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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Übcrbiirdmigsfni>ze,

Formenlehre, den strengern logischen Satzbau, die festern Regeln, einen deutlich
erkennbaren normirenden Höhepunkt der klassischen Diktion eines goldnen Zeit¬
alters, überhaupt den der Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter
des Disziplinirten, die Willkür Ausschließenden, das subjektive Belieben einer
festen Ordnung Einfügenden, Die griechische Sprache ist ihrerseits allzu reich
und cibundant an Formen, von denen sie garnicht vollen Gebrauch macht, die
sie mit zahllosen Ausnahmen und Varietäten durchzieht; die Syntax hat zu
wenig Zwingendes; im Satzbau ist es den Nebensätzen gestattet, sich um den
Hauptsatz mehr oder weniger zu bekümmern; die Dialektverschiedenheiten sind
störend und verwirrend; gerade die größten und den Höhepunkt griechischen
Geistes vertretenden Autoren sind nach Form und Inhalt zu schwer für das
gymnasiale Alter, Thukydides, Plato, Demosthenes, die Tragiker sind nur den
begabtesten und besten Schülern einigermaßen zugänglich. Das Gros der Pri¬
maner bringt für sich den Sinn nicht heraus, behilft sich mit den Übersetzungen
und gelangt so zu keinem bedeutenden Eindruck. Die lateinischen Autoren da¬
gegen, Cäsar, Nepos, Livius, Sallust, Cicero, Tacitus, Ovid, Vergil, Homz,
sind wie für die Schule gemacht, und die an sich weit reichere und originalere
Literatur der Griechen bietet wenigstens der Schule hierin keine äquivalente
Auswahl."

War dem Lateinischen eine Stunde zu entziehen, so durfte sie nicht dem
Griechischen, sie mußte dein Dentschen gegeben werden, welches in Preußen in
Sexta und Prima mit drei, in den übrigen Klassen nur mit zwei Stunden an¬
gesetzt ist, während in Sachsen nur Tertia und Sekunda mit zwei, alle übrigen
Klassen mit drei Stunden bedacht sind. Eine gleichmäßige Erhöhung des deutschen
Unterrichtes auf drei Stunden war unbedingt erforderlich, wenn das durch den
Lehrplan gesteckte Ziel erreicht, wenn der immer mehr einreißenden Verwilderung
der deutschen Sprache ein Ende gemacht werden soll. Es soll dabei nicht geleugnet
werden, daß der deutsche Unterricht in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte
gemacht hat, doch heben alle diese Fortschritte den Nachteil nicht auf, daß die
heutige Jugend bei weitem weniger als früher unsre Klassiker liest und -- wegen
andrer Arbeiten -- lesen kann.

Soweit die Änderungen im Lehrplan, welche sicherlich am Charakter des
Gymnasiums nicht rütteln und am allerwenigsten die oft gehörte Befürchtung
bestärken, das Gymnasium werde zu einer Realschule degmdirt werden. Fragen
wir nun weiter, inwiefern die im Lehrplane und in den neuen Verordnungen
getroffene" Änderungen imstande sind, der Überbürdung der Schüler unsrer
Gymnasien abzuhelfen.

Da stoßen wir zunächst auf eine Verminderung der Stuudenauzahl, die,
mag sie auch noch so gering sein, doch mit Dank begrüßt werden muß. Ein
Vergleich der in dem Regulativ von 1876 und der neuen Verordnung von
1882 geforderten Stunden wird dies deutlich machen. Die Anzahl der wöchent-


Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Übcrbiirdmigsfni>ze,

Formenlehre, den strengern logischen Satzbau, die festern Regeln, einen deutlich
erkennbaren normirenden Höhepunkt der klassischen Diktion eines goldnen Zeit¬
alters, überhaupt den der Schule so willkommenen, so unerläßlichen Charakter
des Disziplinirten, die Willkür Ausschließenden, das subjektive Belieben einer
festen Ordnung Einfügenden, Die griechische Sprache ist ihrerseits allzu reich
und cibundant an Formen, von denen sie garnicht vollen Gebrauch macht, die
sie mit zahllosen Ausnahmen und Varietäten durchzieht; die Syntax hat zu
wenig Zwingendes; im Satzbau ist es den Nebensätzen gestattet, sich um den
Hauptsatz mehr oder weniger zu bekümmern; die Dialektverschiedenheiten sind
störend und verwirrend; gerade die größten und den Höhepunkt griechischen
Geistes vertretenden Autoren sind nach Form und Inhalt zu schwer für das
gymnasiale Alter, Thukydides, Plato, Demosthenes, die Tragiker sind nur den
begabtesten und besten Schülern einigermaßen zugänglich. Das Gros der Pri¬
maner bringt für sich den Sinn nicht heraus, behilft sich mit den Übersetzungen
und gelangt so zu keinem bedeutenden Eindruck. Die lateinischen Autoren da¬
gegen, Cäsar, Nepos, Livius, Sallust, Cicero, Tacitus, Ovid, Vergil, Homz,
sind wie für die Schule gemacht, und die an sich weit reichere und originalere
Literatur der Griechen bietet wenigstens der Schule hierin keine äquivalente
Auswahl."

War dem Lateinischen eine Stunde zu entziehen, so durfte sie nicht dem
Griechischen, sie mußte dein Dentschen gegeben werden, welches in Preußen in
Sexta und Prima mit drei, in den übrigen Klassen nur mit zwei Stunden an¬
gesetzt ist, während in Sachsen nur Tertia und Sekunda mit zwei, alle übrigen
Klassen mit drei Stunden bedacht sind. Eine gleichmäßige Erhöhung des deutschen
Unterrichtes auf drei Stunden war unbedingt erforderlich, wenn das durch den
Lehrplan gesteckte Ziel erreicht, wenn der immer mehr einreißenden Verwilderung
der deutschen Sprache ein Ende gemacht werden soll. Es soll dabei nicht geleugnet
werden, daß der deutsche Unterricht in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte
gemacht hat, doch heben alle diese Fortschritte den Nachteil nicht auf, daß die
heutige Jugend bei weitem weniger als früher unsre Klassiker liest und — wegen
andrer Arbeiten — lesen kann.

Soweit die Änderungen im Lehrplan, welche sicherlich am Charakter des
Gymnasiums nicht rütteln und am allerwenigsten die oft gehörte Befürchtung
bestärken, das Gymnasium werde zu einer Realschule degmdirt werden. Fragen
wir nun weiter, inwiefern die im Lehrplane und in den neuen Verordnungen
getroffene» Änderungen imstande sind, der Überbürdung der Schüler unsrer
Gymnasien abzuhelfen.

Da stoßen wir zunächst auf eine Verminderung der Stuudenauzahl, die,
mag sie auch noch so gering sein, doch mit Dank begrüßt werden muß. Ein
Vergleich der in dem Regulativ von 1876 und der neuen Verordnung von
1882 geforderten Stunden wird dies deutlich machen. Die Anzahl der wöchent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/85>, abgerufen am 23.07.2024.