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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche.

Irrtums hier eine sehr verhängnisvolle sein kann. Aber auch hier wird mehr
Aufhebens gemacht, als den Thatsachen entspricht. Unter den vielen Hundert-
tausenden von Strafurteilen, die seit dem 1. Oktober 1879, also in einem Zeit¬
raume von nahezu vier Jahren, gefällt worden sind, sind 205 Fülle vorgekommen,
in denen ein Wiederaufnahmeverfahren im Strafprozeß zu einem freisprechenden
Urteile führte; von den so aufgehobenen Urteilen sind 10 von Schwur- und
96 von Schöffengerichten gefüllt worden, für die Irrtümer der beamteten Richter
bleiben also noch 99 Fülle übrig. Diese Zahl -- so traurig jeder Einzel¬
fall sein mag -- verdient gewiß nicht die Beachtung, um sofort den Stab über
unsre Institutionen zu brechen, schon aus dem Grunde nicht, weil doch das
aufhebende Urteil, bloß weil es das spätere ist, nicht schon eine größere Gerechtig¬
keit für sich hat. Rechtfertigen aber diese Fälle, daß vÄtusära der Volks¬
versammlung verkündet wird: Im deutschen Reiche finden Rechtsverletzungen
keine Sühne, ist das Gefühl der Rechtsicherheit gestört? Durch eine derartige
Agitation wird in die große Menge der Zweifel an die Unparteilichkeit der
Richter hineingetragen. 1/g.utorit" as 1a olwss.juAöö, bei den Franzosen mit
Recht in einem hohen Ansehen, wird von gewissenlosen Agitatoren in den
Straßenschmutz gezogen und die Saat des Mißtrauens ausgestreut an Orten,
wo sie nur verderblich wirken kaun. Es wird aber auch ein Druck auf die
richterlichen Behörden geübt, der geeignet ist, ihnen die Unbefangenheit zu rauben.
Schon jetzt, wenn es sich um einen Prozeß von größerer Wichtigkeit handelt,
sucht die Presse in ihren Besprechungen die höheren Instanzen zu beeinflussen
und die Berliner natürlich "allezeit voran." Dieser Umstand allein läßt es
uns billigenswert erscheinen, daß man das Reichsgericht diesem Drängen ent¬
zogen hat. In unsern Verfassuugsurkunden wird überall pomphaft das Verbot
der Kabinetsjustiz verkündet, und wenn einmal ein Minister auch uur die ihm
zustehende Kritik übt, dann erhebt sich sofort ein Geschrei über die Unzulässig¬
keit eines solchen Vorgehens. Aber gegen diese Volksjustiz des Pöbels erhebt
sich keine Stimme, das ist ja die ?ox asi, und den Oppositionsparteien ist bei
uns alles willkommen, was das Ansehen der Negierung schädigen kann.

Das dritte Thema, in welchem der Verein für Rechtsschutz brillirt, ist die
"Willkür der Polizei." In einer Millionenstadt ist die Stellung der untern
Polizeiorgane keine beneidenswerte, und es giebt der Interessenten gar viele,
welche der Polizei ihr Amt erschweren. Namentlich in der eingebornen Skepsis
der untern Volksklassen in Berlin ist die Opposition gegen alles, was Polizei
heißt, schon von Natur vorhanden. Die Fälle sind garnicht selten, in denen
gegen den Schutzmann, der einen Übelthäter verhaftet, von den Umstehenden
Partei genommen wird. Da darf man sich auch nicht wundern, wenn die
Schutzmänner nicht immer gerade die Widerspenstigen mit Smumethaudschuhen
angreifen. Was aber noch an gesetzlichem Sinne in der Bevölkerung vorhanden
ist, das wird von dem Rechtsschutzverein untergraben. Die Wirkungen haben


Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche.

Irrtums hier eine sehr verhängnisvolle sein kann. Aber auch hier wird mehr
Aufhebens gemacht, als den Thatsachen entspricht. Unter den vielen Hundert-
tausenden von Strafurteilen, die seit dem 1. Oktober 1879, also in einem Zeit¬
raume von nahezu vier Jahren, gefällt worden sind, sind 205 Fülle vorgekommen,
in denen ein Wiederaufnahmeverfahren im Strafprozeß zu einem freisprechenden
Urteile führte; von den so aufgehobenen Urteilen sind 10 von Schwur- und
96 von Schöffengerichten gefüllt worden, für die Irrtümer der beamteten Richter
bleiben also noch 99 Fülle übrig. Diese Zahl — so traurig jeder Einzel¬
fall sein mag — verdient gewiß nicht die Beachtung, um sofort den Stab über
unsre Institutionen zu brechen, schon aus dem Grunde nicht, weil doch das
aufhebende Urteil, bloß weil es das spätere ist, nicht schon eine größere Gerechtig¬
keit für sich hat. Rechtfertigen aber diese Fälle, daß vÄtusära der Volks¬
versammlung verkündet wird: Im deutschen Reiche finden Rechtsverletzungen
keine Sühne, ist das Gefühl der Rechtsicherheit gestört? Durch eine derartige
Agitation wird in die große Menge der Zweifel an die Unparteilichkeit der
Richter hineingetragen. 1/g.utorit« as 1a olwss.juAöö, bei den Franzosen mit
Recht in einem hohen Ansehen, wird von gewissenlosen Agitatoren in den
Straßenschmutz gezogen und die Saat des Mißtrauens ausgestreut an Orten,
wo sie nur verderblich wirken kaun. Es wird aber auch ein Druck auf die
richterlichen Behörden geübt, der geeignet ist, ihnen die Unbefangenheit zu rauben.
Schon jetzt, wenn es sich um einen Prozeß von größerer Wichtigkeit handelt,
sucht die Presse in ihren Besprechungen die höheren Instanzen zu beeinflussen
und die Berliner natürlich „allezeit voran." Dieser Umstand allein läßt es
uns billigenswert erscheinen, daß man das Reichsgericht diesem Drängen ent¬
zogen hat. In unsern Verfassuugsurkunden wird überall pomphaft das Verbot
der Kabinetsjustiz verkündet, und wenn einmal ein Minister auch uur die ihm
zustehende Kritik übt, dann erhebt sich sofort ein Geschrei über die Unzulässig¬
keit eines solchen Vorgehens. Aber gegen diese Volksjustiz des Pöbels erhebt
sich keine Stimme, das ist ja die ?ox asi, und den Oppositionsparteien ist bei
uns alles willkommen, was das Ansehen der Negierung schädigen kann.

