Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.Literatur. Carayon, wo ihn eine schöne Mutter und eine anmutige, aber leider von den Literatur. Carayon, wo ihn eine schöne Mutter und eine anmutige, aber leider von den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0327" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153774"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1452" prev="#ID_1451"> Carayon, wo ihn eine schöne Mutter und eine anmutige, aber leider von den<lb/> verhängnisvollen Blatternarben ihrer frischesten Schönheit beraubte Tochter wechsels¬<lb/> weise anziehen. Er attnchirte sich an die Cnrayons, ohne eine Heirat zu beabsichtigen,<lb/> der Gedanke an die Ehe hat für einen Mann seines Schlages überhaupt etwas<lb/> Peinliches. Die Mutter, zu welcher er, wie das im zwölften Kapitel (S. 134)<lb/> enthaltene Gespräch verrät, unzweifelhaft in sehr intime Beziehungen geraten ist,<lb/> verlangt vou Herrn von Schach auch gar nicht geheiratet zu werden. Aber in<lb/> einer schwachen Stunde findet er die Tochter Victoire von Carayon doch auch charmant<lb/> und unwiderstehlich und überläßt sich dieser Empfindung in rückhaltlosester Weise.<lb/> Die geheime Leidenschaft, welche Fräulein Victoire für den gefährlich schönen Mann<lb/> empfindet, macht ihre Schwachheit begreiflich. Die wunderliche Schäferstunde hat<lb/> Folgen, Frau von Carayon sieht sich genötigt, vou Schach die „Legitimisirung des<lb/> Geschehenen" zu fordern. Im ersten Augenblick fühlt der Rittmeister, was seine<lb/> Pflicht ist, im zweiten stellen sich ihm Schrecknisse dar, die freilich nur für ihn<lb/> Schrecknisse sind. Die Berliner Medisance verbreitet Karrikaturen auf ihn, er<lb/> flieht in die Einsamkeit seines märkischen Schlosses. Die düstern Reflexionen,<lb/> welche er hier anstellt, machen ihn ungeneigter als je, sein verpfändetes Wort ein¬<lb/> zulösen und Victoire von Carayon zu heiraten. „Jetzt bin ich zwölf Stunden<lb/> hier und mir ist, als wären es zwölf Jahre. . . Wie wird es sein? Alltags die<lb/> Kreepschen und Sonntags Bienengräber oder der Radenslebensche, was keinen<lb/> Unterschied macht. Einer wie der andre. Gute Leute, versteht sich, alle gut. . .<lb/> Und dann gehe ich mit Victoire durch deu Garten und aus dem Park auf die<lb/> Wiese, die 'wir vom Schloß aus immer und ewig und ewig und immer sehn<lb/> und auf der der Ampher und die Ranunkeln blühn. Und dazwischen spazieren<lb/> die Störche. Vielleicht sind wir allein; aber vielleicht länft auch ein kleiner<lb/> Dreijähriger neben uns her und singt in einem fort: »Adcbaar du bester bring<lb/> mir eine Schwester.« Und meine Schloßherrin errötet und wünscht sich das<lb/> Schwesterchen auch. Und endlich sind elf Jahre herum und wir halten an der<lb/> ersten Station, an der »ersten Station,« die »stroherne Hochzeit« heißt. Ein sonder¬<lb/> bares Wort. Und dann ist auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen sür die<lb/> Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle<lb/> rücke ich dann als Rittmeister ein und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire.<lb/> Vorher aber habe ich eine Konferenz mit dem Maler und sage ihm: »Ich rechne<lb/> darauf, daß Sie den Ausdruck zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich.«<lb/> Oder soll ich ihm geradezu sagen: »Machen Sie's gnädig? Nein nein!«" — Unter<lb/> dem Gewicht solcher Befürchtungen versteckt Schach von Wuthenow seinen Kopf in<lb/> den Sand und Frau von Carayon wendet sich, zum äußersten getrieben, in einer<lb/> Audienz, die ihr der Generaladjutant von Köckcritz verschafft, an den König.<lb/> Friedrich Wilhelm III. bescheidet seinen Rittmeister und läßt ihm die Wahl, den<lb/> Dienst zu quittiren oder Fräulein von Carayon zu heiraten. Der knappen und<lb/> gutherzigen Mahnung des Königs fügt Königin Louise noch liebenswürdige Er¬<lb/> mutigungen hinzu. Aber der Offizier vom Regiment Gensdarmes ist bereits<lb/> entschlossen. Er gehorcht dem Befehl des Königs und genügt seiner Natur zugleich.<lb/> Er läßt sich mit Fräulein Victoire trauen, hält das Hochzeitsdiner mit gutem<lb/> Anstand aus und fährt darnach in seine Wohnung, um sich zur Hochzeitsreise<lb/> vorzubereiten, wie seine junge Gemahlin und Schwiegermutter meinen, in Wahrheit,<lb/> um sich in seinein Wagen zu erschießen. Ganz Berlin bleibt mit dem Rätsel<lb/> Zurück, ob Herr von Schach sich über das Schwanken seiner Neigung zwischen<lb/> Mutter und Tochter nicht habe hinweghelfen können oder ob ihn die Verzweiflung,<lb/> eine nicht schöne Frau neben sich herschleppen zu müssen, aus dem Leben getrieben habe.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0327]
Literatur.
