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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung.

immer noch lohnend verwerte" kann -- überall Überhäufung und ein Angebot
von Arbeitskräften, welches zur Nachfrage in keinem normalen Verhältnisse steht.

Um einzelne spezielle Fälle anzuführen, so herrscht in den meisten höheren
wie niederen Beamtenkarrieren eine derartige Überfüllung, daß die Aspiranten
fast niemals vor dem 30. Lebensjahre, häufig aber noch viel später überhaupt
zu einer Stellung gelangen.

Ob das vielleicht noch immer zu ungünstige Pensiousverhältnis, welches
viele älteren Beamten oft wider ihre Neigung auch bei kaum noch hinreichender
Kraft im Dienste festhält, hieran nicht auch eine gewisse Schuld trägt, soll hier
nicht erörtert werden. Jedenfalls muß in einem Lande, wo das Beispiel der
größten Leistungsfähigkeit gerade im höheren Lebensalter so häusig ist, dies
Moment nur mit der größten Vorsicht behandelt werden. Wer das Leben kennt,
welches die sich vorbereitende Jugend in jener langen Zeit bis zu einer bestimmten
Stellung, die auch zugleich meist erst die Möglichkeit zur Verheiratung bietet,
zu führen gezwungen ist, der wird nicht umhinkönnen, in diesen Zuständen ein
bedauernswertes Symptom abnormer Bevölkerungsverhältnisse zu erblicke,?. Die
Lebensperiode der größten Frische, Arbeitsfähigkeit und häufig auch Arbeitslust
verfließt, ohne entsprechend für den Einzelnen wie für das Vaterland nutzbar
gemacht zu werden; der Überschuß von Lebenskraft, für den es an nützlicher
Bethätigung fehlt, wird leider nur zu oft in thörichten Ausschweifungen ver¬
geudet. Gerade die feurigen, am meisten versprechenden Elemente der Jugend
leiden am tiefsten unter dieser Stagnation, welche von den Langsameren und
Trägeren leichter ertragen wird.

Aber nicht nur in den Kreisen des gebundnen Erwerbes macht sich diese
Überfüllung fühlbar, auch in den freien Branchen der Kaufleute, der Techniker u. a.
herrschen ähnliche Verhältnisse. Es muß hier allerdings ein weiterer, gerade für
Deutschland sehr charakteristischer und wichtiger Umstand mit berücksichtigt werden,
nämlich die zu den Erwerbsmöglichkeiten in keinem Verhältnis stehende stetig
fortschreitende Hebung der allgemeinen wie der besonderen Fachbildung. So
hoch das Streben nach Bildung an sich zu schätzen ist, so ist doch die gegen¬
wärtig herrschende Sucht nach immer höherer formaler Bildung auch für die
untergeordneten Stufen des Erwerbes und der sozialen Stellung ein verhäng¬
nisvoller Fehler, der sich ökonomisch wie psychologisch rächt. Wahre, tiefe
Geistesbildung kaun freilich niemandem schaden, aber bloße schulmäßig formale,
selten harmonisch abgeschlossene Bildung, welche weit über den wirklichen elemen¬
taren Bedarf hinausgeht, verwirrt die Geister und stört den Frieden des Herzens,
wenn, wie es meist der Fall ist, die Möglichkeit zur entsprechenden Verwertung
des Bildungsüberschnsses ausbleibt.

Neben dieser Überfüllung, welche -- nationalökonomisch ausgedrückt -- auf
Überproduktion an Bevölkerung beruht, wirkt aber noch eine weitere Auswande¬
rungsursache, welche vorwiegend materieller Natur ist und sich fast ausschließlich


Grenzboten II. 1883. Is
Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung.

immer noch lohnend verwerte» kann — überall Überhäufung und ein Angebot
von Arbeitskräften, welches zur Nachfrage in keinem normalen Verhältnisse steht.

Um einzelne spezielle Fälle anzuführen, so herrscht in den meisten höheren
wie niederen Beamtenkarrieren eine derartige Überfüllung, daß die Aspiranten
fast niemals vor dem 30. Lebensjahre, häufig aber noch viel später überhaupt
zu einer Stellung gelangen.

Ob das vielleicht noch immer zu ungünstige Pensiousverhältnis, welches
viele älteren Beamten oft wider ihre Neigung auch bei kaum noch hinreichender
Kraft im Dienste festhält, hieran nicht auch eine gewisse Schuld trägt, soll hier
nicht erörtert werden. Jedenfalls muß in einem Lande, wo das Beispiel der
größten Leistungsfähigkeit gerade im höheren Lebensalter so häusig ist, dies
Moment nur mit der größten Vorsicht behandelt werden. Wer das Leben kennt,
welches die sich vorbereitende Jugend in jener langen Zeit bis zu einer bestimmten
Stellung, die auch zugleich meist erst die Möglichkeit zur Verheiratung bietet,
zu führen gezwungen ist, der wird nicht umhinkönnen, in diesen Zuständen ein
bedauernswertes Symptom abnormer Bevölkerungsverhältnisse zu erblicke,?. Die
Lebensperiode der größten Frische, Arbeitsfähigkeit und häufig auch Arbeitslust
verfließt, ohne entsprechend für den Einzelnen wie für das Vaterland nutzbar
gemacht zu werden; der Überschuß von Lebenskraft, für den es an nützlicher
Bethätigung fehlt, wird leider nur zu oft in thörichten Ausschweifungen ver¬
geudet. Gerade die feurigen, am meisten versprechenden Elemente der Jugend
leiden am tiefsten unter dieser Stagnation, welche von den Langsameren und
Trägeren leichter ertragen wird.

