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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Engeros und Weiteres.

sein, wenn nicht die Regierung bez. der Reichskanzler von den Liberalen, die
ihm jetzt die Fehler seiner Politik vorwerfen, verlassen worden wären. Wir
schweigen von der Fortschrittspartei, deren Verhalten in den kirchenpolitischen
Kämpfen ein doppelzüngiges war. Wir erinnern nur daran, wie der Reichs¬
kanzler vergeblich von der nationalliberalen Mehrheit eine Unterstützung für
seine Steuerpläne forderte. Die verschiedensten Projekte wurden vorgelegt und
abgelehnt. Wir erinnern ferner an die Forderung der Regierung bezüglich des
Zolltarifs. Ju keiner dieser Fragen war eine Verständigung mit den National¬
liberalen ausgeschlossen. Aber diese Partei wollte die Gelegenheit oder vielmehr
die Verlegenheit der Negierung dazu benutzen, um "konstitutionelle Garantien"
zu erlangen, d. h. um an Stelle der verfassungsmäßigen Vereinbarung der
Gesetze zwischen Bundesrat und Reichstag die parlamentarische Herrschaft des
modernen Konstitutionalismus von Frankreich und Italien zu erzwingen. Das
war ein Wendepunkt in der Verfassungsgeschichte Deutschlands und Preußens.
Wer die Früchte sieht, die diese parlamentarische Herrschaft zeitigt in den
Ländern, wo sie seit Jahren in Blüte steht, der mußte sich sagen, daß ein von
Kaiser Wilhelm ernannter Reichskanzler nimmermehr sich dazu verstehen konnte,
die Rechte der Krone schmälern und das Königtum zu Gunsten wechselnder
Parlnmentsmehrheiten abdanken zu lassen.

Da fanden sich unter der Führung des Freiherrn von Varnbüler die 204
im Reichstage, welche geneigt waren, dem Reiche Hilfe zu bringen, darunter
das Zentrum, nicht ans Neigung, sondern in wohlverstandener Rücksicht auf
die materiellen Bedürfnisse seiner Wählerschaft, welche eines Schutzes ihrer In¬
dustrie bedürfte. Von da ab mußte natürlich der Kulturkampf eine andre Rich¬
tung nehmen, umsomehr als die Regierung da, wo sie auch nach dieser Zeit
noch gegen die Übergriffe des Zentrums und Roms auftreten wollte, von ihren
frühern Bundesgenossen verlassen wurde; wir erinnern nur an die Annahme
der Wiudthorstscheu Anträge im Reichs- und Landtage, in der letzten und vor¬
letzten Session. Das sind keine Deduktionen, das sind Thatsachen. Der Versuch,
zu einer Emanzipation der deutschen Katholiken von Rom zu kommen, scheiterte
daran, daß die Volksvertreter die Schicksale ihrer Partei höher stellten als die
des Reiches, freilich ohne den erwarteten Erfolg. Es wäre also geziemender,
wenn die Reste jener Majorität in dieser Frage nicht allzusehr die Negierung
"ut Steinen würfen; das Glashans, in dem jene sitzen, ist nicht sehr weit
davon.

Den zweite" politischen Mißgriff wirft die liberale Presse der Neichs-
regierung in Bezug auf die Handelsverträge vor, und der gegenwärtig mit
Spanien abgeschlossene hat besonders viel Staub aufgewirbelt. Hier ist das
Verfahren der Opposition von hervorragendem psychologischen Interesse. Als
der Vertrag mit Spanien ablief und die Erneuerung desselben noch ungewiß
war, da erschienen in den großen liberalen Blättern Artikel über Artikel, welche


Engeros und Weiteres.

sein, wenn nicht die Regierung bez. der Reichskanzler von den Liberalen, die
ihm jetzt die Fehler seiner Politik vorwerfen, verlassen worden wären. Wir
schweigen von der Fortschrittspartei, deren Verhalten in den kirchenpolitischen
Kämpfen ein doppelzüngiges war. Wir erinnern nur daran, wie der Reichs¬
kanzler vergeblich von der nationalliberalen Mehrheit eine Unterstützung für
seine Steuerpläne forderte. Die verschiedensten Projekte wurden vorgelegt und
abgelehnt. Wir erinnern ferner an die Forderung der Regierung bezüglich des
Zolltarifs. Ju keiner dieser Fragen war eine Verständigung mit den National¬
liberalen ausgeschlossen. Aber diese Partei wollte die Gelegenheit oder vielmehr
die Verlegenheit der Negierung dazu benutzen, um „konstitutionelle Garantien"
zu erlangen, d. h. um an Stelle der verfassungsmäßigen Vereinbarung der
Gesetze zwischen Bundesrat und Reichstag die parlamentarische Herrschaft des
modernen Konstitutionalismus von Frankreich und Italien zu erzwingen. Das
war ein Wendepunkt in der Verfassungsgeschichte Deutschlands und Preußens.
Wer die Früchte sieht, die diese parlamentarische Herrschaft zeitigt in den
Ländern, wo sie seit Jahren in Blüte steht, der mußte sich sagen, daß ein von
Kaiser Wilhelm ernannter Reichskanzler nimmermehr sich dazu verstehen konnte,
die Rechte der Krone schmälern und das Königtum zu Gunsten wechselnder
Parlnmentsmehrheiten abdanken zu lassen.

