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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

haben kann. Diese Beziehungen bestehen darin, daß die wahrnehmbare Welt
der Erscheinung uns nicht anders erklärlich ist als unter der Voraussetzung
bestimmter transcendentaler Bedingungen, deren letzter Grund transcendere ist
und uns verborgen bleiben muß. Also dasjenige, was alle Erscheinungswelt
erst möglich macht, die notwendige Bedingung für alle Erfahrung, welche in
dem übersinnlichen Geiste wurzelt, das nennt Kant transcendental. Wie
jedes Fach seine technischen Ausdrücke hat, wie der Schiffer uicht von der
obersten Querstange des mittlern Mastes, sondern von der obersten Bran-Raa
redet, so kann man es auch dem Philosophen nicht verdenken, wenn er den
kurzen Ausdruck anstatt der Umschreibung gebraucht.

Vor allen Dingen darf man das Wort transcendental nicht verwechseln
mit angeboren, wie es so oft geschehen ist. Alles Ungeborne ist real, durch
die physische Organisation unsers Körpers bedingt, das Transcendentale aber ist
ideal, d. h. es läßt sich nicht in der Körperwelt nachweisen, auch wenn es auf
dieselbe einwirkt. So wird man sich denn vielleicht mit dem weitläufigen Aus¬
druck transcendental-ideal befreunden, wenn man eingesehen hat, daß es eigentlich
nur eine Abkürzung einer viel weitläufigern Umschreibung ist. Es ist der wissen¬
schaftlich technische Ausdruck für das, was mau im gewöhnlichen Leben geistig
nennen würde. Der Gegensatz dazu ist das empirisch Reale, der eigentliche
Inhalt der wahrnehmbaren Welt. Etwas schlechthin Reales an sich giebt es
für uns nicht, daher ist der Zusatz empirisch sorgsam hinzugesetzt, weil wir nur
vou demjenigen Realen mit Recht reden können, welches unsrer Erfahrung unterliegt.
Die Erfahrung aber wird nur gemacht durch den Geist, darum erscheint das
Reale nur unter den Bedingungen, unter denen Erfahrung überhaupt zustande kommt.

Damit ist das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Natur oder zur
empirischen Welt vollständig klar bestimmt, die berühmte Verbindung zwischen
Geist und Materie, Transcendentalem und Realen, oder wie man es sonst
bezeichnen will, hergestellt. Das Erfahrbare der Welt ist nur Erscheinung und
kein Ding an sich, d. h. es muß sich richten nach den Formen unsers Geistes,
denn auf eine andre Weise als in diesen Formen erfahren wir nichts. Alle
Versuche, diese ewige Ordnung zu durchbrechen, sind nichts als Thorheit. Die
ganze sinnlich wahrnehmbare Welt hat also transcendentale Idealität, insofern
sie ohne diese Bedingung in unserm Geiste nicht erfahren werden kann, und
empirische Realität zugleich, insofern sie der wirklich reale Gegenstand der Er¬
fahrung außer uns ist.

Wenn man nach diesen Bestimmungen an die Erklärung der sinnliche"
Wahrnehmung herangeht, so kann man nur erstaunen, wie leicht und sicher sich
alle Rätsel lösen. Es ist in der That so, wie Kant es ausgedrückt hat, daß
durch diese "kopernikanische Umkehr," den Wechsel des Standpunktes, die Er¬
klärung der Erscheinungen erst wieder in Fluß kommt, die vorher ins Stocken
geraten war. Nicht wir haben uns nach den Dingen zu richten, sondern die


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

haben kann. Diese Beziehungen bestehen darin, daß die wahrnehmbare Welt
der Erscheinung uns nicht anders erklärlich ist als unter der Voraussetzung
bestimmter transcendentaler Bedingungen, deren letzter Grund transcendere ist
und uns verborgen bleiben muß. Also dasjenige, was alle Erscheinungswelt
erst möglich macht, die notwendige Bedingung für alle Erfahrung, welche in
dem übersinnlichen Geiste wurzelt, das nennt Kant transcendental. Wie
jedes Fach seine technischen Ausdrücke hat, wie der Schiffer uicht von der
obersten Querstange des mittlern Mastes, sondern von der obersten Bran-Raa
redet, so kann man es auch dem Philosophen nicht verdenken, wenn er den
kurzen Ausdruck anstatt der Umschreibung gebraucht.

Vor allen Dingen darf man das Wort transcendental nicht verwechseln
mit angeboren, wie es so oft geschehen ist. Alles Ungeborne ist real, durch
die physische Organisation unsers Körpers bedingt, das Transcendentale aber ist
ideal, d. h. es läßt sich nicht in der Körperwelt nachweisen, auch wenn es auf
dieselbe einwirkt. So wird man sich denn vielleicht mit dem weitläufigen Aus¬
druck transcendental-ideal befreunden, wenn man eingesehen hat, daß es eigentlich
nur eine Abkürzung einer viel weitläufigern Umschreibung ist. Es ist der wissen¬
schaftlich technische Ausdruck für das, was mau im gewöhnlichen Leben geistig
nennen würde. Der Gegensatz dazu ist das empirisch Reale, der eigentliche
Inhalt der wahrnehmbaren Welt. Etwas schlechthin Reales an sich giebt es
für uns nicht, daher ist der Zusatz empirisch sorgsam hinzugesetzt, weil wir nur
vou demjenigen Realen mit Recht reden können, welches unsrer Erfahrung unterliegt.
Die Erfahrung aber wird nur gemacht durch den Geist, darum erscheint das
Reale nur unter den Bedingungen, unter denen Erfahrung überhaupt zustande kommt.

