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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Das Schwurgericht.

bischen persönliche Lebenserfahrung besagen, das der Durchschnittsgeschworne
innerhalb seines oft sehr engen Gesichtskreises sich zu erwerben Pflegt? Was
hilft es beispielsweise dem zur Aburteilung eines komplizirten betrügerischen
Bankerutts berufenen Bauern, daß er "mitten im Leben steht"?

Und nun erwäge man auf der andern Seite die großen und evidenten
Mängel des Laieurichtertums, die Unkenntnis des Rechts und die Ungeübtheit
im Urteilen.

^urg, novit ouria, -- das gilt als der Kardinalsatz jeder geordneten Justiz¬
pflege. Die erste und unerläßlichste Anforderung, welche man an einen Richter
stellt, ist die der Kenntnis des Rechts, welches er anwenden soll. Das ist so
selbstverständlich, daß es schier unbegreiflich erscheint, wie man bei den zur Ab¬
urteilung der wichtigste" Kriminalfälle berufenen Gerichtshöfen von diesem Er¬
fordernis prinzipiell hat absehen können. Die Sache dürfte auch nur historisch
zu erklaren sein.

Wir haben die Schwurgerichte bekanntlich aus Frankreich überkommen. Die
Gesetzgeber aber, welche dort dieses Institut eingeführt hatten, trifft der
Vorwurf nicht, bewußter Weise die Anwendung des Rechts den notorisch Rechts¬
unkundigen zugemutet zu haben. Sie gingen vielmehr davon aus, daß die richter¬
liche Thätigkeit sich in zwei Teile zerlegen lasse: in die Feststellung der That¬
sachen durch Prüfung der Beweise, und in die Anwendung der Rechtssätze auf
diese Thatsachen. Nur den erstern Teil, für welchen die Rechtskenntnis ent¬
behrlich erschien, wiesen sie den Geschwornen zu, den zweiten behielten sie den
rechtsgelehrten Richtern vor. Auch bei der Aufnahme der Schwurgerichte in
Deutschland blieb es zunächst bei dieser Trennung zwischen That- und Rechts¬
frage; nur über die erstere, über das bloße Faktum, ohne Beimischung recht¬
licher Beurteilung, sollten die Geschwornen entscheiden. Aber diese Trennung
hat sich -- darüber ist in Deutschland kein Streit mehr -- als unhaltbar er¬
wiesen. Freilich setzt sich die richterliche Thätigkeit aus den genannten zwei
Elementen zusammen, aber eben nur durch ihre innerliche Verbindung, nicht
durch ein mechanisches Aneinanderfügen kommt ein Urteil zustande. Sobald
man das einsah -- und das ist in Deutschland von der Wissenschaft wie von
der Gesetzgebung recht bald geschehen --, hätte man rationeller Weise das
aus die Trennung der That- und Rechtsfrage basirte Institut der Schwurgerichte
aufgeben müssen. Aber das Strafprozeßrecht gilt nun einmal als ein wesent¬
lich politisches Rechtsgebiet, und in der Politik dringt nicht immer das sachlich
Rationelle durch. Man behielt die Geschwornen bei, und weil man die Un-
trennbarteit von That- und Rechtsfrage erkannt hatte, überwies man ihnen die
Entscheidung beider. Das ist auch der Standpunkt unsers jetzigen Reichsrechts.
Die Geschwornen entscheiden über die Frage, ob der Angeklagte des nach dein
Wortlaute des Strafgesetzes mit allen technischen Ausdrücken bezeichneten Ver¬
brechens schuldig sei oder nicht. Und so ist man denn, gewissermaßen ohne sich


Das Schwurgericht.

bischen persönliche Lebenserfahrung besagen, das der Durchschnittsgeschworne
innerhalb seines oft sehr engen Gesichtskreises sich zu erwerben Pflegt? Was
hilft es beispielsweise dem zur Aburteilung eines komplizirten betrügerischen
Bankerutts berufenen Bauern, daß er „mitten im Leben steht"?

Und nun erwäge man auf der andern Seite die großen und evidenten
Mängel des Laieurichtertums, die Unkenntnis des Rechts und die Ungeübtheit
im Urteilen.

^urg, novit ouria, — das gilt als der Kardinalsatz jeder geordneten Justiz¬
pflege. Die erste und unerläßlichste Anforderung, welche man an einen Richter
stellt, ist die der Kenntnis des Rechts, welches er anwenden soll. Das ist so
selbstverständlich, daß es schier unbegreiflich erscheint, wie man bei den zur Ab¬
urteilung der wichtigste» Kriminalfälle berufenen Gerichtshöfen von diesem Er¬
fordernis prinzipiell hat absehen können. Die Sache dürfte auch nur historisch
zu erklaren sein.

