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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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oder in der Voraussicht eines solchen den Versuch unterlassen hat, allerdings
würde derselbe wohl sehr aussichtslos gewesen sein. Natürlich wäre, wie
jedermann zugeben wird, eine Ergänzung des Materials von jener Seite her
höchst wünschenswert gewesen, zumal da die Darstellung der süddeutschen Ver¬
fassungskämpfe einen wichtigen, wenn auch verhältnismäßig kleinen Teil des
vorliegenden Bandes bildet, Vollständigkeit des Materials wird jedoch bei
einem solchen ersten Wurfe niemals zu erreichen sein; auch französische, englische,
russische Gesandtschaftsberichte würden gewiß recht lehrreich sein und manches
interessante Detail zu Tage bringen. Wenn aber Baumgarten von einer
Äußerung des preußischen Gesandten Otterstüdt in Darmstadt ans dem Jahre
1818, worin dieser sich unzufrieden über die Stellung seiner Regierung zu den
kleinen deutschen Höfen ausspricht, die ihm nicht positiv energisch genug scheint
und die eine wachsende Gleichgiltigkeit gegen Preußen aufkommen lasst, "sodnß
ich geradezu hier nichts vermag" -- wenn Baumgarten an diese Äußerung die
Bemerkung knüpft, daß dies in München und Stuttgart sich wohl ähnlich ver¬
halten haben möge, und "daß die Berichte so gestellter Diplomaten kein
zuverlässiges und ausreichendes Material für die Schilderung der politischen
Entwicklung in den Mittelstaatcn abgeben können," so übersieht Baumgarten
doch einerseits, daß mit der Klage Otterstädts nur gesagt ist, daß er keinen
Einfluß in Darmstadt erlangen könne, aber nicht daß es ihm an Information
mangle; und andrerseits liegt uns ja die Ausbeute ans den Berichten dieser
Diplomaten in zahlreichen Mitteilungen Treitschkes vor. Diese Berichte Zastrows
aus München, Küsters aus Stuttgart machen aber durchaus den Eindruck recht
intimer Wohlunterrichtetheit, wenngleich ihre Verfasser nicht gerade Diplomaten
ersten Ranges sein mochten. Man kann nur den Wunsch hegen, daß die durch
, das Treitschkesche Buch gegebene Anregung auch an diesen Stellen die Neigung
erwecke, Kenntnis und Verständnis der damaligen Vorgänge durch Eröffnung
der eignen Archive zu fördern; inzwischen aber haben wir durch die vorliegende
Darstellung doch recht viel neues, wissenswertes und auch recht gut be¬
glaubigtes erfahren.

Genug von diesen Archivfragen, die ich hier nicht berührt haben würde,
wenn ich nicht die Beobachtung gemacht hätte, daß die aus diesen Unterlassungs¬
sünden gezogenen Argumente Baumgartens, auf die er selbst nicht einmal das
Hauptgewicht seines Angriffs legen will, gerade in den weitern Kreisen des
zeitungsgebildeten Publikums auf besonders guten Boden gefallen sind; man
kann Leute, die kaum wissen, was ein Archiv ist, aber ihre Augsburger Beilage
getreulich studieren, sie mit großem Aplomb ins Feld führen hören.

Ich gehe nicht ein auf die Debatte über die leidige Schmalzsche Dennnziations-
schrift gegen die geheimen Gesellschaften, über den darob entbrannten litterarischen
Kampf und über das Verhalten König Friedrich Wilhelms dabei. Die Dar¬
stellung, welche Treitschke von diesen Vorgängen giebt, und weiterhin seine Recht-


oder in der Voraussicht eines solchen den Versuch unterlassen hat, allerdings
würde derselbe wohl sehr aussichtslos gewesen sein. Natürlich wäre, wie
jedermann zugeben wird, eine Ergänzung des Materials von jener Seite her
höchst wünschenswert gewesen, zumal da die Darstellung der süddeutschen Ver¬
fassungskämpfe einen wichtigen, wenn auch verhältnismäßig kleinen Teil des
vorliegenden Bandes bildet, Vollständigkeit des Materials wird jedoch bei
einem solchen ersten Wurfe niemals zu erreichen sein; auch französische, englische,
russische Gesandtschaftsberichte würden gewiß recht lehrreich sein und manches
interessante Detail zu Tage bringen. Wenn aber Baumgarten von einer
Äußerung des preußischen Gesandten Otterstüdt in Darmstadt ans dem Jahre
1818, worin dieser sich unzufrieden über die Stellung seiner Regierung zu den
kleinen deutschen Höfen ausspricht, die ihm nicht positiv energisch genug scheint
und die eine wachsende Gleichgiltigkeit gegen Preußen aufkommen lasst, „sodnß
ich geradezu hier nichts vermag" — wenn Baumgarten an diese Äußerung die
Bemerkung knüpft, daß dies in München und Stuttgart sich wohl ähnlich ver¬
halten haben möge, und „daß die Berichte so gestellter Diplomaten kein
zuverlässiges und ausreichendes Material für die Schilderung der politischen
Entwicklung in den Mittelstaatcn abgeben können," so übersieht Baumgarten
doch einerseits, daß mit der Klage Otterstädts nur gesagt ist, daß er keinen
Einfluß in Darmstadt erlangen könne, aber nicht daß es ihm an Information
mangle; und andrerseits liegt uns ja die Ausbeute ans den Berichten dieser
Diplomaten in zahlreichen Mitteilungen Treitschkes vor. Diese Berichte Zastrows
aus München, Küsters aus Stuttgart machen aber durchaus den Eindruck recht
intimer Wohlunterrichtetheit, wenngleich ihre Verfasser nicht gerade Diplomaten
ersten Ranges sein mochten. Man kann nur den Wunsch hegen, daß die durch
, das Treitschkesche Buch gegebene Anregung auch an diesen Stellen die Neigung
erwecke, Kenntnis und Verständnis der damaligen Vorgänge durch Eröffnung
der eignen Archive zu fördern; inzwischen aber haben wir durch die vorliegende
Darstellung doch recht viel neues, wissenswertes und auch recht gut be¬
glaubigtes erfahren.

Genug von diesen Archivfragen, die ich hier nicht berührt haben würde,
wenn ich nicht die Beobachtung gemacht hätte, daß die aus diesen Unterlassungs¬
sünden gezogenen Argumente Baumgartens, auf die er selbst nicht einmal das
Hauptgewicht seines Angriffs legen will, gerade in den weitern Kreisen des
zeitungsgebildeten Publikums auf besonders guten Boden gefallen sind; man
kann Leute, die kaum wissen, was ein Archiv ist, aber ihre Augsburger Beilage
getreulich studieren, sie mit großem Aplomb ins Feld führen hören.

Ich gehe nicht ein auf die Debatte über die leidige Schmalzsche Dennnziations-
schrift gegen die geheimen Gesellschaften, über den darob entbrannten litterarischen
Kampf und über das Verhalten König Friedrich Wilhelms dabei. Die Dar¬
stellung, welche Treitschke von diesen Vorgängen giebt, und weiterhin seine Recht-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/245>, abgerufen am 23.07.2024.