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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

auf diesen oder jenen Sinnesreiz in mir entspringen? Aber es genügt nicht,
nachzuweisen, daß die entstandenen Vorstellungen je nach der Reizung dieser
oder jener Sinnesnerven diese oder jene Qualität, wie Licht, Farbe, Ton, Ge¬
schmack, Geruch oder Härte und Wärme haben müssen, und daß diese Vorstellungen
unmittelbar im Raume sind, und ihre Stelle im Raum durch unsre Bewegungen
bezeichnet und erkannt werden kann. Es muß auch nachgewiesen werden, warum
sie in jedem Falle gerade diesen und keinen andern Charakter haben. Warum
ich z. B. ein Ding groß oder klein sehe im Vergleich zu andern, oder fern oder
nahe, rechts oder links, oben oder unten, und schließlich warum mir das eine
gefällt und das andre nicht gefällt, das sind lauter spezielle Bestimmungen der
sinnlichen Wahrnehmung, die garnicht aus dem bloßen Material der sinnlichen
Anregung erklärt werden können, sondern dazu bedarf es des Nachweises ge¬
wisser Funktionen in unserm Erkenntnisvermögen, nennen wir es Einbildungs¬
kraft oder Verstand oder überhaupt transcendentale Fähigkeiten, welche für
alle diese Bestimmungen maßgebend sein müssen. Das sind die von Kant auf¬
gestellten Kategorien, deren Wirksamkeit allerdings die sinnliche Wahrnehmung
wie das ganze Leben beherrschen, die aber noch so gut wie unbekannt ge¬
blieben sind, weil man den Sinn nicht begriffen hat, den Kant mit ihnen ver¬
bunden hat.

Die Bedeutung der Kategorienlehre läßt sich hier nur andenten. Kant
wollte in ihnen die gesamten Formen aufstellen, in denen unser transcendentales
Vermögen thätig wird, sobald es überhaupt eine spontane, nicht leidende, son¬
dern erfassende, ergreifende, sich etwas aneignende und unterwerfende Thätig¬
keit entwickelt. Er fand, daß die ursprünglichste, einfachste Thätigkeit unsers
Denkens das Urteilen sei, also mußten die in der Logik seit Aristoteles' Zeiten
aufgezählten Formen der Urteile die Quelle sein, aus welcher die Arten des
Denkens zu erkennen waren; und zwar vollständig, denn man hatte seit Aristo¬
teles noch nicht mehr Formen der Urteile finden können trotz allen Fleißes der
Logiker. Diese Formen der Urteile waren offenbar durch verschiedene Arten
des Denkens entstanden, also mußte es so viel Arten zu denken, d. h. so viel
verschiedene Formen der Thätigkeit unsers Verstandes, mit kurzem Ausdruck
so viel Erkeuntnisfuuktionen geben, als es Formen der Urteile bei den Logikern
gab. Daß nun hier die unzulängliche Kenntnis des Aristoteles bei Kant der
Grund war, daß er nur zwölf Kategorien auffand, während Aristoteles sechzehn
Urteilsformen hat, das hat erst in der jüngsten Zeit Albrecht Krause nach¬
gewiesen, und dadurch ist erst die Kategorieulehre zu dem geworden, was sie
nach Kants Sinn von Anfang an sein sollte, ein Leitfaden für alles Erkennet!
in der Natur sowohl wie im geistigen Leben. Indessen ergiebt sich doch auch
schon aus den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und ganz
besonders aus den nachgelassenen Fragmenten Kants vom Übergang der meta¬
physischen Anfangsgründe zur Physik, welche von Reicke veröffentlicht werden,


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

auf diesen oder jenen Sinnesreiz in mir entspringen? Aber es genügt nicht,
nachzuweisen, daß die entstandenen Vorstellungen je nach der Reizung dieser
oder jener Sinnesnerven diese oder jene Qualität, wie Licht, Farbe, Ton, Ge¬
schmack, Geruch oder Härte und Wärme haben müssen, und daß diese Vorstellungen
unmittelbar im Raume sind, und ihre Stelle im Raum durch unsre Bewegungen
bezeichnet und erkannt werden kann. Es muß auch nachgewiesen werden, warum
sie in jedem Falle gerade diesen und keinen andern Charakter haben. Warum
ich z. B. ein Ding groß oder klein sehe im Vergleich zu andern, oder fern oder
nahe, rechts oder links, oben oder unten, und schließlich warum mir das eine
gefällt und das andre nicht gefällt, das sind lauter spezielle Bestimmungen der
sinnlichen Wahrnehmung, die garnicht aus dem bloßen Material der sinnlichen
Anregung erklärt werden können, sondern dazu bedarf es des Nachweises ge¬
wisser Funktionen in unserm Erkenntnisvermögen, nennen wir es Einbildungs¬
kraft oder Verstand oder überhaupt transcendentale Fähigkeiten, welche für
alle diese Bestimmungen maßgebend sein müssen. Das sind die von Kant auf¬
gestellten Kategorien, deren Wirksamkeit allerdings die sinnliche Wahrnehmung
wie das ganze Leben beherrschen, die aber noch so gut wie unbekannt ge¬
blieben sind, weil man den Sinn nicht begriffen hat, den Kant mit ihnen ver¬
bunden hat.

