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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Das Ministerium Ferry und die Verfassungsrevision.

Ruder gestanden, beim ersten ernstlichen parlamentarischen Sturme umge¬
worfen wurde.

Indessen ist er, ohne viel Schaden erlitten zu haben, von seinem Falle
wieder aufgestanden, ein zweiter starker Wind hat ihn unbehelligt gelassen, und
sein Schiff fährt vorläufig unter Hellem Himmel. Die am 6. März wieder¬
aufgenommene Debatte der Kammer über die Verfassungsrevision erfüllte nicht,
was man von ihr erwartet hatte. Das Haus lehnte allerdings zweimal den
Antrag auf Schluß der Debatte ab, um Clemenceaus Ansicht von der Frage
zu hören. Aber der Abgeordnete für Montmartre hatte diesmal nicht seinen
guten Tag. Er litt an Schnupfen und Husten, mußte einmal abbrechen und
sich erholen und sprach weder deutlich und vernehmlich noch mit dem gewohnten
Schwung und Feuer. Die Debatte wurde vom Abgeordneten Girault mit dem
Verlangen eröffnet, die Diskussion bis nach den Osterferien zu verschieben,
damit man Gelegenheit habe, die Meinung der Wählerschaften über die Ver-
fassungsrevision und deren Dringlichkeit zu erfahren. Dieser Antrag wurde ab¬
gelehnt. Dann erhob sich Greuel von der Linken und griff die Regierung
heftig an, indem er ihr vorwarf, sie versuche die wichtigste Reform zu ver¬
zögern, zu deren Ausführung die jetzige Kammer recht eigentlich gewählt sei.
Es seien, meinte er, genug Verschleppungen vorgekommen, genug Versprechen
gebrochen worden. Die Regierung solle darum nunmehr ohne Verzug an die
Reform gehen, statt sie, wie vorgeschlagen worden, einer in den letzten Zügen
liegenden Kammer zu überlassen, die das zu ihrer Durchführung erforderliche
Ansehen nicht mehr besitzen werde. Dann sprach Clemenceau. Dreihundert und
elf Wählerschaften, erklärte er, hätten der Kammer Abgeordnete mit der Ver¬
pflichtung zugesandt, die Vcrfassungsveränderung zu befürworten, und das Mi¬
nisterium Gambetta, von dessen Mitgliedern mehrere jetzt im Kabinet säßen,
hätte es als die notwendigste aller Reformen bezeichnet. Warum gäben diese
Herren ihre frühere Politik auf? In Betreff des Grundes, daß der Senat das
Revisionsgesetz unausbleiblich verwerfen werde, möchten die Minister und gewisse
Abgeordnete doch sagen, woher sie das wüßten. Wären sie etwa beauftragt,
die Meinung des Oberhauses hier auszudrücken? Wo nicht, so würde es gegen
die Würde des Hauses verstoßen, demselben mit einer solchen Drohung zu kommen.
Wünsche der Senat eine Bürgschaft gegen zuweitgehcnde Revision, so wäre sie
in der Thatsache zu finden, daß von mehr als dreihundert Deputirten gegen¬
wärtig nur etwa achtzig die Beseitigung des Senates wünschten. Diese einer
doppelköpfigen Gesetzgebung günstig gestimmte Mehrheit könnte aber einmal,
und zwar bald, zur Minderheit werden, und so sei jetzt eine vortreffliche Ge¬
legenheit sür die Regierung und ihre Anhänger, die Sache zu erledigen. "Nehme
man sich in Acht vor einer Revolution, rief der radikale Führer aus, die jeden
Augenblick ausbrechen kann, wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt dem Volks¬
willen gekannte, auch bei uns beliebte Phrase!) zu widerstehen versucht. Die


Das Ministerium Ferry und die Verfassungsrevision.

Ruder gestanden, beim ersten ernstlichen parlamentarischen Sturme umge¬
worfen wurde.