Carayon, wo ihn eine schöne Mutter und eine anmutige, aber leider von den
verhängnisvollen Blatternarben ihrer frischesten Schönheit beraubte Tochter wechsels¬
weise anziehen. Er attnchirte sich an die Cnrayons, ohne eine Heirat zu beabsichtigen,
der Gedanke an die Ehe hat für einen Mann seines Schlages überhaupt etwas
Peinliches. Die Mutter, zu welcher er, wie das im zwölften Kapitel (S. 134)
enthaltene Gespräch verrät, unzweifelhaft in sehr intime Beziehungen geraten ist,
verlangt vou Herrn von Schach auch gar nicht geheiratet zu werden. Aber in
einer schwachen Stunde findet er die Tochter Victoire von Carayon doch auch charmant
und unwiderstehlich und überläßt sich dieser Empfindung in rückhaltlosester Weise.
Die geheime Leidenschaft, welche Fräulein Victoire für den gefährlich schönen Mann
empfindet, macht ihre Schwachheit begreiflich. Die wunderliche Schäferstunde hat
Folgen, Frau von Carayon sieht sich genötigt, vou Schach die „Legitimisirung des
Geschehenen" zu fordern. Im ersten Augenblick fühlt der Rittmeister, was seine
Pflicht ist, im zweiten stellen sich ihm Schrecknisse dar, die freilich nur für ihn
Schrecknisse sind. Die Berliner Medisance verbreitet Karrikaturen auf ihn, er
flieht in die Einsamkeit seines märkischen Schlosses. Die düstern Reflexionen,
welche er hier anstellt, machen ihn ungeneigter als je, sein verpfändetes Wort ein¬
zulösen und Victoire von Carayon zu heiraten. „Jetzt bin ich zwölf Stunden
hier und mir ist, als wären es zwölf Jahre. . . Wie wird es sein? Alltags die
Kreepschen und Sonntags Bienengräber oder der Radenslebensche, was keinen
Unterschied macht. Einer wie der andre. Gute Leute, versteht sich, alle gut. . .
Und dann gehe ich mit Victoire durch deu Garten und aus dem Park auf die
Wiese, die 'wir vom Schloß aus immer und ewig und ewig und immer sehn
und auf der der Ampher und die Ranunkeln blühn. Und dazwischen spazieren
die Störche. Vielleicht sind wir allein; aber vielleicht länft auch ein kleiner
Dreijähriger neben uns her und singt in einem fort: »Adcbaar du bester bring
mir eine Schwester.« Und meine Schloßherrin errötet und wünscht sich das
Schwesterchen auch. Und endlich sind elf Jahre herum und wir halten an der
ersten Station, an der »ersten Station,« die »stroherne Hochzeit« heißt. Ein sonder¬
bares Wort. Und dann ist auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen sür die
Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle
rücke ich dann als Rittmeister ein und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire.
Vorher aber habe ich eine Konferenz mit dem Maler und sage ihm: »Ich rechne
darauf, daß Sie den Ausdruck zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich.«
Oder soll ich ihm geradezu sagen: »Machen Sie's gnädig? Nein nein!«" — Unter
dem Gewicht solcher Befürchtungen versteckt Schach von Wuthenow seinen Kopf in
den Sand und Frau von Carayon wendet sich, zum äußersten getrieben, in einer
Audienz, die ihr der Generaladjutant von Köckcritz verschafft, an den König.
Friedrich Wilhelm III. bescheidet seinen Rittmeister und läßt ihm die Wahl, den
Dienst zu quittiren oder Fräulein von Carayon zu heiraten. Der knappen und
gutherzigen Mahnung des Königs fügt Königin Louise noch liebenswürdige Er¬
mutigungen hinzu. Aber der Offizier vom Regiment Gensdarmes ist bereits
entschlossen. Er gehorcht dem Befehl des Königs und genügt seiner Natur zugleich.
Er läßt sich mit Fräulein Victoire trauen, hält das Hochzeitsdiner mit gutem
Anstand aus und fährt darnach in seine Wohnung, um sich zur Hochzeitsreise
vorzubereiten, wie seine junge Gemahlin und Schwiegermutter meinen, in Wahrheit,
um sich in seinein Wagen zu erschießen. Ganz Berlin bleibt mit dem Rätsel
Zurück, ob Herr von Schach sich über das Schwanken seiner Neigung zwischen
Mutter und Tochter nicht habe hinweghelfen können oder ob ihn die Verzweiflung,
eine nicht schöne Frau neben sich herschleppen zu müssen, aus dem Leben getrieben habe.
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