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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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nach Erlaß eines Gesetzes den Beweis antrete", daß es seinen Zweck verfehlt
habe, aber mit der Rechtfertigung einer Rcgierungsmaßregel aus den Thatsachen
muß mindestens zehn Jahre gewartet werden, schon weil dann die Opposition
es riskiren darf, das Geschehene für ihr Werk auszugeben -- wie die Lösung
der deutschen Frage. Und die Empfindlichkeit, sobald das bewegliche Vermögen
zur Sprache kommt, kennen wir ja längst. Man erhält mitunter den Eindruck,
daß es nichts heiligeres gäbe als die Spekulation, und daß der Übel größtes
Ackerbau und Kleingewerbe sei. Wäre die Debatte nicht so unvorbereitet in das
Haus geschneit, so würde man den Herren wohl ein nicht kleines Register von
Segnungen des Privatbetriebes der Eisenbahnen vorgetragen haben. Es ist
doch "och nicht so lange her, daß Herr von der Heydt als Handelsminister
Gesellschaften zwingen mußte, den Forderungen des Verkehrs zu entsprechen,
oder daß zwei Gesellschaften, um sich gegenseitig zu ärgern, gemeinschaftlich das
Publikum chikanirteu, indem sie regelmäßig ihre Züge eine Viertelstunde vor
Eintreffen des andern abgehen ließen, um deu Anschluß unmöglich zu macheu.
Dies segensreiche Spiel wurde z. B. von der Taunus- und der Main-Neckar¬
bahn in Frankfurt lange Zeit ausgeführt. Mit der Logik der Herren Fort¬
schrittler und ihrer zentralen Bundesgenossen könnte man sagen: mit demselben
Rechte müßte Freigebung der Posten verlangt werden. Es giebt noch Länder,
in welchen man zur Reisezeit erfahren kann, daß für die Beförderung der regel¬
mäßigen Post keine Pferde zur Verfügung sind, weil der Herr Postmeister sie
für die einträglicheren Extraposten bereit halten muß. Alles natürlich zum besten
des "Konsumenten." Und die sittliche Entrüstung über das Erwähnen der un¬
mäßigen Gehalte von Eisenbahndirektoren! Die Gehalte werden von den Direktoren
ja nicht selbst bestimmt, sondern ihnen von den Aktionären bewilligt, daher ist
es eine arge Indiskretion, so zarte Angelegenheiten überhaupt zu berühren. Aber
ist es denn nicht dort so gut, wie im Staatsdienste, der "Konsument," der
"Steuerträger," der die Gehalte bezahlt und dort noch die Dividenden dazu?

In Sachen der Lehre Darwins erinnerten die Herren sich der Freiheit der
Wissenschaft, aber so weit darf diese Freiheit doch nicht gehen, daß Aktionäre
und Eisenbahndirektoren von der Durchführung der neuen Doktrin eine Schmä¬
lerung ihrer Einkünfte befürchten müßten. Da fängt die Sache an staatsge¬
fährlich zu werden.

Was wohl der alte Zensor davon denken möchte? Damals glaubte man
das Verlangen nach politischer Freiheit auszurotten, wenn man ihm versagte,
sich zu äußern, heute glaubt man, die soziale Frage zu beseitigen, indem man
jedem Reformgedanken entgegentritt. Damals schworen die Regierungen auf
die Weisheit des Totschweigens; heute thut es die Opposition -- das ist aller¬
dings ein Fortschritt.




nach Erlaß eines Gesetzes den Beweis antrete», daß es seinen Zweck verfehlt
habe, aber mit der Rechtfertigung einer Rcgierungsmaßregel aus den Thatsachen
muß mindestens zehn Jahre gewartet werden, schon weil dann die Opposition
es riskiren darf, das Geschehene für ihr Werk auszugeben — wie die Lösung
der deutschen Frage. Und die Empfindlichkeit, sobald das bewegliche Vermögen
zur Sprache kommt, kennen wir ja längst. Man erhält mitunter den Eindruck,
daß es nichts heiligeres gäbe als die Spekulation, und daß der Übel größtes
Ackerbau und Kleingewerbe sei. Wäre die Debatte nicht so unvorbereitet in das
Haus geschneit, so würde man den Herren wohl ein nicht kleines Register von
Segnungen des Privatbetriebes der Eisenbahnen vorgetragen haben. Es ist
doch «och nicht so lange her, daß Herr von der Heydt als Handelsminister
Gesellschaften zwingen mußte, den Forderungen des Verkehrs zu entsprechen,
oder daß zwei Gesellschaften, um sich gegenseitig zu ärgern, gemeinschaftlich das
Publikum chikanirteu, indem sie regelmäßig ihre Züge eine Viertelstunde vor
Eintreffen des andern abgehen ließen, um deu Anschluß unmöglich zu macheu.
Dies segensreiche Spiel wurde z. B. von der Taunus- und der Main-Neckar¬
bahn in Frankfurt lange Zeit ausgeführt. Mit der Logik der Herren Fort¬
schrittler und ihrer zentralen Bundesgenossen könnte man sagen: mit demselben
Rechte müßte Freigebung der Posten verlangt werden. Es giebt noch Länder,
in welchen man zur Reisezeit erfahren kann, daß für die Beförderung der regel¬
mäßigen Post keine Pferde zur Verfügung sind, weil der Herr Postmeister sie
für die einträglicheren Extraposten bereit halten muß. Alles natürlich zum besten
des „Konsumenten." Und die sittliche Entrüstung über das Erwähnen der un¬
mäßigen Gehalte von Eisenbahndirektoren! Die Gehalte werden von den Direktoren
ja nicht selbst bestimmt, sondern ihnen von den Aktionären bewilligt, daher ist
es eine arge Indiskretion, so zarte Angelegenheiten überhaupt zu berühren. Aber
ist es denn nicht dort so gut, wie im Staatsdienste, der „Konsument," der
„Steuerträger," der die Gehalte bezahlt und dort noch die Dividenden dazu?

In Sachen der Lehre Darwins erinnerten die Herren sich der Freiheit der
Wissenschaft, aber so weit darf diese Freiheit doch nicht gehen, daß Aktionäre
und Eisenbahndirektoren von der Durchführung der neuen Doktrin eine Schmä¬
lerung ihrer Einkünfte befürchten müßten. Da fängt die Sache an staatsge¬
fährlich zu werden.

Was wohl der alte Zensor davon denken möchte? Damals glaubte man
das Verlangen nach politischer Freiheit auszurotten, wenn man ihm versagte,
sich zu äußern, heute glaubt man, die soziale Frage zu beseitigen, indem man
jedem Reformgedanken entgegentritt. Damals schworen die Regierungen auf
die Weisheit des Totschweigens; heute thut es die Opposition — das ist aller¬
dings ein Fortschritt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/704>, abgerufen am 23.07.2024.