Da fanden sich unter der Führung des Freiherrn von Varnbüler die 204
im Reichstage, welche geneigt waren, dem Reiche Hilfe zu bringen, darunter
das Zentrum, nicht ans Neigung, sondern in wohlverstandener Rücksicht auf
die materiellen Bedürfnisse seiner Wählerschaft, welche eines Schutzes ihrer In¬
dustrie bedürfte. Von da ab mußte natürlich der Kulturkampf eine andre Rich¬
tung nehmen, umsomehr als die Regierung da, wo sie auch nach dieser Zeit
noch gegen die Übergriffe des Zentrums und Roms auftreten wollte, von ihren
frühern Bundesgenossen verlassen wurde; wir erinnern nur an die Annahme
der Wiudthorstscheu Anträge im Reichs- und Landtage, in der letzten und vor¬
letzten Session. Das sind keine Deduktionen, das sind Thatsachen. Der Versuch,
zu einer Emanzipation der deutschen Katholiken von Rom zu kommen, scheiterte
daran, daß die Volksvertreter die Schicksale ihrer Partei höher stellten als die
des Reiches, freilich ohne den erwarteten Erfolg. Es wäre also geziemender,
wenn die Reste jener Majorität in dieser Frage nicht allzusehr die Negierung
"ut Steinen würfen; das Glashans, in dem jene sitzen, ist nicht sehr weit
davon.

Den zweite» politischen Mißgriff wirft die liberale Presse der Neichs-
regierung in Bezug auf die Handelsverträge vor, und der gegenwärtig mit
Spanien abgeschlossene hat besonders viel Staub aufgewirbelt. Hier ist das
Verfahren der Opposition von hervorragendem psychologischen Interesse. Als
der Vertrag mit Spanien ablief und die Erneuerung desselben noch ungewiß
war, da erschienen in den großen liberalen Blättern Artikel über Artikel, welche


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[0275] Engeros und Weiteres. sein, wenn nicht die Regierung bez. der Reichskanzler von den Liberalen, die ihm jetzt die Fehler seiner Politik vorwerfen, verlassen worden wären. Wir schweigen von der Fortschrittspartei, deren Verhalten in den kirchenpolitischen Kämpfen ein doppelzüngiges war. Wir erinnern nur daran, wie der Reichs¬ kanzler vergeblich von der nationalliberalen Mehrheit eine Unterstützung für seine Steuerpläne forderte. Die verschiedensten Projekte wurden vorgelegt und abgelehnt. Wir erinnern ferner an die Forderung der Regierung bezüglich des Zolltarifs. Ju keiner dieser Fragen war eine Verständigung mit den National¬ liberalen ausgeschlossen. Aber diese Partei wollte die Gelegenheit oder vielmehr die Verlegenheit der Negierung dazu benutzen, um „konstitutionelle Garantien" zu erlangen, d. h. um an Stelle der verfassungsmäßigen Vereinbarung der Gesetze zwischen Bundesrat und Reichstag die parlamentarische Herrschaft des modernen Konstitutionalismus von Frankreich und Italien zu erzwingen. Das war ein Wendepunkt in der Verfassungsgeschichte Deutschlands und Preußens. Wer die Früchte sieht, die diese parlamentarische Herrschaft zeitigt in den Ländern, wo sie seit Jahren in Blüte steht, der mußte sich sagen, daß ein von Kaiser Wilhelm ernannter Reichskanzler nimmermehr sich dazu verstehen konnte, die Rechte der Krone schmälern und das Königtum zu Gunsten wechselnder Parlnmentsmehrheiten abdanken zu lassen. Da fanden sich unter der Führung des Freiherrn von Varnbüler die 204 im Reichstage, welche geneigt waren, dem Reiche Hilfe zu bringen, darunter das Zentrum, nicht ans Neigung, sondern in wohlverstandener Rücksicht auf die materiellen Bedürfnisse seiner Wählerschaft, welche eines Schutzes ihrer In¬ dustrie bedürfte. Von da ab mußte natürlich der Kulturkampf eine andre Rich¬ tung nehmen, umsomehr als die Regierung da, wo sie auch nach dieser Zeit noch gegen die Übergriffe des Zentrums und Roms auftreten wollte, von ihren frühern Bundesgenossen verlassen wurde; wir erinnern nur an die Annahme der Wiudthorstscheu Anträge im Reichs- und Landtage, in der letzten und vor¬ letzten Session. Das sind keine Deduktionen, das sind Thatsachen. Der Versuch, zu einer Emanzipation der deutschen Katholiken von Rom zu kommen, scheiterte daran, daß die Volksvertreter die Schicksale ihrer Partei höher stellten als die des Reiches, freilich ohne den erwarteten Erfolg. Es wäre also geziemender, wenn die Reste jener Majorität in dieser Frage nicht allzusehr die Negierung "ut Steinen würfen; das Glashans, in dem jene sitzen, ist nicht sehr weit davon. Den zweite» politischen Mißgriff wirft die liberale Presse der Neichs- regierung in Bezug auf die Handelsverträge vor, und der gegenwärtig mit Spanien abgeschlossene hat besonders viel Staub aufgewirbelt. Hier ist das Verfahren der Opposition von hervorragendem psychologischen Interesse. Als der Vertrag mit Spanien ablief und die Erneuerung desselben noch ungewiß war, da erschienen in den großen liberalen Blättern Artikel über Artikel, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/275>, abgerufen am 08.09.2024.