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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Friedrich Schlegel.

im kritischen Kunstwerke, herrschenden Ironie bezeichnet er es ja selbst als das
erste, das Kunstwerk in sich wieder zu erschaffen: dann aber "müssen wir uns
über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten
können" -- das ist der zweite erhabenere Moment.

Unter diesen Fragmenten findet man in Form von Schlagwörtern und
Paradoxen bereits alles angesammelt, was Schlegel in den folgenden Jahren
auf dem Gebiete der Ästhetik, Moral, Philosophie und Religion kundgegeben
hat. Seine "Ideen" über die letztere hat er später wiederum in Fragmentform
weiter entwickelt. Schleiermachers "Reden über die Religion" waren erschienen,
und er glaubte nun das Wort des Goethescher Märchens: "Es ist an der
Zeit," welches er, wo immer er sich vernehmen ließ, im Munde führte, auch
auf die Religion anwenden zu können. Er schob Schleiermachers Reden in
einer Athenäumsnotiz sachte beiseite und trat in dem folgenden Stücke seiner
Zeitschrift selber als Prophet auf, mit dem ausgesprochenen Vorsatze, eine neue
Religion zu stiften. Aber das fromme Gesicht war damals noch nicht seine
gewohnte Maske geworden; man sieht etwas wie Ironie um die Lippen des
Propheten spielen, wenn der Vertreter der polemischen Totalität, der prahlerische
Bekämpfer Lessings, Schillers, Jakobis, Kants mit biblischer Weihe sagt: "Der
ewige Friede unter den Künstlern ist nicht mehr fern." Schleiermacher hatte
Kunst, Philosophie, Moral und Religion scharf von einander getrennt; Schlegel
wirft sie wieder zusammen und verflüchtigt den Begriff der Religion ebenso wie
den der Poesie, wenn er sagt: "Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung,
das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie. Sie ist
nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum
aller übrigen." Mit Recht nannte Schleiermacher die Ideen ein Produkt von
Schlegels sich immer mehr verlierender innerer Unfertigst und ungeordneter
Fülle von Gedanken und Anregungen.

Mit Essays wollte Schlegel nach den Fragmenten eine neue Epoche seiner
Schriftstellerei beginnen. Aber seine unglückliche Neigung zur Dichtung, später
kunstmäßig betriebene Faulheit hinderten diese Absicht, und der Brief an seine
Berliner Freundin Dorothea Veit "Über die Philosophie," welcher nur Vor¬
läufer sein sollte, trat zunächst vereinzelt ans Licht. Er behandelt ganz im
Sinne des Aufsatzes über die Diotima die Frage, ob Philosophie eine Auf¬
gabe oder Bestimmung der Frauen sei? Der leitende Gedanke ist auch hier,
daß sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit das Rechte, Wahre und
Schöne seien; daß der Geschlechtsunterschied das gefährlichste Hindernis der
Menschlichkeit sei, welches daher durch Gegengewichte überwunden werden müsse.
Ein solches Gegengewicht ist für die Frauen das Studium der Philosophie,
welches sie ebenso wie die Poesie die Männer zur Religion hiuleite. Nicht
die Bestimmung, nur ihre Natur und Lage hemmen die Frau in die engen
Grenzen ihrer Häuslichkeit; gerade deshalb soll sie nichts so sehr in sich aus-


Friedrich Schlegel.

im kritischen Kunstwerke, herrschenden Ironie bezeichnet er es ja selbst als das
erste, das Kunstwerk in sich wieder zu erschaffen: dann aber „müssen wir uns
über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten
können" — das ist der zweite erhabenere Moment.

Unter diesen Fragmenten findet man in Form von Schlagwörtern und
Paradoxen bereits alles angesammelt, was Schlegel in den folgenden Jahren
auf dem Gebiete der Ästhetik, Moral, Philosophie und Religion kundgegeben
hat. Seine „Ideen" über die letztere hat er später wiederum in Fragmentform
weiter entwickelt. Schleiermachers „Reden über die Religion" waren erschienen,
und er glaubte nun das Wort des Goethescher Märchens: „Es ist an der
Zeit," welches er, wo immer er sich vernehmen ließ, im Munde führte, auch
auf die Religion anwenden zu können. Er schob Schleiermachers Reden in
einer Athenäumsnotiz sachte beiseite und trat in dem folgenden Stücke seiner
Zeitschrift selber als Prophet auf, mit dem ausgesprochenen Vorsatze, eine neue
Religion zu stiften. Aber das fromme Gesicht war damals noch nicht seine
gewohnte Maske geworden; man sieht etwas wie Ironie um die Lippen des
Propheten spielen, wenn der Vertreter der polemischen Totalität, der prahlerische
Bekämpfer Lessings, Schillers, Jakobis, Kants mit biblischer Weihe sagt: „Der
ewige Friede unter den Künstlern ist nicht mehr fern." Schleiermacher hatte
Kunst, Philosophie, Moral und Religion scharf von einander getrennt; Schlegel
wirft sie wieder zusammen und verflüchtigt den Begriff der Religion ebenso wie
den der Poesie, wenn er sagt: „Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung,
das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie. Sie ist
nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum
aller übrigen." Mit Recht nannte Schleiermacher die Ideen ein Produkt von
Schlegels sich immer mehr verlierender innerer Unfertigst und ungeordneter
Fülle von Gedanken und Anregungen.