Das dritte Thema, in welchem der Verein für Rechtsschutz brillirt, ist die
„Willkür der Polizei." In einer Millionenstadt ist die Stellung der untern
Polizeiorgane keine beneidenswerte, und es giebt der Interessenten gar viele,
welche der Polizei ihr Amt erschweren. Namentlich in der eingebornen Skepsis
der untern Volksklassen in Berlin ist die Opposition gegen alles, was Polizei
heißt, schon von Natur vorhanden. Die Fälle sind garnicht selten, in denen
gegen den Schutzmann, der einen Übelthäter verhaftet, von den Umstehenden
Partei genommen wird. Da darf man sich auch nicht wundern, wenn die
Schutzmänner nicht immer gerade die Widerspenstigen mit Smumethaudschuhen
angreifen. Was aber noch an gesetzlichem Sinne in der Bevölkerung vorhanden
ist, das wird von dem Rechtsschutzverein untergraben. Die Wirkungen haben


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[0186] Rechtsschutz und Rechtssicherheit im Reiche. Irrtums hier eine sehr verhängnisvolle sein kann. Aber auch hier wird mehr Aufhebens gemacht, als den Thatsachen entspricht. Unter den vielen Hundert- tausenden von Strafurteilen, die seit dem 1. Oktober 1879, also in einem Zeit¬ raume von nahezu vier Jahren, gefällt worden sind, sind 205 Fülle vorgekommen, in denen ein Wiederaufnahmeverfahren im Strafprozeß zu einem freisprechenden Urteile führte; von den so aufgehobenen Urteilen sind 10 von Schwur- und 96 von Schöffengerichten gefüllt worden, für die Irrtümer der beamteten Richter bleiben also noch 99 Fülle übrig. Diese Zahl — so traurig jeder Einzel¬ fall sein mag — verdient gewiß nicht die Beachtung, um sofort den Stab über unsre Institutionen zu brechen, schon aus dem Grunde nicht, weil doch das aufhebende Urteil, bloß weil es das spätere ist, nicht schon eine größere Gerechtig¬ keit für sich hat. Rechtfertigen aber diese Fälle, daß vÄtusära der Volks¬ versammlung verkündet wird: Im deutschen Reiche finden Rechtsverletzungen keine Sühne, ist das Gefühl der Rechtsicherheit gestört? Durch eine derartige Agitation wird in die große Menge der Zweifel an die Unparteilichkeit der Richter hineingetragen. 1/g.utorit« as 1a olwss.juAöö, bei den Franzosen mit Recht in einem hohen Ansehen, wird von gewissenlosen Agitatoren in den Straßenschmutz gezogen und die Saat des Mißtrauens ausgestreut an Orten, wo sie nur verderblich wirken kaun. Es wird aber auch ein Druck auf die richterlichen Behörden geübt, der geeignet ist, ihnen die Unbefangenheit zu rauben. Schon jetzt, wenn es sich um einen Prozeß von größerer Wichtigkeit handelt, sucht die Presse in ihren Besprechungen die höheren Instanzen zu beeinflussen und die Berliner natürlich „allezeit voran." Dieser Umstand allein läßt es uns billigenswert erscheinen, daß man das Reichsgericht diesem Drängen ent¬ zogen hat. In unsern Verfassuugsurkunden wird überall pomphaft das Verbot der Kabinetsjustiz verkündet, und wenn einmal ein Minister auch uur die ihm zustehende Kritik übt, dann erhebt sich sofort ein Geschrei über die Unzulässig¬ keit eines solchen Vorgehens. Aber gegen diese Volksjustiz des Pöbels erhebt sich keine Stimme, das ist ja die ?ox asi, und den Oppositionsparteien ist bei uns alles willkommen, was das Ansehen der Negierung schädigen kann. Das dritte Thema, in welchem der Verein für Rechtsschutz brillirt, ist die „Willkür der Polizei." In einer Millionenstadt ist die Stellung der untern Polizeiorgane keine beneidenswerte, und es giebt der Interessenten gar viele, welche der Polizei ihr Amt erschweren. Namentlich in der eingebornen Skepsis der untern Volksklassen in Berlin ist die Opposition gegen alles, was Polizei heißt, schon von Natur vorhanden. Die Fälle sind garnicht selten, in denen gegen den Schutzmann, der einen Übelthäter verhaftet, von den Umstehenden Partei genommen wird. Da darf man sich auch nicht wundern, wenn die Schutzmänner nicht immer gerade die Widerspenstigen mit Smumethaudschuhen angreifen. Was aber noch an gesetzlichem Sinne in der Bevölkerung vorhanden ist, das wird von dem Rechtsschutzverein untergraben. Die Wirkungen haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/186>, abgerufen am 08.09.2024.