Damit ist das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Natur oder zur
empirischen Welt vollständig klar bestimmt, die berühmte Verbindung zwischen
Geist und Materie, Transcendentalem und Realen, oder wie man es sonst
bezeichnen will, hergestellt. Das Erfahrbare der Welt ist nur Erscheinung und
kein Ding an sich, d. h. es muß sich richten nach den Formen unsers Geistes,
denn auf eine andre Weise als in diesen Formen erfahren wir nichts. Alle
Versuche, diese ewige Ordnung zu durchbrechen, sind nichts als Thorheit. Die
ganze sinnlich wahrnehmbare Welt hat also transcendentale Idealität, insofern
sie ohne diese Bedingung in unserm Geiste nicht erfahren werden kann, und
empirische Realität zugleich, insofern sie der wirklich reale Gegenstand der Er¬
fahrung außer uns ist.

Wenn man nach diesen Bestimmungen an die Erklärung der sinnliche»
Wahrnehmung herangeht, so kann man nur erstaunen, wie leicht und sicher sich
alle Rätsel lösen. Es ist in der That so, wie Kant es ausgedrückt hat, daß
durch diese „kopernikanische Umkehr," den Wechsel des Standpunktes, die Er¬
klärung der Erscheinungen erst wieder in Fluß kommt, die vorher ins Stocken
geraten war. Nicht wir haben uns nach den Dingen zu richten, sondern die


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[0343] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. haben kann. Diese Beziehungen bestehen darin, daß die wahrnehmbare Welt der Erscheinung uns nicht anders erklärlich ist als unter der Voraussetzung bestimmter transcendentaler Bedingungen, deren letzter Grund transcendere ist und uns verborgen bleiben muß. Also dasjenige, was alle Erscheinungswelt erst möglich macht, die notwendige Bedingung für alle Erfahrung, welche in dem übersinnlichen Geiste wurzelt, das nennt Kant transcendental. Wie jedes Fach seine technischen Ausdrücke hat, wie der Schiffer uicht von der obersten Querstange des mittlern Mastes, sondern von der obersten Bran-Raa redet, so kann man es auch dem Philosophen nicht verdenken, wenn er den kurzen Ausdruck anstatt der Umschreibung gebraucht. Vor allen Dingen darf man das Wort transcendental nicht verwechseln mit angeboren, wie es so oft geschehen ist. Alles Ungeborne ist real, durch die physische Organisation unsers Körpers bedingt, das Transcendentale aber ist ideal, d. h. es läßt sich nicht in der Körperwelt nachweisen, auch wenn es auf dieselbe einwirkt. So wird man sich denn vielleicht mit dem weitläufigen Aus¬ druck transcendental-ideal befreunden, wenn man eingesehen hat, daß es eigentlich nur eine Abkürzung einer viel weitläufigern Umschreibung ist. Es ist der wissen¬ schaftlich technische Ausdruck für das, was mau im gewöhnlichen Leben geistig nennen würde. Der Gegensatz dazu ist das empirisch Reale, der eigentliche Inhalt der wahrnehmbaren Welt. Etwas schlechthin Reales an sich giebt es für uns nicht, daher ist der Zusatz empirisch sorgsam hinzugesetzt, weil wir nur vou demjenigen Realen mit Recht reden können, welches unsrer Erfahrung unterliegt. Die Erfahrung aber wird nur gemacht durch den Geist, darum erscheint das Reale nur unter den Bedingungen, unter denen Erfahrung überhaupt zustande kommt. Damit ist das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Natur oder zur empirischen Welt vollständig klar bestimmt, die berühmte Verbindung zwischen Geist und Materie, Transcendentalem und Realen, oder wie man es sonst bezeichnen will, hergestellt. Das Erfahrbare der Welt ist nur Erscheinung und kein Ding an sich, d. h. es muß sich richten nach den Formen unsers Geistes, denn auf eine andre Weise als in diesen Formen erfahren wir nichts. Alle Versuche, diese ewige Ordnung zu durchbrechen, sind nichts als Thorheit. Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt hat also transcendentale Idealität, insofern sie ohne diese Bedingung in unserm Geiste nicht erfahren werden kann, und empirische Realität zugleich, insofern sie der wirklich reale Gegenstand der Er¬ fahrung außer uns ist. Wenn man nach diesen Bestimmungen an die Erklärung der sinnliche» Wahrnehmung herangeht, so kann man nur erstaunen, wie leicht und sicher sich alle Rätsel lösen. Es ist in der That so, wie Kant es ausgedrückt hat, daß durch diese „kopernikanische Umkehr," den Wechsel des Standpunktes, die Er¬ klärung der Erscheinungen erst wieder in Fluß kommt, die vorher ins Stocken geraten war. Nicht wir haben uns nach den Dingen zu richten, sondern die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/343>, abgerufen am 08.09.2024.