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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Lyrische Dichtungen und Dichter,

ein -- Poet" in vollster Geltung steht. Da werden auf einmal Groß und
Klein, wie sie der Hirt zum Thore hinaustreibt, oder vielmehr, wie sie der
Buchbinder in Leinwand mit Goldpressung bindet, in gleichem Tone gelobt und
einige Dutzend Dichter entweder neu in Szene gesetzt oder in der Art empfohlen, wie
man um Weihnachten in haushälterischer Familien verstaubtes Kinderspielzeug
frisch aufzuputzen und aufzustutzen pflegt. Mit wunderbarer Naivität wird an¬
genommen, daß diese Weihnachtsbescheerung in Dichtern durchaus keine Konse¬
quenzen nach sich ziehe. Schon im Januar gilt es wieder, daß die Zeit der
Poesie vorüber sei, und die erbärmlichste Kriminal- und Sensativnsnovelle, das
schnoddrigste und nichtigste Feuilleton haben für die Literatur der Gegenwart
angeblich mehr zu bedeuten wie das reifste und reinste Gedicht, die beste Samm¬
lung "lyrischer Ergüsse," wie der geschmackvolle Ausdruck zu lauten pflegt.

Die Verweisung der Lyrik auf den Weihnachtsbüchertisch ist uns schon
längst als eine UnWürdigkeit erschienen und befördert eine schlimme Gewohnheit
des Publikums. Wenn es nur zu festlicher Veranlassung üblich ist, sich um
Poeten zu kümmern, so kümmert man sich eben niemals um sie, Wahl- und
unterschiedslos greift man entweder nach den Günstlingen der Mode und dem
einen Dichter, den die Svrtimeutsbuchhaudlungen in beliebter Gedankenlosigkeit
jedermann in die Hand drücken, oder man läßt sich durch die erste beste Re¬
klame der eben gelesenen Weihnachtsbücherschau für den ersten besten bestimmen.
Uns dünkt es, daß die bessern Dichter der Gegenwart so gut ein Recht ans Be¬
achtung und selbständige Besprechung haben als andre liternrische Erscheinungen,
und daß wir deshalb auch nach und außer der Festzeit die Blicke und die Teil¬
nahme unsrer Leser ans einige poetische Erscheinungen des eben abgelaufenen
Jahres lenken dürfen.

Die gehaltreichste, in ihrer Weise erfreulichste poetische Gabe, die uns seit
längerer Zeit vor Augen gekommen ist, die kleine epische Dichtung Bruder
Rausch, ein Klostermärchen von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Gebr. Kröner),
sei, wie billig, hier zuerst genannt. Es ist eine vortrefflich erzählte, leicht
mittelalterlich gefärbte Klostersagc, welche durch die Anmut des Vortrags und
die warme Lebendigkeit aller Einzelheiten noch mehr anspricht als durch den
Stoff. Irren wir nicht, so ist diese Sage vom "Bruder Rausch" zuerst durch
Oskar Schade mitgeteilt worden, doch gehört die reizende Gestaltung, die leise
ironische Schlußwcndung durchaus dem modernen Dichter an. Die leichtflüssigen
Verse, die wie in lebendiger mündlicher Rede hervorquellen, scheine" nie Selbst¬
zweck zu sein und nur der kurz und keck vorgetragenen Erzählung zu diene",
sie schließen gleichwohl gereifte Kunst und eine Fülle sprachlicher Reize i" sich.
Im Kolorit gemahnt die Erzählung an gute Bilder einer ältern Schule, es
siud kräftige, lichtvolle, nicht blendende Farben, welche die schildernden Teile des
Gedichts auszeichnen, und der Dichter vergißt keinen Augenblick, daß alle Be¬
schreibung in der Poesie gleichzeitig Stimmung wecken und die Handlung fördern


Lyrische Dichtungen und Dichter,

ein — Poet" in vollster Geltung steht. Da werden auf einmal Groß und
Klein, wie sie der Hirt zum Thore hinaustreibt, oder vielmehr, wie sie der
Buchbinder in Leinwand mit Goldpressung bindet, in gleichem Tone gelobt und
einige Dutzend Dichter entweder neu in Szene gesetzt oder in der Art empfohlen, wie
man um Weihnachten in haushälterischer Familien verstaubtes Kinderspielzeug
frisch aufzuputzen und aufzustutzen pflegt. Mit wunderbarer Naivität wird an¬
genommen, daß diese Weihnachtsbescheerung in Dichtern durchaus keine Konse¬
quenzen nach sich ziehe. Schon im Januar gilt es wieder, daß die Zeit der
Poesie vorüber sei, und die erbärmlichste Kriminal- und Sensativnsnovelle, das
schnoddrigste und nichtigste Feuilleton haben für die Literatur der Gegenwart
angeblich mehr zu bedeuten wie das reifste und reinste Gedicht, die beste Samm¬
lung „lyrischer Ergüsse," wie der geschmackvolle Ausdruck zu lauten pflegt.

Die Verweisung der Lyrik auf den Weihnachtsbüchertisch ist uns schon
längst als eine UnWürdigkeit erschienen und befördert eine schlimme Gewohnheit
des Publikums. Wenn es nur zu festlicher Veranlassung üblich ist, sich um
Poeten zu kümmern, so kümmert man sich eben niemals um sie, Wahl- und
unterschiedslos greift man entweder nach den Günstlingen der Mode und dem
einen Dichter, den die Svrtimeutsbuchhaudlungen in beliebter Gedankenlosigkeit
jedermann in die Hand drücken, oder man läßt sich durch die erste beste Re¬
klame der eben gelesenen Weihnachtsbücherschau für den ersten besten bestimmen.
Uns dünkt es, daß die bessern Dichter der Gegenwart so gut ein Recht ans Be¬
achtung und selbständige Besprechung haben als andre liternrische Erscheinungen,
und daß wir deshalb auch nach und außer der Festzeit die Blicke und die Teil¬
nahme unsrer Leser ans einige poetische Erscheinungen des eben abgelaufenen
Jahres lenken dürfen.

