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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

Erscheinung erzeugen müßten, welche mit dem Ding an sich keine Ähnlichkeit
hätte. Denn es ist unzweifelhaft zu beweisen, daß das Ding gerade so, wie
ich es wahrnehme, meine Sinne gereizt hat, und zwar gerade darum hat es
mich so und so affizirt, weil ich in der Wahrnehmung finde, daß es so und so
beschaffen ist. Ich habe z. B. die Platte eines Tisches berührt, und das wieder¬
holte Betasten derselben überzeugte mich von ihren Eigenschaften der Härte,
Glätte, Begrenzung u. f. w. Das Betasten dient aber zunächst nur der wieder¬
holten Reizung meiner Tastnerven, welche die Empfindung des Gegenstandes
erzwingt, und alle Motive für meine Wahrnehmung werden dnrch die Art der
Reizung und meine Gegenwirkung gegen dieselbe erzeugt. Oder ich empfinde
durch mein Auge das Dasein eines grünen Dinges außer mir und komme
mit Hilfe der Bewegungen des Auges zur Wahrnehmung der Form desselben
und seines Ortes im Raume. Dann ist der Hergang der, daß das wirkliche
Ding Lichtwellen reflektirt hat, die beim Anftreffen auf meine Netzhaut die
Empfindung von etwas Grünem im Raum erregten. Nicht etwa daß ein Ding
an sich meine Netzhaut erregt und mich veranlaßt hat, etwas Grünes aus
meinem Auge hinanszusetzcn, welches als die bloße Erscheinung gar keine Ähn¬
lichkeit mit dem Wesen jenes Dinges hätte. Sondern der Gegenstand ist wirklich
gerade so grün wie ich ihn sehe, vorausgesetzt, daß ich normale Augen habe,
er hat die Form und den Ort im Raume wirklich, deu ich mit Hilfe meiner
Fähigkeiten wahrnehme. Daß er im Sonnenlicht Heller grün und in der
Dämmerung grau erscheint, ändert an der Wirklichkeit aller dieser Eigenschaften
ebenso wenig, als daß ein Farbenblinder ihn vielleicht braun wahrnimmt, denn
für diesen existirt wirklich die Farbe nicht, die er nicht empfinden kann. Selten ist
wohl eine so nichtssagende Redensart erfunden worden wie die vom "Reich der Dinge
an sich," welche hinter der Erscheinung stecken. Denn wenn wir auch alle fünf
Sinne zu Hilfe nehmen, und die Gegenstände der Wahrnehmung analysiren, so
kommen wir doch nie zu andern Eigenschaften derselben, als die wir dnrch unsre
Sinne wahrnehmen. Auch das ist kein Einwurf, daß man sagt, es giebt viele
Dinge in der Welt, die wir nicht wahrnehmen, und viele sind schon vorher
dagewesen, ehe wir sie wahrnahmen. Dann waren und sind sie eben Gegen¬
stände möglicher Erfahrung und unterscheiden sich nur dadurch vou den Gegen¬
ständen wirklicher Erfahrung, daß sie noch nicht wahrgenommen sind. Aber sie
stehen ebensogut wie diese unter den Regeln der Wahrnehmung überhaupt,
d. h. wir können nicht anders von ihnen reden als unter der Voraussetzung,
daß sie wahrnehmbar sind. Was wir außerdem für ein Bedürfnis haben
sollen, von Dingen an sich zu reden, die wir nie wahrnehmen, ist ganz unver¬
ständlich.

Stellen wir beide Anschauungen strikt einander gegenüber. Die herrschende
physiologische Erklciruugsart sagt: Der Druck, welchen dieser Tisch ans meine
Tastnerven macht, bringt eine gewisse Physische Erregung in denselben hervor.


Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung.

Erscheinung erzeugen müßten, welche mit dem Ding an sich keine Ähnlichkeit
hätte. Denn es ist unzweifelhaft zu beweisen, daß das Ding gerade so, wie
ich es wahrnehme, meine Sinne gereizt hat, und zwar gerade darum hat es
mich so und so affizirt, weil ich in der Wahrnehmung finde, daß es so und so
beschaffen ist. Ich habe z. B. die Platte eines Tisches berührt, und das wieder¬
holte Betasten derselben überzeugte mich von ihren Eigenschaften der Härte,
Glätte, Begrenzung u. f. w. Das Betasten dient aber zunächst nur der wieder¬
holten Reizung meiner Tastnerven, welche die Empfindung des Gegenstandes
erzwingt, und alle Motive für meine Wahrnehmung werden dnrch die Art der
Reizung und meine Gegenwirkung gegen dieselbe erzeugt. Oder ich empfinde
durch mein Auge das Dasein eines grünen Dinges außer mir und komme
mit Hilfe der Bewegungen des Auges zur Wahrnehmung der Form desselben
und seines Ortes im Raume. Dann ist der Hergang der, daß das wirkliche
Ding Lichtwellen reflektirt hat, die beim Anftreffen auf meine Netzhaut die
Empfindung von etwas Grünem im Raum erregten. Nicht etwa daß ein Ding
an sich meine Netzhaut erregt und mich veranlaßt hat, etwas Grünes aus
meinem Auge hinanszusetzcn, welches als die bloße Erscheinung gar keine Ähn¬
lichkeit mit dem Wesen jenes Dinges hätte. Sondern der Gegenstand ist wirklich
gerade so grün wie ich ihn sehe, vorausgesetzt, daß ich normale Augen habe,
er hat die Form und den Ort im Raume wirklich, deu ich mit Hilfe meiner
Fähigkeiten wahrnehme. Daß er im Sonnenlicht Heller grün und in der
Dämmerung grau erscheint, ändert an der Wirklichkeit aller dieser Eigenschaften
ebenso wenig, als daß ein Farbenblinder ihn vielleicht braun wahrnimmt, denn
für diesen existirt wirklich die Farbe nicht, die er nicht empfinden kann. Selten ist
wohl eine so nichtssagende Redensart erfunden worden wie die vom „Reich der Dinge
an sich," welche hinter der Erscheinung stecken. Denn wenn wir auch alle fünf
Sinne zu Hilfe nehmen, und die Gegenstände der Wahrnehmung analysiren, so
kommen wir doch nie zu andern Eigenschaften derselben, als die wir dnrch unsre
Sinne wahrnehmen. Auch das ist kein Einwurf, daß man sagt, es giebt viele
Dinge in der Welt, die wir nicht wahrnehmen, und viele sind schon vorher
dagewesen, ehe wir sie wahrnahmen. Dann waren und sind sie eben Gegen¬
stände möglicher Erfahrung und unterscheiden sich nur dadurch vou den Gegen¬
ständen wirklicher Erfahrung, daß sie noch nicht wahrgenommen sind. Aber sie
stehen ebensogut wie diese unter den Regeln der Wahrnehmung überhaupt,
d. h. wir können nicht anders von ihnen reden als unter der Voraussetzung,
daß sie wahrnehmbar sind. Was wir außerdem für ein Bedürfnis haben
sollen, von Dingen an sich zu reden, die wir nie wahrnehmen, ist ganz unver¬
ständlich.

