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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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politische Briefe,

deutsche Reich war unter Dach gebracht, der innere Ausbau fehlte. Der Fürst
mußte sich sagen, daß ein neues und schweres Werk zu beginnen sei. Das Reich
besaß die Zentralvrgane eiuer Regierung in Bundesrat und Reichstag, deren
Bildung und Funktion eines jener Gesetze, die man vorzugsweise Verfassungen
"eure, in weiten Umrissen beschrieb. Aber ein weit, weit andres Ding als ein
Gesetz mit seinen Paragraphen ist eine wirkliche Verfassung. Zu einer solchen
gehören lebendige Organe, d. h. Kräfte des nationalen Lebens, die zum Besitz
und Gebrauch der Verfassung innerhalb der Gcsctzesumrisse erzogen und be¬
fähigt sind, permanente Gebilde, in welche" sich Gesellschaft und Staat durch¬
dringen, in welche die Gesellschaft den Stoff, der Staat das Pflichtgefühl, die
Umsicht und Mäßigung hineinlegt. Auch diese Kräfte, die den lebendigen Ein¬
geweiden gleichen, und die man, wenn man an den Namen nicht falsche Deu¬
tungen knüpfen will, als Stände bezeichnen darf, erschöpfen noch nicht den
Vcrfassungsorganismus. Zu dieseni gehören vielmehr noch eine ganze Reihe
eingelebter Institutionen oder funktioneller Thätigkeiten in Zentral- und Lokal-
Verwaltung, Rechtspflege, Kirche, Schule, Finanzen u. s. w. Dies alles, alles
fehlte dem deutschen Reich. Die Einzelstaaten, aus denen es bestand, hatten
freilich entwickeltere Organismen, aber das Reich sollte und mußte ja diese
Organismen beschränken, weil sie in ihrer Partikularistischen Schwäche dem
Nationalleben nicht genügt hatten. Die Einzelstaaten sollten also andre werden
und mußten es, wenn das Reich seine Aufgabe, ein deutsches Nationalleben zu
schaffen und zu tragen, erfüllen sollte. Dazu kam noch ein schwerwiegender
Umstand. Man hatte so oft vom deutschen Reiche geträumt nud sich der Sehn¬
sucht überlasse" nach der Herrlichkeit, die es bringen sollte. Aber dabei hatte
man, was freilich sehr natürlich ist, nicht Zeit noch Lust gehabt, an die schweren
Pflichten zu denken, die es mit sich bringen mußte. Nationale Herrlichkeit ist
niemals in der Geschichte umsonst besessen worden, sondern der Preis unaus¬
gesetzter Anstrengung gewesen. Die nationale Herrlichkeit der Deutschen aber,
das mußte jedem für das Verständnis der Geschichte befähigten Sinn klar sein,
konnte, wenn sie je wieder hervorzurufen war, nur mit ebenso viel Geschick,
Kraft und Opferwilligkeit behauptet werden, als ihre Neuschaffung erfordert
hatte. Die deutsche Nation war groß gewesen, als die elementare Kraft ihres
Volkstums den Weltteil nach allen Richtungen überflutet hatte. Nachdem aber
in langen Epochen dem deutschen Volke alle andern Nationen in staatlicher Ent¬
wicklung vorausgekommen waren, mußte es sich sagen, daß die Mitbewerbnug
unter den rivalisirenden Kräften des Weltteiles in der geographischen Mitte
desselben am schwersten durchzuführen sei. Wir mußten uns sagen, daß der
latente Rassenhaß und der dunkle Weltherrschaftstraum der Slavenwelt zur
tageshellen Leidenschaft aufflammen müßten, wenn wir, aus dem Zustande harm¬
loser und ohnmächtiger Passivität heraustretend, als eine gewappnete, ihren Anteil


