Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.Rietschels Tutherkopf, Herbst 1860 hatte der Schwerkranke Meister die Kraft und den Mut behalten, Vor wenigen Wochen aber brachte die Münchner (sonst Augsburger) "All¬ Rietschels Tutherkopf, Herbst 1860 hatte der Schwerkranke Meister die Kraft und den Mut behalten, Vor wenigen Wochen aber brachte die Münchner (sonst Augsburger) „All¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153843"/> <fw type="header" place="top"> Rietschels Tutherkopf,</fw><lb/> <p xml:id="ID_1693" prev="#ID_1692"> Herbst 1860 hatte der Schwerkranke Meister die Kraft und den Mut behalten,<lb/> an dem riesigen Werke mit tvdverachtender Hingebung zu arbeiten. Vom Aus¬<lb/> gang des Jahres 1860 an und in den wenigen Wochen des Jahres 1861, die<lb/> noch zu leben ihm vergönnt waren (Rietschel starb am 21. Februar 1861), konnte<lb/> Rietschel wenig mehr selbst an seinem Werke thun und mußte seinen bedeutendste»<lb/> Schülern die Förderung desselben überlassen. Weil man wußte, daß Rietschel<lb/> diese beiden bedeutendsten Schüler, die Bildhauer Adolf Donndorf (gegenwärtig<lb/> Professor an der Kunstschule zu Stuttgart) und Gustav Kietz (noch jetzt in<lb/> Dresden) von vornherein bei der Arbeit an dem Reformationsdenkmal heran¬<lb/> gezogen und sie zu seinen Gehilfen erkoren hatte, so erschien es nach Rietschels<lb/> frühem Tode nur als ein Akt der Gerechtigkeit und wohlverstandner Pietät,<lb/> daß man die Vollendung des großen Werkes in den Händen dieser Schüler<lb/> ließ, die sich während der Arbeit, wie alle Welt anerkannte, zu selbständigen<lb/> Meistern entwickelten. Als Rietschels eigne Arbeit ist außer dem Entwurf<lb/> eben nur die mächtige Gestalt Luthers und diejenige Wiklefs anzusehen. Alle<lb/> noch so entgegengesetzten Beurteilungen des Reformationsdenkmales kamen darin<lb/> überein, daß sie in der energisch mächtigen Gestalt des Reformators eine Zierde<lb/> des Gesamtwerkcs, eine der glücklichsten plastischen Schöpfungen Rietschels er¬<lb/> blickten. Gegen Einzelheiten des Gesichtsausdruckes sind Ausstellungen erhoben,<lb/> aber niemals ist in Zweifel gezogen worden, daß der Kopf Luthers mit<lb/> der Figur aus einem Geist und Gepräge sei, niemals ist bis vor wenigen<lb/> Wochen die Behauptung gewagt worden, daß der Kopf der Lutherstatue garnicht<lb/> zu derselben gehöre und nicht in Einklang mit der Kolossalfigur des Refor¬<lb/> mators stehe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1694" next="#ID_1695"> Vor wenigen Wochen aber brachte die Münchner (sonst Augsburger) „All¬<lb/> gemeine Zeitung" in einem kurzen Artikel des Kunsthistorikers W. Lübke über<lb/> eine Lutherbüste, die Professor Ad. Donndorf für Tübingen modellirt hat, auch<lb/> eine Bemerkung, daß der genannte Bildhauer auch die Hauptarbeit an dem<lb/> Kopfe der Nietschelschen Lutherstatue gethan habe. Unmittelbar nach dem Er¬<lb/> scheinen dieser Notiz, die in ihrer Fassung einen und den andern Verehrer<lb/> Rietschels verletzen mußte, begann im „Dresdner Anzeiger" eine Polemik der<lb/> eigentümlichsten Art, deren schärfste Spitze sich gegen den Bildhauer Donndorf<lb/> richtete und welche die Tendenz, diesen Künstler in seinem moralischen und künst¬<lb/> lerischen Rufe zu vernichten, mit einer Geflissentlichkeit zur Schau trug, welche<lb/> in besserer Zeit, als die ist, in der wir leben, den Ekel jedes Gebildeten und<lb/> jedes anständig fühlenden Menschen erweckt hätte. Die Kunstweisen des „Dresdner<lb/> Anzeigers" stellten die Behauptung auf, Rietschels Licblingsschüler habe hinter<lb/> dem Rücken seines todkranken Meisters und im Dunkel denselben „übermeistern"<lb/> wollen, habe den „echten," von Rietschel selbst gebildeten Lutherkopf beseitigt, habe<lb/> damit das Wormser Komitee und die deutsche Nation betrogen und würde den<lb/> „echten" Lutherkopf ohne Zweifel vernichtet haben, wenn derselbe nicht dnrch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0396]