Mit Essays wollte Schlegel nach den Fragmenten eine neue Epoche seiner
Schriftstellerei beginnen. Aber seine unglückliche Neigung zur Dichtung, später
kunstmäßig betriebene Faulheit hinderten diese Absicht, und der Brief an seine
Berliner Freundin Dorothea Veit „Über die Philosophie," welcher nur Vor¬
läufer sein sollte, trat zunächst vereinzelt ans Licht. Er behandelt ganz im
Sinne des Aufsatzes über die Diotima die Frage, ob Philosophie eine Auf¬
gabe oder Bestimmung der Frauen sei? Der leitende Gedanke ist auch hier,
daß sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit das Rechte, Wahre und
Schöne seien; daß der Geschlechtsunterschied das gefährlichste Hindernis der
Menschlichkeit sei, welches daher durch Gegengewichte überwunden werden müsse.
Ein solches Gegengewicht ist für die Frauen das Studium der Philosophie,
welches sie ebenso wie die Poesie die Männer zur Religion hiuleite. Nicht
die Bestimmung, nur ihre Natur und Lage hemmen die Frau in die engen
Grenzen ihrer Häuslichkeit; gerade deshalb soll sie nichts so sehr in sich aus-


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[0352] Friedrich Schlegel. im kritischen Kunstwerke, herrschenden Ironie bezeichnet er es ja selbst als das erste, das Kunstwerk in sich wieder zu erschaffen: dann aber „müssen wir uns über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten können" — das ist der zweite erhabenere Moment. Unter diesen Fragmenten findet man in Form von Schlagwörtern und Paradoxen bereits alles angesammelt, was Schlegel in den folgenden Jahren auf dem Gebiete der Ästhetik, Moral, Philosophie und Religion kundgegeben hat. Seine „Ideen" über die letztere hat er später wiederum in Fragmentform weiter entwickelt. Schleiermachers „Reden über die Religion" waren erschienen, und er glaubte nun das Wort des Goethescher Märchens: „Es ist an der Zeit," welches er, wo immer er sich vernehmen ließ, im Munde führte, auch auf die Religion anwenden zu können. Er schob Schleiermachers Reden in einer Athenäumsnotiz sachte beiseite und trat in dem folgenden Stücke seiner Zeitschrift selber als Prophet auf, mit dem ausgesprochenen Vorsatze, eine neue Religion zu stiften. Aber das fromme Gesicht war damals noch nicht seine gewohnte Maske geworden; man sieht etwas wie Ironie um die Lippen des Propheten spielen, wenn der Vertreter der polemischen Totalität, der prahlerische Bekämpfer Lessings, Schillers, Jakobis, Kants mit biblischer Weihe sagt: „Der ewige Friede unter den Künstlern ist nicht mehr fern." Schleiermacher hatte Kunst, Philosophie, Moral und Religion scharf von einander getrennt; Schlegel wirft sie wieder zusammen und verflüchtigt den Begriff der Religion ebenso wie den der Poesie, wenn er sagt: „Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung, das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie. Sie ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen." Mit Recht nannte Schleiermacher die Ideen ein Produkt von Schlegels sich immer mehr verlierender innerer Unfertigst und ungeordneter Fülle von Gedanken und Anregungen. Mit Essays wollte Schlegel nach den Fragmenten eine neue Epoche seiner Schriftstellerei beginnen. Aber seine unglückliche Neigung zur Dichtung, später kunstmäßig betriebene Faulheit hinderten diese Absicht, und der Brief an seine Berliner Freundin Dorothea Veit „Über die Philosophie," welcher nur Vor¬ läufer sein sollte, trat zunächst vereinzelt ans Licht. Er behandelt ganz im Sinne des Aufsatzes über die Diotima die Frage, ob Philosophie eine Auf¬ gabe oder Bestimmung der Frauen sei? Der leitende Gedanke ist auch hier, daß sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit das Rechte, Wahre und Schöne seien; daß der Geschlechtsunterschied das gefährlichste Hindernis der Menschlichkeit sei, welches daher durch Gegengewichte überwunden werden müsse. Ein solches Gegengewicht ist für die Frauen das Studium der Philosophie, welches sie ebenso wie die Poesie die Männer zur Religion hiuleite. Nicht die Bestimmung, nur ihre Natur und Lage hemmen die Frau in die engen Grenzen ihrer Häuslichkeit; gerade deshalb soll sie nichts so sehr in sich aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/352>, abgerufen am 08.09.2024.