Die Bedeutung der Kategorienlehre läßt sich hier nur andenten. Kant
wollte in ihnen die gesamten Formen aufstellen, in denen unser transcendentales
Vermögen thätig wird, sobald es überhaupt eine spontane, nicht leidende, son¬
dern erfassende, ergreifende, sich etwas aneignende und unterwerfende Thätig¬
keit entwickelt. Er fand, daß die ursprünglichste, einfachste Thätigkeit unsers
Denkens das Urteilen sei, also mußten die in der Logik seit Aristoteles' Zeiten
aufgezählten Formen der Urteile die Quelle sein, aus welcher die Arten des
Denkens zu erkennen waren; und zwar vollständig, denn man hatte seit Aristo¬
teles noch nicht mehr Formen der Urteile finden können trotz allen Fleißes der
Logiker. Diese Formen der Urteile waren offenbar durch verschiedene Arten
des Denkens entstanden, also mußte es so viel Arten zu denken, d. h. so viel
verschiedene Formen der Thätigkeit unsers Verstandes, mit kurzem Ausdruck
so viel Erkeuntnisfuuktionen geben, als es Formen der Urteile bei den Logikern
gab. Daß nun hier die unzulängliche Kenntnis des Aristoteles bei Kant der
Grund war, daß er nur zwölf Kategorien auffand, während Aristoteles sechzehn
Urteilsformen hat, das hat erst in der jüngsten Zeit Albrecht Krause nach¬
gewiesen, und dadurch ist erst die Kategorieulehre zu dem geworden, was sie
nach Kants Sinn von Anfang an sein sollte, ein Leitfaden für alles Erkennet!
in der Natur sowohl wie im geistigen Leben. Indessen ergiebt sich doch auch
schon aus den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und ganz
besonders aus den nachgelassenen Fragmenten Kants vom Übergang der meta¬
physischen Anfangsgründe zur Physik, welche von Reicke veröffentlicht werden,


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[0346] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. auf diesen oder jenen Sinnesreiz in mir entspringen? Aber es genügt nicht, nachzuweisen, daß die entstandenen Vorstellungen je nach der Reizung dieser oder jener Sinnesnerven diese oder jene Qualität, wie Licht, Farbe, Ton, Ge¬ schmack, Geruch oder Härte und Wärme haben müssen, und daß diese Vorstellungen unmittelbar im Raume sind, und ihre Stelle im Raum durch unsre Bewegungen bezeichnet und erkannt werden kann. Es muß auch nachgewiesen werden, warum sie in jedem Falle gerade diesen und keinen andern Charakter haben. Warum ich z. B. ein Ding groß oder klein sehe im Vergleich zu andern, oder fern oder nahe, rechts oder links, oben oder unten, und schließlich warum mir das eine gefällt und das andre nicht gefällt, das sind lauter spezielle Bestimmungen der sinnlichen Wahrnehmung, die garnicht aus dem bloßen Material der sinnlichen Anregung erklärt werden können, sondern dazu bedarf es des Nachweises ge¬ wisser Funktionen in unserm Erkenntnisvermögen, nennen wir es Einbildungs¬ kraft oder Verstand oder überhaupt transcendentale Fähigkeiten, welche für alle diese Bestimmungen maßgebend sein müssen. Das sind die von Kant auf¬ gestellten Kategorien, deren Wirksamkeit allerdings die sinnliche Wahrnehmung wie das ganze Leben beherrschen, die aber noch so gut wie unbekannt ge¬ blieben sind, weil man den Sinn nicht begriffen hat, den Kant mit ihnen ver¬ bunden hat. Die Bedeutung der Kategorienlehre läßt sich hier nur andenten. Kant wollte in ihnen die gesamten Formen aufstellen, in denen unser transcendentales Vermögen thätig wird, sobald es überhaupt eine spontane, nicht leidende, son¬ dern erfassende, ergreifende, sich etwas aneignende und unterwerfende Thätig¬ keit entwickelt. Er fand, daß die ursprünglichste, einfachste Thätigkeit unsers Denkens das Urteilen sei, also mußten die in der Logik seit Aristoteles' Zeiten aufgezählten Formen der Urteile die Quelle sein, aus welcher die Arten des Denkens zu erkennen waren; und zwar vollständig, denn man hatte seit Aristo¬ teles noch nicht mehr Formen der Urteile finden können trotz allen Fleißes der Logiker. Diese Formen der Urteile waren offenbar durch verschiedene Arten des Denkens entstanden, also mußte es so viel Arten zu denken, d. h. so viel verschiedene Formen der Thätigkeit unsers Verstandes, mit kurzem Ausdruck so viel Erkeuntnisfuuktionen geben, als es Formen der Urteile bei den Logikern gab. Daß nun hier die unzulängliche Kenntnis des Aristoteles bei Kant der Grund war, daß er nur zwölf Kategorien auffand, während Aristoteles sechzehn Urteilsformen hat, das hat erst in der jüngsten Zeit Albrecht Krause nach¬ gewiesen, und dadurch ist erst die Kategorieulehre zu dem geworden, was sie nach Kants Sinn von Anfang an sein sollte, ein Leitfaden für alles Erkennet! in der Natur sowohl wie im geistigen Leben. Indessen ergiebt sich doch auch schon aus den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und ganz besonders aus den nachgelassenen Fragmenten Kants vom Übergang der meta¬ physischen Anfangsgründe zur Physik, welche von Reicke veröffentlicht werden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/346>, abgerufen am 08.09.2024.