Rietschels Tutherkopf,
Herbst 1860 hatte der Schwerkranke Meister die Kraft und den Mut behalten,
an dem riesigen Werke mit tvdverachtender Hingebung zu arbeiten. Vom Aus¬
gang des Jahres 1860 an und in den wenigen Wochen des Jahres 1861, die
noch zu leben ihm vergönnt waren (Rietschel starb am 21. Februar 1861), konnte
Rietschel wenig mehr selbst an seinem Werke thun und mußte seinen bedeutendste»
Schülern die Förderung desselben überlassen. Weil man wußte, daß Rietschel
diese beiden bedeutendsten Schüler, die Bildhauer Adolf Donndorf (gegenwärtig
Professor an der Kunstschule zu Stuttgart) und Gustav Kietz (noch jetzt in
Dresden) von vornherein bei der Arbeit an dem Reformationsdenkmal heran¬
gezogen und sie zu seinen Gehilfen erkoren hatte, so erschien es nach Rietschels
frühem Tode nur als ein Akt der Gerechtigkeit und wohlverstandner Pietät,
daß man die Vollendung des großen Werkes in den Händen dieser Schüler
ließ, die sich während der Arbeit, wie alle Welt anerkannte, zu selbständigen
Meistern entwickelten. Als Rietschels eigne Arbeit ist außer dem Entwurf
eben nur die mächtige Gestalt Luthers und diejenige Wiklefs anzusehen. Alle
noch so entgegengesetzten Beurteilungen des Reformationsdenkmales kamen darin
überein, daß sie in der energisch mächtigen Gestalt des Reformators eine Zierde
des Gesamtwerkcs, eine der glücklichsten plastischen Schöpfungen Rietschels er¬
blickten. Gegen Einzelheiten des Gesichtsausdruckes sind Ausstellungen erhoben,
aber niemals ist in Zweifel gezogen worden, daß der Kopf Luthers mit
der Figur aus einem Geist und Gepräge sei, niemals ist bis vor wenigen
Wochen die Behauptung gewagt worden, daß der Kopf der Lutherstatue garnicht
zu derselben gehöre und nicht in Einklang mit der Kolossalfigur des Refor¬
mators stehe.
Vor wenigen Wochen aber brachte die Münchner (sonst Augsburger) „All¬
gemeine Zeitung" in einem kurzen Artikel des Kunsthistorikers W. Lübke über
eine Lutherbüste, die Professor Ad. Donndorf für Tübingen modellirt hat, auch
eine Bemerkung, daß der genannte Bildhauer auch die Hauptarbeit an dem
Kopfe der Nietschelschen Lutherstatue gethan habe. Unmittelbar nach dem Er¬
scheinen dieser Notiz, die in ihrer Fassung einen und den andern Verehrer
Rietschels verletzen mußte, begann im „Dresdner Anzeiger" eine Polemik der
eigentümlichsten Art, deren schärfste Spitze sich gegen den Bildhauer Donndorf
richtete und welche die Tendenz, diesen Künstler in seinem moralischen und künst¬
lerischen Rufe zu vernichten, mit einer Geflissentlichkeit zur Schau trug, welche
in besserer Zeit, als die ist, in der wir leben, den Ekel jedes Gebildeten und
jedes anständig fühlenden Menschen erweckt hätte. Die Kunstweisen des „Dresdner
Anzeigers" stellten die Behauptung auf, Rietschels Licblingsschüler habe hinter
dem Rücken seines todkranken Meisters und im Dunkel denselben „übermeistern"
wollen, habe den „echten," von Rietschel selbst gebildeten Lutherkopf beseitigt, habe
damit das Wormser Komitee und die deutsche Nation betrogen und würde den
„echten" Lutherkopf ohne Zweifel vernichtet haben, wenn derselbe nicht dnrch
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |