten, die vortrefflich geeignet sind, neuen
Gebieten, die durch friedliche Eroberung erworben werden, die Wohlthaten der
Gesittung zuzuführen. Jenseits der Grenzen des europäischen Frankreichs giebt
es ein moralisches Frankreich, welches sich bis in den fernsten Osten erstreckt,
und dort haben wir das nationale Interesse zu wahren." Gegen diese Sprache
war durchaus nichts einzuwenden, am wenigsten konnten die in ihr ausgedrückten
Anschauungen und Absichten in Deutschland bedenklich erscheinen; aber streichen
wir in der Waddingtonschen Rede das Wort „friedlich" aus, so gewinnt die
Sache ein andres Gesicht, mit dem sie uus zwar für unser Interesse auch nichts
fürchten läßt, wohl aber Möglichkeiten, ja Wahrscheinlichkeiten einschließt, die
Gefahren für Frankreich selbst bedeuten. Die ins Auge gefaßten Eroberungen
ließen sich eben auf friedlichem Wege nicht bewerkstelligen. Man bedürfte dazu
Kriegsschiffe, Soldaten und Kanonen, und es könnte sich daraus, wenigstens
in Tonkin und Arran, eine Lage entwickeln, die für Frankreich sehr unbequem,
ja verhängnisvoll sein würde.

Bis jetzt ist es nur ein kleiner Krieg, der in Tonkin geführt wird. Die
Franzosen landeten in geringer Zahl an der dortigen Küste, um die Schutz¬
herrschaft über das Land zu beanspruchen und dem Handel und Verkehr neue
Wege zu schaffen. Geraume Zeit stockte das Unternehmen, etwa vor Jahres¬
frist kam neues Leben hinein, die Niederlage und der Tod des Kommandanten
Riviere verlangten Sühne und gaben dem Plane der Annexion neuen Antrieb,
Arran zeigte Neigung zum Widerstande, und jetzt erfahren wir aus Paris und
Hongkong, daß der dort stationirte französische Admiral mit dem Gedanken um¬
geht, sich der Befestigungen an der Mündung des Hueflusses zu bemächtigen
und so den ersten Schritt zur Belagerung und Einnahme von Huc, der Haupt¬
stadt von Aunam, zu thun. So ist ein kleiner Krieg allmählich zu einem ver¬
hältnismäßig großen geworden, der, wenn, wie vielfach erwartet wird, das be¬
nachbarte China sich direkt einmischen sollte — indirekt ist dies bereits geschehen —,
noch weit größere Verhältnisse annehmen würde. Der Plan der Franzosen scheint
hier die Erwerbung des gesamten Landes an den Grenzen Siams von Saigon bis
zum Nordende Tonkins einzuschließen. Wie bekannt, sind erhebliche Verstärkungen,
Landtruppen in der Zahl von etwa fünftausend Mann, zu dem Zwecke dorthin


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[0496] Frankreich, Arran und China. des Mittelmeeres hin und auf die Gelegenheit, sich dort neben Algerien auszu¬ dehnen, dann aber auch auf entlegenere Gebiete. Man habe, bemerkte er, oft behauptet, daß Frankreich sich selbst genüge, keiner Eroberungen bedürfe und der Begabung zur Gründung von Kolonien ermangle. „Ich weiß recht wohl, fuhr er fort, daß es uns an dem Überschuß von Bevölkerung fehlt, der in be¬ nachbarten Nationen jene gewaltigen Auswanderungen fördert, welche dahin führten, daß dem Mutterlande auf friedlichem Wege jenseits des Ozeans neue Kolonien gewonnen wurden. Indeß haben wir in Frankreich einen Überfluß von Kapital, wir haben eine Pflanzschule von Ingenieuren, von Männern der praktischen Wissenschaften, von Spezialisten, die vortrefflich geeignet sind, neuen Gebieten, die durch friedliche Eroberung erworben werden, die Wohlthaten der Gesittung zuzuführen. Jenseits der Grenzen des europäischen Frankreichs giebt es ein moralisches Frankreich, welches sich bis in den fernsten Osten erstreckt, und dort haben wir das nationale Interesse zu wahren." Gegen diese Sprache war durchaus nichts einzuwenden, am wenigsten konnten die in ihr ausgedrückten Anschauungen und Absichten in Deutschland bedenklich erscheinen; aber streichen wir in der Waddingtonschen Rede das Wort „friedlich" aus, so gewinnt die Sache ein andres Gesicht, mit dem sie uus zwar für unser Interesse auch nichts fürchten läßt, wohl aber Möglichkeiten, ja Wahrscheinlichkeiten einschließt, die Gefahren für Frankreich selbst bedeuten. Die ins Auge gefaßten Eroberungen ließen sich eben auf friedlichem Wege nicht bewerkstelligen. Man bedürfte dazu Kriegsschiffe, Soldaten und Kanonen, und es könnte sich daraus, wenigstens in Tonkin und Arran, eine Lage entwickeln, die für Frankreich sehr unbequem, ja verhängnisvoll sein würde. Bis jetzt ist es nur ein kleiner Krieg, der in Tonkin geführt wird. Die Franzosen landeten in geringer Zahl an der dortigen Küste, um die Schutz¬ herrschaft über das Land zu beanspruchen und dem Handel und Verkehr neue Wege zu schaffen. Geraume Zeit stockte das Unternehmen, etwa vor Jahres¬ frist kam neues Leben hinein, die Niederlage und der Tod des Kommandanten Riviere verlangten Sühne und gaben dem Plane der Annexion neuen Antrieb, Arran zeigte Neigung zum Widerstande, und jetzt erfahren wir aus Paris und Hongkong, daß der dort stationirte französische Admiral mit dem Gedanken um¬ geht, sich der Befestigungen an der Mündung des Hueflusses zu bemächtigen und so den ersten Schritt zur Belagerung und Einnahme von Huc, der Haupt¬ stadt von Aunam, zu thun. So ist ein kleiner Krieg allmählich zu einem ver¬ hältnismäßig großen geworden, der, wenn, wie vielfach erwartet wird, das be¬ nachbarte China sich direkt einmischen sollte — indirekt ist dies bereits geschehen —, noch weit größere Verhältnisse annehmen würde. Der Plan der Franzosen scheint hier die Erwerbung des gesamten Landes an den Grenzen Siams von Saigon bis zum Nordende Tonkins einzuschließen. Wie bekannt, sind erhebliche Verstärkungen, Landtruppen in der Zahl von etwa fünftausend Mann, zu dem Zwecke dorthin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/496>, abgerufen am 08.09.2024.