" Grmzbowi I. 1333. 27
politische Briefe,

deutsche Reich war unter Dach gebracht, der innere Ausbau fehlte. Der Fürst
mußte sich sagen, daß ein neues und schweres Werk zu beginnen sei. Das Reich
besaß die Zentralvrgane eiuer Regierung in Bundesrat und Reichstag, deren
Bildung und Funktion eines jener Gesetze, die man vorzugsweise Verfassungen
»eure, in weiten Umrissen beschrieb. Aber ein weit, weit andres Ding als ein
Gesetz mit seinen Paragraphen ist eine wirkliche Verfassung. Zu einer solchen
gehören lebendige Organe, d. h. Kräfte des nationalen Lebens, die zum Besitz
und Gebrauch der Verfassung innerhalb der Gcsctzesumrisse erzogen und be¬
fähigt sind, permanente Gebilde, in welche» sich Gesellschaft und Staat durch¬
dringen, in welche die Gesellschaft den Stoff, der Staat das Pflichtgefühl, die
Umsicht und Mäßigung hineinlegt. Auch diese Kräfte, die den lebendigen Ein¬
geweiden gleichen, und die man, wenn man an den Namen nicht falsche Deu¬
tungen knüpfen will, als Stände bezeichnen darf, erschöpfen noch nicht den
Vcrfassungsorganismus. Zu dieseni gehören vielmehr noch eine ganze Reihe
eingelebter Institutionen oder funktioneller Thätigkeiten in Zentral- und Lokal-
Verwaltung, Rechtspflege, Kirche, Schule, Finanzen u. s. w. Dies alles, alles
fehlte dem deutschen Reich. Die Einzelstaaten, aus denen es bestand, hatten
freilich entwickeltere Organismen, aber das Reich sollte und mußte ja diese
Organismen beschränken, weil sie in ihrer Partikularistischen Schwäche dem
Nationalleben nicht genügt hatten. Die Einzelstaaten sollten also andre werden
und mußten es, wenn das Reich seine Aufgabe, ein deutsches Nationalleben zu
schaffen und zu tragen, erfüllen sollte. Dazu kam noch ein schwerwiegender
Umstand. Man hatte so oft vom deutschen Reiche geträumt nud sich der Sehn¬
sucht überlasse» nach der Herrlichkeit, die es bringen sollte. Aber dabei hatte
man, was freilich sehr natürlich ist, nicht Zeit noch Lust gehabt, an die schweren
Pflichten zu denken, die es mit sich bringen mußte. Nationale Herrlichkeit ist
niemals in der Geschichte umsonst besessen worden, sondern der Preis unaus¬
gesetzter Anstrengung gewesen. Die nationale Herrlichkeit der Deutschen aber,
das mußte jedem für das Verständnis der Geschichte befähigten Sinn klar sein,
konnte, wenn sie je wieder hervorzurufen war, nur mit ebenso viel Geschick,
Kraft und Opferwilligkeit behauptet werden, als ihre Neuschaffung erfordert
hatte. Die deutsche Nation war groß gewesen, als die elementare Kraft ihres
Volkstums den Weltteil nach allen Richtungen überflutet hatte. Nachdem aber
in langen Epochen dem deutschen Volke alle andern Nationen in staatlicher Ent¬
wicklung vorausgekommen waren, mußte es sich sagen, daß die Mitbewerbnug
unter den rivalisirenden Kräften des Weltteiles in der geographischen Mitte
desselben am schwersten durchzuführen sei. Wir mußten uns sagen, daß der
latente Rassenhaß und der dunkle Weltherrschaftstraum der Slavenwelt zur
tageshellen Leidenschaft aufflammen müßten, wenn wir, aus dem Zustande harm¬
loser und ohnmächtiger Passivität heraustretend, als eine gewappnete, ihren Anteil


" Grmzbowi I. 1333. 27
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[0217] politische Briefe, deutsche Reich war unter Dach gebracht, der innere Ausbau fehlte. Der Fürst mußte sich sagen, daß ein neues und schweres Werk zu beginnen sei. Das Reich besaß die Zentralvrgane eiuer Regierung in Bundesrat und Reichstag, deren Bildung und Funktion eines jener Gesetze, die man vorzugsweise Verfassungen »eure, in weiten Umrissen beschrieb. Aber ein weit, weit andres Ding als ein Gesetz mit seinen Paragraphen ist eine wirkliche Verfassung. Zu einer solchen gehören lebendige Organe, d. h. Kräfte des nationalen Lebens, die zum Besitz und Gebrauch der Verfassung innerhalb der Gcsctzesumrisse erzogen und be¬ fähigt sind, permanente Gebilde, in welche» sich Gesellschaft und Staat durch¬ dringen, in welche die Gesellschaft den Stoff, der Staat das Pflichtgefühl, die Umsicht und Mäßigung hineinlegt. Auch diese Kräfte, die den lebendigen Ein¬ geweiden gleichen, und die man, wenn man an den Namen nicht falsche Deu¬ tungen knüpfen will, als Stände bezeichnen darf, erschöpfen noch nicht den Vcrfassungsorganismus. Zu dieseni gehören vielmehr noch eine ganze Reihe eingelebter Institutionen oder funktioneller Thätigkeiten in Zentral- und Lokal- Verwaltung, Rechtspflege, Kirche, Schule, Finanzen u. s. w. Dies alles, alles fehlte dem deutschen Reich. Die Einzelstaaten, aus denen es bestand, hatten freilich entwickeltere Organismen, aber das Reich sollte und mußte ja diese Organismen beschränken, weil sie in ihrer Partikularistischen Schwäche dem Nationalleben nicht genügt hatten. Die Einzelstaaten sollten also andre werden und mußten es, wenn das Reich seine Aufgabe, ein deutsches Nationalleben zu schaffen und zu tragen, erfüllen sollte. Dazu kam noch ein schwerwiegender Umstand. Man hatte so oft vom deutschen Reiche geträumt nud sich der Sehn¬ sucht überlasse» nach der Herrlichkeit, die es bringen sollte. Aber dabei hatte man, was freilich sehr natürlich ist, nicht Zeit noch Lust gehabt, an die schweren Pflichten zu denken, die es mit sich bringen mußte. Nationale Herrlichkeit ist niemals in der Geschichte umsonst besessen worden, sondern der Preis unaus¬ gesetzter Anstrengung gewesen. Die nationale Herrlichkeit der Deutschen aber, das mußte jedem für das Verständnis der Geschichte befähigten Sinn klar sein, konnte, wenn sie je wieder hervorzurufen war, nur mit ebenso viel Geschick, Kraft und Opferwilligkeit behauptet werden, als ihre Neuschaffung erfordert hatte. Die deutsche Nation war groß gewesen, als die elementare Kraft ihres Volkstums den Weltteil nach allen Richtungen überflutet hatte. Nachdem aber in langen Epochen dem deutschen Volke alle andern Nationen in staatlicher Ent¬ wicklung vorausgekommen waren, mußte es sich sagen, daß die Mitbewerbnug unter den rivalisirenden Kräften des Weltteiles in der geographischen Mitte desselben am schwersten durchzuführen sei. Wir mußten uns sagen, daß der latente Rassenhaß und der dunkle Weltherrschaftstraum der Slavenwelt zur tageshellen Leidenschaft aufflammen müßten, wenn wir, aus dem Zustande harm¬ loser und ohnmächtiger Passivität heraustretend, als eine gewappnete, ihren Anteil " Grmzbowi I. 1333. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/217>, abgerufen am 03.07.2024.