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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Vie Entstehung der sinnlichen U?ahrnehmung.

durch neue philosophische Vertiefung etwas gewinnen könnten. Aber es giebt
ein ganz bestimmtes Gebiet, wo man der Forschung ihren Stillstand und ihre
Ratlosigkeit aä ovulos demonstriren kann; das ist das Gebiet der Erklärung
der sinnlichen Wahrnehmung, jenes Terrain, auf dem Geist und Körper zu¬
sammentreffen. Ist es denn erträglich, wenn uns als das Resultat der tiefsten
Forschung gesagt wird, daß wir die Dinge außer uns in der Welt niemals
erkennen können, wie sie wirklich sind? daß unsre Sinne nur Abdrücke von den
Dingen empfangen, nur Zeichen, die diesen so wenig ähnlich sind, wie etwa die
Buchstaben einer Schrift dem Sinn der Worte? Können wir uns denn dabei
beruhigen, daß unsre Sinne uns die Welt in einer Form und Art erscheinen
lassen, die mit der wirklichen Welt gar keine Ähnlichkeit habe? Hat es über¬
haupt einen Sinn oder ist es Unsinn, die Sinnenwelt als eine Welt der Er¬
scheinung, die wir durch Empfindung und Erfahrung kennen, vergleichen zu
wollen mit der Welt der Dinge an sich, die dahinter steckt, und die wir gar
nicht kennen, von der wir aber doch die Ähnlichkeit oder Unühnlichkeit mit der
Erscheinungswelt behaupten wollen? Die einzelnen Fragen aus der Physio¬
logie der Netzhaut oder der Tastnerven, die trotz des sorgfältigsten Sammel¬
steißes unbeantwortet geblieben sind und bleiben mußten, sind so zahlreich, daß
sie sich hier nicht aufzählen lassen.

Es ist als wenn das Verständnis verloren gegangen wäre dafür, daß es,
wie Kant sagte, ein Skandal in der Philosophie und allgemeinen Menschen¬
vernunft ist, zu behaupten, wir könnten von dem Dasein und der Beschaffenheit
der Dinge außer uns nichts wissen. Man scheint garnicht die Gefahr zu sehen,
die darin liegt, daß die Naturwissenschaft einerseits auf der festen Basis der
Erkenntnis von Dingen und von Thatsachen, welche die Dinge thun, zu fußen
vorgiebt, und andrerseits erklärt, daß wir von diesen Dingen gar nichts sicheres
wissen können. Ist es nicht klar, daß aus diesem Widerspruch, wenn er Jahr¬
zehnte hindurch dauert, eine Demoralisation folgen muß? Wenn die Wissen¬
schaft selbst sich für unfähig erklärt, die Berechtigung für ihre Fortschritte im
Zusammenhang mit dem Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes nach¬
zuweisen, so bleibt das einzige, was den Wert der Wissenschaft bestimmt, nur
noch der praktische Erfolg. Und auf diesem Wege sind wir in der That schon
sehr weit vorgeschritten. Eine Philosophie, die nur zum vollendeten Skeptizis¬
mus führt, hat keinen Anspruch auf Hochachtung in unserm raschlebigen, nur
sichere Erfolge aufsuchenden Zeitalter. Sie wird mit Recht gering geschätzt, und
gegen die Folgen in der Zukunft ist man blind.

So steht es aber wirklich gegenwärtig, und zwar darum, weil das richtige
Berständnis Kants niemals zur Geltung gekommen ist. Denn jene Brücke
zwischen Geist und Körper ist durch ihn geschlagen. Sie heißt Zeit und Raum
^s Formen unsrer Rezeptivität, und wird fortwährend beschritten von unsern
Sinneseindrücken und den Funktionen der Spontaneität oder des Verstandes.


Vie Entstehung der sinnlichen U?ahrnehmung.

durch neue philosophische Vertiefung etwas gewinnen könnten. Aber es giebt
ein ganz bestimmtes Gebiet, wo man der Forschung ihren Stillstand und ihre
Ratlosigkeit aä ovulos demonstriren kann; das ist das Gebiet der Erklärung
der sinnlichen Wahrnehmung, jenes Terrain, auf dem Geist und Körper zu¬
sammentreffen. Ist es denn erträglich, wenn uns als das Resultat der tiefsten
Forschung gesagt wird, daß wir die Dinge außer uns in der Welt niemals
erkennen können, wie sie wirklich sind? daß unsre Sinne nur Abdrücke von den
Dingen empfangen, nur Zeichen, die diesen so wenig ähnlich sind, wie etwa die
Buchstaben einer Schrift dem Sinn der Worte? Können wir uns denn dabei
beruhigen, daß unsre Sinne uns die Welt in einer Form und Art erscheinen
lassen, die mit der wirklichen Welt gar keine Ähnlichkeit habe? Hat es über¬
haupt einen Sinn oder ist es Unsinn, die Sinnenwelt als eine Welt der Er¬
scheinung, die wir durch Empfindung und Erfahrung kennen, vergleichen zu
wollen mit der Welt der Dinge an sich, die dahinter steckt, und die wir gar
nicht kennen, von der wir aber doch die Ähnlichkeit oder Unühnlichkeit mit der
Erscheinungswelt behaupten wollen? Die einzelnen Fragen aus der Physio¬
logie der Netzhaut oder der Tastnerven, die trotz des sorgfältigsten Sammel¬
steißes unbeantwortet geblieben sind und bleiben mußten, sind so zahlreich, daß
sie sich hier nicht aufzählen lassen.

