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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal.

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Die soziale Gesetzgebung.

Gesichtspunkt aufstellen. Man könnte sagen: Der Staat erklärt es für eine
Rechtspflicht der bürgerlichen Gesellschaft, den Arbeitern, welche in ihrem Be¬
rufe verunglücken, einen notdürftigen Unterhalt zu gewähren. Die Mittel dazu
erhebt er in der Form einer Steuer, die er dem Gewerbe auferlegt nach
Maßgabe der Gefahren, welche dasselbe für die Arbeiter in sich trägt. So
wenig man nun die Aufbringung von Steuern und deren Verwendung für
öffentliche Zwecke lediglich in die Hände von Organen legen wird, welche aus
den Besteuerten selbst hervorgehen, ebensowenig wird es auch hier sich recht¬
fertigen, die Ausführung des ganzen Gesetzes in die Hände der Betriebsunter¬
nehmer zu legen. Diese vertreten nicht die gesamten Interessen der Sache, son¬
dern sie sind einseitig bei derselben beteiligt. Mit dieser Betrachtung soll nicht
etwa der Wunsch ausgedrückt sein, daß der bisher üblich gewesenen Bezeich¬
nung der Angelegenheit als einer "Versicherung" die Bezeichnung einer "Be¬
steuerung" substituirt werde. Denn auf dem Namen "Besteuerung" lastet
nun einmal der Fluch der Mißliebigkeit; obgleich wir uns verständigerweise
sagen sollten, daß die Steuern, die wir an den Staat zahlen, in vielen Be¬
ziehungen ganz die Natur einer Versicherungsprämie haben. Auch noch etwas
andres kommt hier in Betracht. Es ist dringend zu wünschen, daß die zur Be¬
friedigung der verunglückten Arbeiter angesammelten Vermögensbestände nicht
als Vermögen des Fiskus erscheinen, vielmehr als ein mit selbständiger juristischer
Persönlichkeit begabtes Zweckvermögen hingestellt werden und dadurch ihrem
wohlthätigen Zwecke unantastbar bewahrt bleiben. Um ein Verhältnis dieser Art
herzustellen, ist aber der Gesichtspunkt der "Versicherung" weit günstiger, als
der der "Besteuerung." Immerhin aber wird es zweckmäßig sein, sich zu erinnern,
daß eine erzwungene Versicherung eine ganz andre Natur hat als eine frei¬
willig eingegangene.

Wir zweifeln nicht, daß aus den erneuerten Erwägungen der Reichs¬
regierung ein Werk hervorgehen wird, welches die Grundlage zu einer allseitigen
Verständigung abzugeben geeignet ist. Dann aber dürfen wir hoffen, aus den
Verhandlungen des nächsten Reichstags in gleicher Weise auch die Unfall¬
versicherung hervorgehen zu sehen, wie aus den Verhandlungen des verflossenen
die Krankenversicherung hervorgegangen ist.

Ob es demnächst möglich sein wird, das so errichtete großartige Gebäude
noch durch ein drittes Stockwerk -- wir meinen die Altersversicherung -- zu
krönen, diese Frage könnten wir als eine spätere Sorge bezeichnen. Doch
wollen wir über den Stand der Sache noch einige kurze Bemerkungen hinzu¬
fügen. Bekanntlich liegt das größte Bedenken, welches sich dem Plane einer
Altersversicherung entgegenstellt, in der Schwierigkeit, die Grenze für dieselbe
zu finden. Während die durch Unfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit sich
durch den Eintritt des Unfalls selbst scharf abgrenzt, fehlt es für die durch
Alter herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit meist an einer scharfen Grenze. Wer


Die soziale Gesetzgebung.

Gesichtspunkt aufstellen. Man könnte sagen: Der Staat erklärt es für eine
Rechtspflicht der bürgerlichen Gesellschaft, den Arbeitern, welche in ihrem Be¬
rufe verunglücken, einen notdürftigen Unterhalt zu gewähren. Die Mittel dazu
erhebt er in der Form einer Steuer, die er dem Gewerbe auferlegt nach
Maßgabe der Gefahren, welche dasselbe für die Arbeiter in sich trägt. So
wenig man nun die Aufbringung von Steuern und deren Verwendung für
öffentliche Zwecke lediglich in die Hände von Organen legen wird, welche aus
den Besteuerten selbst hervorgehen, ebensowenig wird es auch hier sich recht¬
fertigen, die Ausführung des ganzen Gesetzes in die Hände der Betriebsunter¬
nehmer zu legen. Diese vertreten nicht die gesamten Interessen der Sache, son¬
dern sie sind einseitig bei derselben beteiligt. Mit dieser Betrachtung soll nicht
etwa der Wunsch ausgedrückt sein, daß der bisher üblich gewesenen Bezeich¬
nung der Angelegenheit als einer „Versicherung" die Bezeichnung einer „Be¬
steuerung" substituirt werde. Denn auf dem Namen „Besteuerung" lastet
nun einmal der Fluch der Mißliebigkeit; obgleich wir uns verständigerweise
sagen sollten, daß die Steuern, die wir an den Staat zahlen, in vielen Be¬
ziehungen ganz die Natur einer Versicherungsprämie haben. Auch noch etwas
andres kommt hier in Betracht. Es ist dringend zu wünschen, daß die zur Be¬
friedigung der verunglückten Arbeiter angesammelten Vermögensbestände nicht
als Vermögen des Fiskus erscheinen, vielmehr als ein mit selbständiger juristischer
Persönlichkeit begabtes Zweckvermögen hingestellt werden und dadurch ihrem
wohlthätigen Zwecke unantastbar bewahrt bleiben. Um ein Verhältnis dieser Art
herzustellen, ist aber der Gesichtspunkt der „Versicherung" weit günstiger, als
der der „Besteuerung." Immerhin aber wird es zweckmäßig sein, sich zu erinnern,
daß eine erzwungene Versicherung eine ganz andre Natur hat als eine frei¬
willig eingegangene.

Wir zweifeln nicht, daß aus den erneuerten Erwägungen der Reichs¬
regierung ein Werk hervorgehen wird, welches die Grundlage zu einer allseitigen
Verständigung abzugeben geeignet ist. Dann aber dürfen wir hoffen, aus den
Verhandlungen des nächsten Reichstags in gleicher Weise auch die Unfall¬
versicherung hervorgehen zu sehen, wie aus den Verhandlungen des verflossenen
die Krankenversicherung hervorgegangen ist.

Ob es demnächst möglich sein wird, das so errichtete großartige Gebäude
noch durch ein drittes Stockwerk — wir meinen die Altersversicherung — zu
krönen, diese Frage könnten wir als eine spätere Sorge bezeichnen. Doch
wollen wir über den Stand der Sache noch einige kurze Bemerkungen hinzu¬
fügen. Bekanntlich liegt das größte Bedenken, welches sich dem Plane einer
Altersversicherung entgegenstellt, in der Schwierigkeit, die Grenze für dieselbe
zu finden. Während die durch Unfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit sich
durch den Eintritt des Unfalls selbst scharf abgrenzt, fehlt es für die durch
Alter herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit meist an einer scharfen Grenze. Wer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_153446/180>, abgerufen am 08.09.2024.