Aber nicht nur in den Kreisen des gebundnen Erwerbes macht sich diese
Überfüllung fühlbar, auch in den freien Branchen der Kaufleute, der Techniker u. a.
herrschen ähnliche Verhältnisse. Es muß hier allerdings ein weiterer, gerade für
Deutschland sehr charakteristischer und wichtiger Umstand mit berücksichtigt werden,
nämlich die zu den Erwerbsmöglichkeiten in keinem Verhältnis stehende stetig
fortschreitende Hebung der allgemeinen wie der besonderen Fachbildung. So
hoch das Streben nach Bildung an sich zu schätzen ist, so ist doch die gegen¬
wärtig herrschende Sucht nach immer höherer formaler Bildung auch für die
untergeordneten Stufen des Erwerbes und der sozialen Stellung ein verhäng¬
nisvoller Fehler, der sich ökonomisch wie psychologisch rächt. Wahre, tiefe
Geistesbildung kaun freilich niemandem schaden, aber bloße schulmäßig formale,
selten harmonisch abgeschlossene Bildung, welche weit über den wirklichen elemen¬
taren Bedarf hinausgeht, verwirrt die Geister und stört den Frieden des Herzens,
wenn, wie es meist der Fall ist, die Möglichkeit zur entsprechenden Verwertung
des Bildungsüberschnsses ausbleibt.

Neben dieser Überfüllung, welche — nationalökonomisch ausgedrückt — auf
Überproduktion an Bevölkerung beruht, wirkt aber noch eine weitere Auswande¬
rungsursache, welche vorwiegend materieller Natur ist und sich fast ausschließlich


Grenzboten II. 1883. Is
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[0121] Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung. immer noch lohnend verwerte» kann — überall Überhäufung und ein Angebot von Arbeitskräften, welches zur Nachfrage in keinem normalen Verhältnisse steht. Um einzelne spezielle Fälle anzuführen, so herrscht in den meisten höheren wie niederen Beamtenkarrieren eine derartige Überfüllung, daß die Aspiranten fast niemals vor dem 30. Lebensjahre, häufig aber noch viel später überhaupt zu einer Stellung gelangen. Ob das vielleicht noch immer zu ungünstige Pensiousverhältnis, welches viele älteren Beamten oft wider ihre Neigung auch bei kaum noch hinreichender Kraft im Dienste festhält, hieran nicht auch eine gewisse Schuld trägt, soll hier nicht erörtert werden. Jedenfalls muß in einem Lande, wo das Beispiel der größten Leistungsfähigkeit gerade im höheren Lebensalter so häusig ist, dies Moment nur mit der größten Vorsicht behandelt werden. Wer das Leben kennt, welches die sich vorbereitende Jugend in jener langen Zeit bis zu einer bestimmten Stellung, die auch zugleich meist erst die Möglichkeit zur Verheiratung bietet, zu führen gezwungen ist, der wird nicht umhinkönnen, in diesen Zuständen ein bedauernswertes Symptom abnormer Bevölkerungsverhältnisse zu erblicke,?. Die Lebensperiode der größten Frische, Arbeitsfähigkeit und häufig auch Arbeitslust verfließt, ohne entsprechend für den Einzelnen wie für das Vaterland nutzbar gemacht zu werden; der Überschuß von Lebenskraft, für den es an nützlicher Bethätigung fehlt, wird leider nur zu oft in thörichten Ausschweifungen ver¬ geudet. Gerade die feurigen, am meisten versprechenden Elemente der Jugend leiden am tiefsten unter dieser Stagnation, welche von den Langsameren und Trägeren leichter ertragen wird. Aber nicht nur in den Kreisen des gebundnen Erwerbes macht sich diese Überfüllung fühlbar, auch in den freien Branchen der Kaufleute, der Techniker u. a. herrschen ähnliche Verhältnisse. Es muß hier allerdings ein weiterer, gerade für Deutschland sehr charakteristischer und wichtiger Umstand mit berücksichtigt werden, nämlich die zu den Erwerbsmöglichkeiten in keinem Verhältnis stehende stetig fortschreitende Hebung der allgemeinen wie der besonderen Fachbildung. So hoch das Streben nach Bildung an sich zu schätzen ist, so ist doch die gegen¬ wärtig herrschende Sucht nach immer höherer formaler Bildung auch für die untergeordneten Stufen des Erwerbes und der sozialen Stellung ein verhäng¬ nisvoller Fehler, der sich ökonomisch wie psychologisch rächt. Wahre, tiefe Geistesbildung kaun freilich niemandem schaden, aber bloße schulmäßig formale, selten harmonisch abgeschlossene Bildung, welche weit über den wirklichen elemen¬ taren Bedarf hinausgeht, verwirrt die Geister und stört den Frieden des Herzens, wenn, wie es meist der Fall ist, die Möglichkeit zur entsprechenden Verwertung des Bildungsüberschnsses ausbleibt. Neben dieser Überfüllung, welche — nationalökonomisch ausgedrückt — auf Überproduktion an Bevölkerung beruht, wirkt aber noch eine weitere Auswande¬ rungsursache, welche vorwiegend materieller Natur ist und sich fast ausschließlich Grenzboten II. 1883. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/121>, abgerufen am 01.07.2024.