Es ist als wenn das Verständnis verloren gegangen wäre dafür, daß es,
wie Kant sagte, ein Skandal in der Philosophie und allgemeinen Menschen¬
vernunft ist, zu behaupten, wir könnten von dem Dasein und der Beschaffenheit
der Dinge außer uns nichts wissen. Man scheint garnicht die Gefahr zu sehen,
die darin liegt, daß die Naturwissenschaft einerseits auf der festen Basis der
Erkenntnis von Dingen und von Thatsachen, welche die Dinge thun, zu fußen
vorgiebt, und andrerseits erklärt, daß wir von diesen Dingen gar nichts sicheres
wissen können. Ist es nicht klar, daß aus diesem Widerspruch, wenn er Jahr¬
zehnte hindurch dauert, eine Demoralisation folgen muß? Wenn die Wissen¬
schaft selbst sich für unfähig erklärt, die Berechtigung für ihre Fortschritte im
Zusammenhang mit dem Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes nach¬
zuweisen, so bleibt das einzige, was den Wert der Wissenschaft bestimmt, nur
noch der praktische Erfolg. Und auf diesem Wege sind wir in der That schon
sehr weit vorgeschritten. Eine Philosophie, die nur zum vollendeten Skeptizis¬
mus führt, hat keinen Anspruch auf Hochachtung in unserm raschlebigen, nur
sichere Erfolge aufsuchenden Zeitalter. Sie wird mit Recht gering geschätzt, und
gegen die Folgen in der Zukunft ist man blind.

So steht es aber wirklich gegenwärtig, und zwar darum, weil das richtige
Berständnis Kants niemals zur Geltung gekommen ist. Denn jene Brücke
zwischen Geist und Körper ist durch ihn geschlagen. Sie heißt Zeit und Raum
^s Formen unsrer Rezeptivität, und wird fortwährend beschritten von unsern
Sinneseindrücken und den Funktionen der Spontaneität oder des Verstandes.


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[0339] Vie Entstehung der sinnlichen U?ahrnehmung. durch neue philosophische Vertiefung etwas gewinnen könnten. Aber es giebt ein ganz bestimmtes Gebiet, wo man der Forschung ihren Stillstand und ihre Ratlosigkeit aä ovulos demonstriren kann; das ist das Gebiet der Erklärung der sinnlichen Wahrnehmung, jenes Terrain, auf dem Geist und Körper zu¬ sammentreffen. Ist es denn erträglich, wenn uns als das Resultat der tiefsten Forschung gesagt wird, daß wir die Dinge außer uns in der Welt niemals erkennen können, wie sie wirklich sind? daß unsre Sinne nur Abdrücke von den Dingen empfangen, nur Zeichen, die diesen so wenig ähnlich sind, wie etwa die Buchstaben einer Schrift dem Sinn der Worte? Können wir uns denn dabei beruhigen, daß unsre Sinne uns die Welt in einer Form und Art erscheinen lassen, die mit der wirklichen Welt gar keine Ähnlichkeit habe? Hat es über¬ haupt einen Sinn oder ist es Unsinn, die Sinnenwelt als eine Welt der Er¬ scheinung, die wir durch Empfindung und Erfahrung kennen, vergleichen zu wollen mit der Welt der Dinge an sich, die dahinter steckt, und die wir gar nicht kennen, von der wir aber doch die Ähnlichkeit oder Unühnlichkeit mit der Erscheinungswelt behaupten wollen? Die einzelnen Fragen aus der Physio¬ logie der Netzhaut oder der Tastnerven, die trotz des sorgfältigsten Sammel¬ steißes unbeantwortet geblieben sind und bleiben mußten, sind so zahlreich, daß sie sich hier nicht aufzählen lassen. Es ist als wenn das Verständnis verloren gegangen wäre dafür, daß es, wie Kant sagte, ein Skandal in der Philosophie und allgemeinen Menschen¬ vernunft ist, zu behaupten, wir könnten von dem Dasein und der Beschaffenheit der Dinge außer uns nichts wissen. Man scheint garnicht die Gefahr zu sehen, die darin liegt, daß die Naturwissenschaft einerseits auf der festen Basis der Erkenntnis von Dingen und von Thatsachen, welche die Dinge thun, zu fußen vorgiebt, und andrerseits erklärt, daß wir von diesen Dingen gar nichts sicheres wissen können. Ist es nicht klar, daß aus diesem Widerspruch, wenn er Jahr¬ zehnte hindurch dauert, eine Demoralisation folgen muß? Wenn die Wissen¬ schaft selbst sich für unfähig erklärt, die Berechtigung für ihre Fortschritte im Zusammenhang mit dem Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes nach¬ zuweisen, so bleibt das einzige, was den Wert der Wissenschaft bestimmt, nur noch der praktische Erfolg. Und auf diesem Wege sind wir in der That schon sehr weit vorgeschritten. Eine Philosophie, die nur zum vollendeten Skeptizis¬ mus führt, hat keinen Anspruch auf Hochachtung in unserm raschlebigen, nur sichere Erfolge aufsuchenden Zeitalter. Sie wird mit Recht gering geschätzt, und gegen die Folgen in der Zukunft ist man blind. So steht es aber wirklich gegenwärtig, und zwar darum, weil das richtige Berständnis Kants niemals zur Geltung gekommen ist. Denn jene Brücke zwischen Geist und Körper ist durch ihn geschlagen. Sie heißt Zeit und Raum ^s Formen unsrer Rezeptivität, und wird fortwährend beschritten von unsern Sinneseindrücken und den Funktionen der Spontaneität oder des Verstandes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/339>, abgerufen am 08.09.2024.