Die gehaltreichste, in ihrer Weise erfreulichste poetische Gabe, die uns seit
längerer Zeit vor Augen gekommen ist, die kleine epische Dichtung Bruder
Rausch, ein Klostermärchen von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Gebr. Kröner),
sei, wie billig, hier zuerst genannt. Es ist eine vortrefflich erzählte, leicht
mittelalterlich gefärbte Klostersagc, welche durch die Anmut des Vortrags und
die warme Lebendigkeit aller Einzelheiten noch mehr anspricht als durch den
Stoff. Irren wir nicht, so ist diese Sage vom „Bruder Rausch" zuerst durch
Oskar Schade mitgeteilt worden, doch gehört die reizende Gestaltung, die leise
ironische Schlußwcndung durchaus dem modernen Dichter an. Die leichtflüssigen
Verse, die wie in lebendiger mündlicher Rede hervorquellen, scheine» nie Selbst¬
zweck zu sein und nur der kurz und keck vorgetragenen Erzählung zu diene»,
sie schließen gleichwohl gereifte Kunst und eine Fülle sprachlicher Reize i» sich.
Im Kolorit gemahnt die Erzählung an gute Bilder einer ältern Schule, es
siud kräftige, lichtvolle, nicht blendende Farben, welche die schildernden Teile des
Gedichts auszeichnen, und der Dichter vergißt keinen Augenblick, daß alle Be¬
schreibung in der Poesie gleichzeitig Stimmung wecken und die Handlung fördern


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[0320] Lyrische Dichtungen und Dichter, ein — Poet" in vollster Geltung steht. Da werden auf einmal Groß und Klein, wie sie der Hirt zum Thore hinaustreibt, oder vielmehr, wie sie der Buchbinder in Leinwand mit Goldpressung bindet, in gleichem Tone gelobt und einige Dutzend Dichter entweder neu in Szene gesetzt oder in der Art empfohlen, wie man um Weihnachten in haushälterischer Familien verstaubtes Kinderspielzeug frisch aufzuputzen und aufzustutzen pflegt. Mit wunderbarer Naivität wird an¬ genommen, daß diese Weihnachtsbescheerung in Dichtern durchaus keine Konse¬ quenzen nach sich ziehe. Schon im Januar gilt es wieder, daß die Zeit der Poesie vorüber sei, und die erbärmlichste Kriminal- und Sensativnsnovelle, das schnoddrigste und nichtigste Feuilleton haben für die Literatur der Gegenwart angeblich mehr zu bedeuten wie das reifste und reinste Gedicht, die beste Samm¬ lung „lyrischer Ergüsse," wie der geschmackvolle Ausdruck zu lauten pflegt. Die Verweisung der Lyrik auf den Weihnachtsbüchertisch ist uns schon längst als eine UnWürdigkeit erschienen und befördert eine schlimme Gewohnheit des Publikums. Wenn es nur zu festlicher Veranlassung üblich ist, sich um Poeten zu kümmern, so kümmert man sich eben niemals um sie, Wahl- und unterschiedslos greift man entweder nach den Günstlingen der Mode und dem einen Dichter, den die Svrtimeutsbuchhaudlungen in beliebter Gedankenlosigkeit jedermann in die Hand drücken, oder man läßt sich durch die erste beste Re¬ klame der eben gelesenen Weihnachtsbücherschau für den ersten besten bestimmen. Uns dünkt es, daß die bessern Dichter der Gegenwart so gut ein Recht ans Be¬ achtung und selbständige Besprechung haben als andre liternrische Erscheinungen, und daß wir deshalb auch nach und außer der Festzeit die Blicke und die Teil¬ nahme unsrer Leser ans einige poetische Erscheinungen des eben abgelaufenen Jahres lenken dürfen. Die gehaltreichste, in ihrer Weise erfreulichste poetische Gabe, die uns seit längerer Zeit vor Augen gekommen ist, die kleine epische Dichtung Bruder Rausch, ein Klostermärchen von Wilhelm Hertz (Stuttgart, Gebr. Kröner), sei, wie billig, hier zuerst genannt. Es ist eine vortrefflich erzählte, leicht mittelalterlich gefärbte Klostersagc, welche durch die Anmut des Vortrags und die warme Lebendigkeit aller Einzelheiten noch mehr anspricht als durch den Stoff. Irren wir nicht, so ist diese Sage vom „Bruder Rausch" zuerst durch Oskar Schade mitgeteilt worden, doch gehört die reizende Gestaltung, die leise ironische Schlußwcndung durchaus dem modernen Dichter an. Die leichtflüssigen Verse, die wie in lebendiger mündlicher Rede hervorquellen, scheine» nie Selbst¬ zweck zu sein und nur der kurz und keck vorgetragenen Erzählung zu diene», sie schließen gleichwohl gereifte Kunst und eine Fülle sprachlicher Reize i» sich. Im Kolorit gemahnt die Erzählung an gute Bilder einer ältern Schule, es siud kräftige, lichtvolle, nicht blendende Farben, welche die schildernden Teile des Gedichts auszeichnen, und der Dichter vergißt keinen Augenblick, daß alle Be¬ schreibung in der Poesie gleichzeitig Stimmung wecken und die Handlung fördern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/320>, abgerufen am 03.07.2024.