Indessen ist er, ohne viel Schaden erlitten zu haben, von seinem Falle
wieder aufgestanden, ein zweiter starker Wind hat ihn unbehelligt gelassen, und
sein Schiff fährt vorläufig unter Hellem Himmel. Die am 6. März wieder¬
aufgenommene Debatte der Kammer über die Verfassungsrevision erfüllte nicht,
was man von ihr erwartet hatte. Das Haus lehnte allerdings zweimal den
Antrag auf Schluß der Debatte ab, um Clemenceaus Ansicht von der Frage
zu hören. Aber der Abgeordnete für Montmartre hatte diesmal nicht seinen
guten Tag. Er litt an Schnupfen und Husten, mußte einmal abbrechen und
sich erholen und sprach weder deutlich und vernehmlich noch mit dem gewohnten
Schwung und Feuer. Die Debatte wurde vom Abgeordneten Girault mit dem
Verlangen eröffnet, die Diskussion bis nach den Osterferien zu verschieben,
damit man Gelegenheit habe, die Meinung der Wählerschaften über die Ver-
fassungsrevision und deren Dringlichkeit zu erfahren. Dieser Antrag wurde ab¬
gelehnt. Dann erhob sich Greuel von der Linken und griff die Regierung
heftig an, indem er ihr vorwarf, sie versuche die wichtigste Reform zu ver¬
zögern, zu deren Ausführung die jetzige Kammer recht eigentlich gewählt sei.
Es seien, meinte er, genug Verschleppungen vorgekommen, genug Versprechen
gebrochen worden. Die Regierung solle darum nunmehr ohne Verzug an die
Reform gehen, statt sie, wie vorgeschlagen worden, einer in den letzten Zügen
liegenden Kammer zu überlassen, die das zu ihrer Durchführung erforderliche
Ansehen nicht mehr besitzen werde. Dann sprach Clemenceau. Dreihundert und
elf Wählerschaften, erklärte er, hätten der Kammer Abgeordnete mit der Ver¬
pflichtung zugesandt, die Vcrfassungsveränderung zu befürworten, und das Mi¬
nisterium Gambetta, von dessen Mitgliedern mehrere jetzt im Kabinet säßen,
hätte es als die notwendigste aller Reformen bezeichnet. Warum gäben diese
Herren ihre frühere Politik auf? In Betreff des Grundes, daß der Senat das
Revisionsgesetz unausbleiblich verwerfen werde, möchten die Minister und gewisse
Abgeordnete doch sagen, woher sie das wüßten. Wären sie etwa beauftragt,
die Meinung des Oberhauses hier auszudrücken? Wo nicht, so würde es gegen
die Würde des Hauses verstoßen, demselben mit einer solchen Drohung zu kommen.
Wünsche der Senat eine Bürgschaft gegen zuweitgehcnde Revision, so wäre sie
in der Thatsache zu finden, daß von mehr als dreihundert Deputirten gegen¬
wärtig nur etwa achtzig die Beseitigung des Senates wünschten. Diese einer
doppelköpfigen Gesetzgebung günstig gestimmte Mehrheit könnte aber einmal,
und zwar bald, zur Minderheit werden, und so sei jetzt eine vortreffliche Ge¬
legenheit sür die Regierung und ihre Anhänger, die Sache zu erledigen. „Nehme
man sich in Acht vor einer Revolution, rief der radikale Führer aus, die jeden
Augenblick ausbrechen kann, wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt dem Volks¬
willen gekannte, auch bei uns beliebte Phrase!) zu widerstehen versucht. Die


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[0651] Das Ministerium Ferry und die Verfassungsrevision. Ruder gestanden, beim ersten ernstlichen parlamentarischen Sturme umge¬ worfen wurde. Indessen ist er, ohne viel Schaden erlitten zu haben, von seinem Falle wieder aufgestanden, ein zweiter starker Wind hat ihn unbehelligt gelassen, und sein Schiff fährt vorläufig unter Hellem Himmel. Die am 6. März wieder¬ aufgenommene Debatte der Kammer über die Verfassungsrevision erfüllte nicht, was man von ihr erwartet hatte. Das Haus lehnte allerdings zweimal den Antrag auf Schluß der Debatte ab, um Clemenceaus Ansicht von der Frage zu hören. Aber der Abgeordnete für Montmartre hatte diesmal nicht seinen guten Tag. Er litt an Schnupfen und Husten, mußte einmal abbrechen und sich erholen und sprach weder deutlich und vernehmlich noch mit dem gewohnten Schwung und Feuer. Die Debatte wurde vom Abgeordneten Girault mit dem Verlangen eröffnet, die Diskussion bis nach den Osterferien zu verschieben, damit man Gelegenheit habe, die Meinung der Wählerschaften über die Ver- fassungsrevision und deren Dringlichkeit zu erfahren. Dieser Antrag wurde ab¬ gelehnt. Dann erhob sich Greuel von der Linken und griff die Regierung heftig an, indem er ihr vorwarf, sie versuche die wichtigste Reform zu ver¬ zögern, zu deren Ausführung die jetzige Kammer recht eigentlich gewählt sei. Es seien, meinte er, genug Verschleppungen vorgekommen, genug Versprechen gebrochen worden. Die Regierung solle darum nunmehr ohne Verzug an die Reform gehen, statt sie, wie vorgeschlagen worden, einer in den letzten Zügen liegenden Kammer zu überlassen, die das zu ihrer Durchführung erforderliche Ansehen nicht mehr besitzen werde. Dann sprach Clemenceau. Dreihundert und elf Wählerschaften, erklärte er, hätten der Kammer Abgeordnete mit der Ver¬ pflichtung zugesandt, die Vcrfassungsveränderung zu befürworten, und das Mi¬ nisterium Gambetta, von dessen Mitgliedern mehrere jetzt im Kabinet säßen, hätte es als die notwendigste aller Reformen bezeichnet. Warum gäben diese Herren ihre frühere Politik auf? In Betreff des Grundes, daß der Senat das Revisionsgesetz unausbleiblich verwerfen werde, möchten die Minister und gewisse Abgeordnete doch sagen, woher sie das wüßten. Wären sie etwa beauftragt, die Meinung des Oberhauses hier auszudrücken? Wo nicht, so würde es gegen die Würde des Hauses verstoßen, demselben mit einer solchen Drohung zu kommen. Wünsche der Senat eine Bürgschaft gegen zuweitgehcnde Revision, so wäre sie in der Thatsache zu finden, daß von mehr als dreihundert Deputirten gegen¬ wärtig nur etwa achtzig die Beseitigung des Senates wünschten. Diese einer doppelköpfigen Gesetzgebung günstig gestimmte Mehrheit könnte aber einmal, und zwar bald, zur Minderheit werden, und so sei jetzt eine vortreffliche Ge¬ legenheit sür die Regierung und ihre Anhänger, die Sache zu erledigen. „Nehme man sich in Acht vor einer Revolution, rief der radikale Führer aus, die jeden Augenblick ausbrechen kann, wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt dem Volks¬ willen gekannte, auch bei uns beliebte Phrase!) zu widerstehen versucht. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/651>, abgerufen am 25.08.2024.