Wir haben die Schwurgerichte bekanntlich aus Frankreich überkommen. Die
Gesetzgeber aber, welche dort dieses Institut eingeführt hatten, trifft der
Vorwurf nicht, bewußter Weise die Anwendung des Rechts den notorisch Rechts¬
unkundigen zugemutet zu haben. Sie gingen vielmehr davon aus, daß die richter¬
liche Thätigkeit sich in zwei Teile zerlegen lasse: in die Feststellung der That¬
sachen durch Prüfung der Beweise, und in die Anwendung der Rechtssätze auf
diese Thatsachen. Nur den erstern Teil, für welchen die Rechtskenntnis ent¬
behrlich erschien, wiesen sie den Geschwornen zu, den zweiten behielten sie den
rechtsgelehrten Richtern vor. Auch bei der Aufnahme der Schwurgerichte in
Deutschland blieb es zunächst bei dieser Trennung zwischen That- und Rechts¬
frage; nur über die erstere, über das bloße Faktum, ohne Beimischung recht¬
licher Beurteilung, sollten die Geschwornen entscheiden. Aber diese Trennung
hat sich — darüber ist in Deutschland kein Streit mehr — als unhaltbar er¬
wiesen. Freilich setzt sich die richterliche Thätigkeit aus den genannten zwei
Elementen zusammen, aber eben nur durch ihre innerliche Verbindung, nicht
durch ein mechanisches Aneinanderfügen kommt ein Urteil zustande. Sobald
man das einsah — und das ist in Deutschland von der Wissenschaft wie von
der Gesetzgebung recht bald geschehen —, hätte man rationeller Weise das
aus die Trennung der That- und Rechtsfrage basirte Institut der Schwurgerichte
aufgeben müssen. Aber das Strafprozeßrecht gilt nun einmal als ein wesent¬
lich politisches Rechtsgebiet, und in der Politik dringt nicht immer das sachlich
Rationelle durch. Man behielt die Geschwornen bei, und weil man die Un-
trennbarteit von That- und Rechtsfrage erkannt hatte, überwies man ihnen die
Entscheidung beider. Das ist auch der Standpunkt unsers jetzigen Reichsrechts.
Die Geschwornen entscheiden über die Frage, ob der Angeklagte des nach dein
Wortlaute des Strafgesetzes mit allen technischen Ausdrücken bezeichneten Ver¬
brechens schuldig sei oder nicht. Und so ist man denn, gewissermaßen ohne sich


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[0023] Das Schwurgericht. bischen persönliche Lebenserfahrung besagen, das der Durchschnittsgeschworne innerhalb seines oft sehr engen Gesichtskreises sich zu erwerben Pflegt? Was hilft es beispielsweise dem zur Aburteilung eines komplizirten betrügerischen Bankerutts berufenen Bauern, daß er „mitten im Leben steht"? Und nun erwäge man auf der andern Seite die großen und evidenten Mängel des Laieurichtertums, die Unkenntnis des Rechts und die Ungeübtheit im Urteilen. ^urg, novit ouria, — das gilt als der Kardinalsatz jeder geordneten Justiz¬ pflege. Die erste und unerläßlichste Anforderung, welche man an einen Richter stellt, ist die der Kenntnis des Rechts, welches er anwenden soll. Das ist so selbstverständlich, daß es schier unbegreiflich erscheint, wie man bei den zur Ab¬ urteilung der wichtigste» Kriminalfälle berufenen Gerichtshöfen von diesem Er¬ fordernis prinzipiell hat absehen können. Die Sache dürfte auch nur historisch zu erklaren sein. Wir haben die Schwurgerichte bekanntlich aus Frankreich überkommen. Die Gesetzgeber aber, welche dort dieses Institut eingeführt hatten, trifft der Vorwurf nicht, bewußter Weise die Anwendung des Rechts den notorisch Rechts¬ unkundigen zugemutet zu haben. Sie gingen vielmehr davon aus, daß die richter¬ liche Thätigkeit sich in zwei Teile zerlegen lasse: in die Feststellung der That¬ sachen durch Prüfung der Beweise, und in die Anwendung der Rechtssätze auf diese Thatsachen. Nur den erstern Teil, für welchen die Rechtskenntnis ent¬ behrlich erschien, wiesen sie den Geschwornen zu, den zweiten behielten sie den rechtsgelehrten Richtern vor. Auch bei der Aufnahme der Schwurgerichte in Deutschland blieb es zunächst bei dieser Trennung zwischen That- und Rechts¬ frage; nur über die erstere, über das bloße Faktum, ohne Beimischung recht¬ licher Beurteilung, sollten die Geschwornen entscheiden. Aber diese Trennung hat sich — darüber ist in Deutschland kein Streit mehr — als unhaltbar er¬ wiesen. Freilich setzt sich die richterliche Thätigkeit aus den genannten zwei Elementen zusammen, aber eben nur durch ihre innerliche Verbindung, nicht durch ein mechanisches Aneinanderfügen kommt ein Urteil zustande. Sobald man das einsah — und das ist in Deutschland von der Wissenschaft wie von der Gesetzgebung recht bald geschehen —, hätte man rationeller Weise das aus die Trennung der That- und Rechtsfrage basirte Institut der Schwurgerichte aufgeben müssen. Aber das Strafprozeßrecht gilt nun einmal als ein wesent¬ lich politisches Rechtsgebiet, und in der Politik dringt nicht immer das sachlich Rationelle durch. Man behielt die Geschwornen bei, und weil man die Un- trennbarteit von That- und Rechtsfrage erkannt hatte, überwies man ihnen die Entscheidung beider. Das ist auch der Standpunkt unsers jetzigen Reichsrechts. Die Geschwornen entscheiden über die Frage, ob der Angeklagte des nach dein Wortlaute des Strafgesetzes mit allen technischen Ausdrücken bezeichneten Ver¬ brechens schuldig sei oder nicht. Und so ist man denn, gewissermaßen ohne sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/23>, abgerufen am 05.12.2024.