Stellen wir beide Anschauungen strikt einander gegenüber. Die herrschende
physiologische Erklciruugsart sagt: Der Druck, welchen dieser Tisch ans meine
Tastnerven macht, bringt eine gewisse Physische Erregung in denselben hervor.


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[0341] Die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung. Erscheinung erzeugen müßten, welche mit dem Ding an sich keine Ähnlichkeit hätte. Denn es ist unzweifelhaft zu beweisen, daß das Ding gerade so, wie ich es wahrnehme, meine Sinne gereizt hat, und zwar gerade darum hat es mich so und so affizirt, weil ich in der Wahrnehmung finde, daß es so und so beschaffen ist. Ich habe z. B. die Platte eines Tisches berührt, und das wieder¬ holte Betasten derselben überzeugte mich von ihren Eigenschaften der Härte, Glätte, Begrenzung u. f. w. Das Betasten dient aber zunächst nur der wieder¬ holten Reizung meiner Tastnerven, welche die Empfindung des Gegenstandes erzwingt, und alle Motive für meine Wahrnehmung werden dnrch die Art der Reizung und meine Gegenwirkung gegen dieselbe erzeugt. Oder ich empfinde durch mein Auge das Dasein eines grünen Dinges außer mir und komme mit Hilfe der Bewegungen des Auges zur Wahrnehmung der Form desselben und seines Ortes im Raume. Dann ist der Hergang der, daß das wirkliche Ding Lichtwellen reflektirt hat, die beim Anftreffen auf meine Netzhaut die Empfindung von etwas Grünem im Raum erregten. Nicht etwa daß ein Ding an sich meine Netzhaut erregt und mich veranlaßt hat, etwas Grünes aus meinem Auge hinanszusetzcn, welches als die bloße Erscheinung gar keine Ähn¬ lichkeit mit dem Wesen jenes Dinges hätte. Sondern der Gegenstand ist wirklich gerade so grün wie ich ihn sehe, vorausgesetzt, daß ich normale Augen habe, er hat die Form und den Ort im Raume wirklich, deu ich mit Hilfe meiner Fähigkeiten wahrnehme. Daß er im Sonnenlicht Heller grün und in der Dämmerung grau erscheint, ändert an der Wirklichkeit aller dieser Eigenschaften ebenso wenig, als daß ein Farbenblinder ihn vielleicht braun wahrnimmt, denn für diesen existirt wirklich die Farbe nicht, die er nicht empfinden kann. Selten ist wohl eine so nichtssagende Redensart erfunden worden wie die vom „Reich der Dinge an sich," welche hinter der Erscheinung stecken. Denn wenn wir auch alle fünf Sinne zu Hilfe nehmen, und die Gegenstände der Wahrnehmung analysiren, so kommen wir doch nie zu andern Eigenschaften derselben, als die wir dnrch unsre Sinne wahrnehmen. Auch das ist kein Einwurf, daß man sagt, es giebt viele Dinge in der Welt, die wir nicht wahrnehmen, und viele sind schon vorher dagewesen, ehe wir sie wahrnahmen. Dann waren und sind sie eben Gegen¬ stände möglicher Erfahrung und unterscheiden sich nur dadurch vou den Gegen¬ ständen wirklicher Erfahrung, daß sie noch nicht wahrgenommen sind. Aber sie stehen ebensogut wie diese unter den Regeln der Wahrnehmung überhaupt, d. h. wir können nicht anders von ihnen reden als unter der Voraussetzung, daß sie wahrnehmbar sind. Was wir außerdem für ein Bedürfnis haben sollen, von Dingen an sich zu reden, die wir nie wahrnehmen, ist ganz unver¬ ständlich. Stellen wir beide Anschauungen strikt einander gegenüber. Die herrschende physiologische Erklciruugsart sagt: Der Druck, welchen dieser Tisch ans meine Tastnerven macht, bringt eine gewisse Physische Erregung in denselben hervor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/341>, abgerufen am 08.09.2024.